- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Die Liebe eines alten Mannes
Die Natur hatte diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen, nur die alten Bäume waren geblieben. Schweigend standen ihre kräftigen Stämme am Ufer des kleinen Sees, ihre kahlen Äste von sich streckend. An vielen Stellen waren die Wurzeln durch die jahrzehntelange Erosion freigelegt worden. Wie missgebildete Klauen klammerten sie sich an das rettende Land. Die toten Reste derer, die den Kampf gegen die Zeit aufgegeben hatten, trieben auf der dunklen Wasseroberfläche.
Es war früh am Morgen, die Sonne stand noch tief im Osten. Der dichte Nebel, der zu dieser Jahreszeit immer vom Meer herüber kroch, reduzierte sie zu einer glanzlosen Scheibe.
Der alte Mann schlug seinen Kragen hoch. In jungen Jahren hatte ihm die Kälte nie etwas ausgemacht, doch jetzt drang sie mühelos in seine Knochen. Er kniete sich ans Ufer, seine Gelenke knackten schmerzhaft; wie das Zerbrechen morscher Zweige. Behutsam legte er die Hand auf das Wasser, tauchte sie kurz ein und beobachtete, wie die dunkle Flüssigkeit von seinen Finger tropfte. Dann strich er sich über die Wange, benetzte die faltige Haut, und erhob sich wieder.
Der Rauch mischte sich mit dem Nebel, als er eine Zigarette anzündete. Ein feuchter, metallischer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus.
Als Junge hatte er einige Male in dem See geangelt, doch bald festgestellt, dass es in den dunklen Tiefen keine Fische gab; wahrscheinlich auch nie gegeben hatte.
"Ich bin zurück, meine Liebe."
Das Wasser kräuselte sich. Er wusste nicht, ob sie ihn verstand, trotzdem sprach er jedes Mal mit ihr. Fast täglich kam er zum See. Meist saß er auf dem großen Stein direkt am Ufer und erzählte ihr von seinem Leben. Und sie hörte ihm einfach nur zu.
"Weißt du, was für ein Tag heute ist?"
Vorsichtig drückte er die Zigarette aus und steckte sie in seine Tasche.
Jedes Mal brachte er ihr etwas mit, meist nur Kleinigkeiten, er musste vorsichtig sein. Doch heute war ihr Jahrestag, sollten sie ihn doch erwischen, ihm war es gleich.
"Ich habe ein Geschenk für dich."
Sein verträumter Blick ruhte auf dem See. Wieder meinte er, ein paar kleine Wellen zu entdecken.
"Warte, ich hole es."
Er drehte sich um und ging zu seinem Auto. Zwei Möwen schlugen mit den Flügeln und erhoben sich; sie vermieden es, über die schwarze Wasseroberfläche zu fliegen. Prüfend legte er sein Ohr auf den kalten Lack des Kofferraums. Kein Laut drang aus dem Inneren. Hoffentlich habe ich nicht zu fest zugeschlagen, dachte der Alte. Vorsichtig öffnete er die Klappe. Das junge Mädchen war immer noch bewusstlos, doch wenigstens hatte die Wunde auf ihrer Stirn aufgehört zu bluten. Er zog sie heraus und trug sie zum Ufer. Fast wäre er auf der matschigen Erde ausgerutscht, als sie anfing sich zu bewegen. Nach wenigen Metern ließ er sie zu Boden gleiten. An Händen und Füßen gefesselt lag sie da. Sie sah ihn flehend an und versuchte zu sprechen, doch der Klebestreifen verhinderte es.
Der Alte blickte herab. Ein hübsches Mädchen war sie, das perfekte Geschenk. Er strich ihr die blutverkrusteten Haare aus dem Gesicht. Sie wand sich unter seiner Berührung, drehte den Kopf hilflos zur Seite. Er war froh darüber, dass sie wieder bei Bewusstsein war. Am Anfang hatte er einmal ein totes Schwein mitgebracht; sie hatte es nicht gemocht.
"Ruhig, ich werde dir nichts tun. Hab keine Angst."
Er stand auf und blickte auf den See.
"Gefällt sie dir?"
Das Kräuseln war jetzt stärker. Kleine Wellen schwappten über die Uferböschung. Zufrieden lächelte der Alte.
"Du brauchst nicht zu schreien. Keiner kann dich hier hören."
Behutsam zog er den Klebestreifen ab; und sie schrie. Er wartete bis ihre Kraft versiegt war und ihre Schreie verstummten.
"Ganz ruhig, dir wird nichts passieren."
Sie stammelte, als ob sie das Sprechen verlernt hatte.
"Bitte... Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich tue alles, was Sie wollen. Bitte..."
Beruhigend legte er ihr den Finger auf den Mund.
Er rollte sie auf den Bauch und durchschnitt ihre Fesseln. Sie wollte aufstehen und fliehen, doch sie war zu schwach. Er hob sie auf und ging ins kalte Wasser. Als es ihm fast bis zur Hüfte reichte, blieb er stehen. Weiter konnte er nicht. Der Grund fiel von hier steil ab. Behutsam legte er ihren Körper auf die Wasseroberfläche und schob sie über den Abgrund. Sie begann sich gegen das Ertrinken zu wehren, ruderte mit Armen und Beinen; erst benommen, fast zaghaft, dann immer panischer. Plötzlich wurde der See um das Mädchen dunkler. Etwas packte sie und riss sie mühelos in die Tiefe.
"Ja, sie gefällt dir." Der Alte lächelte verliebt.
Vor einem Jahr war sie in sein Leben getreten und er war dankbar für jede Minute, die er in ihrer Nähe verbringen konnte. Nach dem Tod seiner Frau hatte er nicht zu hoffen gewagt, noch einmal solche Gefühle empfinden zu dürfen.
Das Mädchen war verschwunden, aber der riesige Schatten trieb weiter nach oben. Langsam nahm er Gestalt an und der schlauchförmige Körper wurde sichtbar. Schlängelnd bewegte er sich hin und her. Der Alte bewunderte das Farbspiel der hellen und dunklen Schuppen. Dann durchstieß der Kopf die Grenze zwischen den beiden Welten.
"Hallo, meine Liebe. Ich habe dich vermisst."
Vollkommen ruhig fixierte sie ihn mit ihren lidlosen Augen, nur ihr Körper bewegte sich rhythmisch, um den riesigen Leib über Wasser zu halten. Ihre gewaltigen Ausmaße nahmen fast den ganzen See ein. Der massige, reptilienartige Kopf lag schwerelos auf der Oberfläche. Ihr Körper schien für eine Tiefe geschaffen, in die der Mensch bislang noch nicht vorgedrungen war und doch glaubte der Alte, in ihren Augen etwas Vertrautes zu erkennen. Eine Zeit lang sahen sie sich an, schienen miteinander zu sprechen, einander zu verstehen. Dann verschwand sie wieder in die unergründlichen Tiefen des Sees, genauso schnell wie sie gekommen war und die Stille kehrte zurück an diesen alten Ort.