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- Anmerkungen zum Text
Im Gegensatz zu meinen vorherigen Geschichten, ist dieser Text nicht Autobiografisch: ich habe weder Kinder, noch eine Affäre
Die Liebe meines Lebens
"We are the champions, we are the champions", schallt es mir entgegen, als ich nach Hause komme.
"Roos, mach die Musik leiser!", versuche ich Freddie Mercury zu übertönen.
Meine Tochter Roos ist 16 und liebt normalerweise ganz andere Musik. Dabei handelt es sich hauptsächlich um junge Musiker, die mir völlig unbekannt sind und mich gar nicht interessieren.
Roos lacht mich manchmal aus, weil ich selbst gerne Queen höre.
"Deine Musik ist antik, Mama", so meine Tochter.
Seit wir "Bohemian Rapsody" zusammen im Kino gesehen haben, Roos kam nur zögernd mit, weil in der Schule viel über den Film gesprochen wurde, ist sie aber ganz hin und weg von Queen und vor allem von Freddie.
Offenbar haben sein gebrochenes Herz und seine Einsamkeit sie und ihre Mitschülern sehr berührt. In diesen Zeiten, in denen es viele Scheidungen und flüchtige Beziehungen gibt, wundert mich das nicht. Geld zu haben und weltberühmt zu sein, hilft nicht gegen die Einsamkeit. In dieser materiellen Welt kommt diese Botschaft durchaus an.
Persönlich denke ich auch, dass seine Homosexualität und sein außergewöhnliches Party verhalten die jüngere Generation anspricht.
Ich öffne direkt Roos’ Zimmertür, weil anzuklopfen bei dem Lärm keinen Sinn hat.
Roos steht mit dem Rücken zu mir in der Mitte des Raumes und mimt einen singenden Freddie mit schwingenden Hüften und einen imaginären Mikrofon in die Hand.
Ich betrachte diese Szene kurz und denke, was für eine wunderbare Tochter ich habe, bevor ich meine Anwesenheit ankündige.
"Roos, ich bin zu Hause. Würdest du bitte die Musik leiser stellen?"
Erschrocken dreht sich Roos um.
"Mama, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht einfach so reinkommen sollst!"
"Hast du mein Klopfen nicht gehört?", frage ich neckisch.
"Höre, wer es sagt!" Ich erahne diese Worte mehr, als dass ich sie verstehe.
Schmollend geht sie zu ihrer Stereoanlage und dreht Freddie leiser.
"Danke, jetzt kann ich mich wieder hören. Ich werde gleich etwas zum Abendessen kochen."
"Nach dem Essen gehe ich noch zu Inge", sagt Roos.
"Solange du nicht zu spät zurück bist, prima. Morgen ist ja wieder Schule. Wie geht es denn Inge?"
"Nicht gut, sie weint immer noch viel", antwortet Roos. Inge ist ihre beste Freundin.
"Ja, das kann ich mir vorstellen! Frag sie doch, ob sie und Inez nächste Woche zum Abendessen herkommen. Dann koche ich euch etwas."
Inges Eltern haben sich vor Kurzem nach einem Streit getrennt und Inge blieb bei ihrer Mutter zurück. Ich kenne Inges Mutter Inez nicht besonders gut, aber gut genug, um zu wissen, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck hat.
Inges' Vater habe ich nie kennengelernt, aber aus Inges' und Inez' Erzählungen habe ich herausgehört, dass er einen aufbrausenden Charakter hat.
Einmal sah ich Inez mit einem großen blauen Fleck am Arm, aber dann erzählte sie mir, dass sie mit ihrem Arm gegen eine Schranktür gestoßen war.
Weil ich danach weder bei ihr oder Inge noch blaue Flecken gesehen habe, nahm ich an, dass ihre Geschichte wahr ist.
Als ich mich umdrehe, fragt Roos: "Mama, wann kommt Papa nach Hause?"
Gute Frage. Jan vertritt seine Firma und reist durch die ganze Welt.
"Er weiß es noch nicht, es wird davon abhängen, ob er den Vertrag bekommt. Du weißt ja, wie wichtig ihm dieser Kunde ist."
Roos seufzt.
"Glaubst du, Papa hat dort jemand anderen getroffen?"
Aha, da drückt der Schuh.
Ehrlich gesagt, habe ich mir diese Frage selbst mehr als einmal gestellt. In letzter Zeit ist Jan sehr oft in New York.
Nach einem feurigen Start flaute unsere Ehe nach der Geburt von Roos etwas ab und ist nun seit ein paar Jahren sogar auf dem absteigenden Ast.
Am Anfang unserer Beziehung waren Jan und ich voller Pläne: Wir würden ein paar Jahre um die Welt reisen, vielleicht hier und da ein bisschen länger bleiben. Besonders Afrika hat uns fasziniert, wegen des warmen Klimas und der wilden Tiere. Eine sechsmonatige Tour durch Afrika war Teil unseres Traums. Nur wir und unser Rucksack. Wir waren noch jung.
Erst als wir genug von der Welt gesehen hatten, wollten wir nach Deutschland zurückkehren und uns niederlassen.
