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Die Lotto-Oma
Noch ahnte Tjark nichts. Gegen den Türrahmen gelehnt beobachtete er seine Oma, wie sie in der winzigen dunklen Kochnische herumwuselte. Der duftende Dunst, der wie jeden Sonntag aus unzähligen Töpfen und Schüsseln aufstieg und die Nische in ein Dampfbad verwandelte, ließ ihn die Köstlichkeiten erahnen: Rinderrouladen mit Kartoffeln