Dann erhielt Jan ein Angebot von einer kleinen Firma, dort als Vertriebsmitarbeiter zu arbeiten. Ihm gefiel die Idee. Er war viel unterwegs, zunächst im eigenen Land, aber als das Unternehmen wuchs, auch international. Und Jan war gerne unterwegs, das wusste ich schon, als ich ihn kennenlernte. Ich war auch gerne unterwegs. Die gemeinsame Liebe zum Reisen verband uns in der Liebe füreinander. Jan war die Liebe meines Lebens und ich war seine.
Doch als Roos sich ankündigte, blieben von unseren Plänen, gemeinsam zu verreisen, nur noch die sporadischen Urlaubsreisen übrig, was mit einem kleinen Kind natürlich auch komplizierter war.
Als berufstätige Mutter mit einem anspruchsvollen Job als Büro Managerin, hatte ich später außerdem kaum eigene Freizeit und Jan war immer seltener zu Hause. Infolgedessen wurde unsere gemeinsame Zeit sehr begrenzt und wir lebten nun seit einigen Jahren mehr oder weniger nebeneinander her.
"Ich weiß es nicht, Schatz, aber ich glaube es nicht", versuche ich Roos zu beruhigen.
"Wenn Papa nach Hause kommt, wird er mir beibringen, wie man unser Auto fährt, das hat er mir versprochen."
Ich rolle mit den Augen. Sie weiß, dass ich dagegen bin.
Ist Jan zu Hause, erlaubt er Roos meistens, was ich ihr verbiete. Dies ist ein wiederkehrender Streitpunkt zwischen uns.
"Mach zuerst die Schulaufgaben mal fertig. Hast du morgen nicht eine Prüfung?"
Beleidigt dreht Roos sich wieder von mir ab.
"Dafür habe ich letzte Woche schon gelernt", murmelt sie.
"Was sagst du? Du weißt, dass ich dich so nicht verstehen kann."
"Bei dir ist es immer Lernen, Lernen! Ich darf nie etwas tun, was mir Spaß macht. Und weißt du was? Ich komme heute Abend nach Hause, wann immer ich will. Du hörst mich sowieso nicht!"
Sie ist gemein und sie weiß es. Wie jeder hormongesteuerte Teenager trifft sie mich einwandfrei an meiner Schwachstelle.
Ich bin normalerweise am Abend sehr müde und gehe früh ins Bett. Wenn meine Hörgeräte ausgeschaltet sind, höre ich tatsächlich sehr wenig. Jan behauptet manchmal sogar scherzhaft, dass neben mir eine Bombe hochgehen könnte und ich immer noch nicht aufgewacht wäre.
So kann Roos im Haus ein- und ausgehen, ohne dass ich es bemerke.
"Wenn es sein muss, bleibe ich wach, bis du zu Hause bist, junge Dame", sage ich streng. Schließlich muss hier irgend jemand die Grenzen setzen.
"Und es donnert, wenn du heute Abend später als elf Uhr da bist!"
Genervt wende ich mich wieder der Tür zu.
"Mama, Papa und du, ihr lasst euch doch nicht scheiden, oder?", klingt es plötzlich hinter mir.
Ich drehe mich wieder zu ihr um und schaue in ein Paar trauriger Augen.
"Schatz, so etwas sollte ich doch als Erster erfahren, oder?", sage ich besänftigend.
In meiner Bauchgegend fängt es aber an, ein wenig zu brodeln. Könnte es sein, dass sie von Peter und mir weiß?
Wir lernten uns vor etwa drei Monaten bei einem Workshop "Zeitmanagement" kennen und es funkte sofort. Er ist Single, warmherzig und sehr attraktiv. Offen gesagt, ist er das absolute Gegenbild zu Jan.
Zuerst hat Peter hat mich Mal zum Mittagessen eingeladen. Jan ist fast nie da und ich möchte auch ein bisschen leben, also habe ich ja gesagt.
Nach dem zweiten Mittagessen folgte einen leidenschaftlichen Kuss und anschließend Weiteres in einem Hotel in der Nähe.
Wir sind aber sehr vorsichtig und haben uns nachher nur ein paar Mal tagsüber in einem Hotelzimmer getroffen und geliebt.
Peter ist zärtlich und ihm macht es nichts aus, das Licht eingeschaltet zu lassen, während wir uns lieben, damit ich seinen süßen, geflüsterten Worten ablesen kann (meine Hörgeräte quietschen nämlich fürchterlich, wenn ich sie während des Sex nicht ausziehe).
Ob Jan mich noch liebt? Wir sind kaum noch intim und wenn schon, dann ist er jetzt schnell und ungeduldig, ganz im Gegensatz zu früher. Zärtlichkeiten habe ich schon lange nicht mehr von ihm gehört oder gespürt, mit und ohne Hörgeräte.
Der bloße Gedanke an Peter lässt mich erschaudern. Ich weiß immer noch nicht, wie es so weit kommen konnte oder wie es weitergehen sollte, nur, dass ich die Momente mit Peter genieße.
"Ich koche uns jetzt was und dann können wir gleich essen", sage ich, um meine Gedanken zu vertreiben.
Als ich kurz danach wieder an Roos´ Zimmertür vorbeigehe, besingt Freddie gerade die Liebe seines Lebens. Allerdings singt er jetzt ein wenig leiser.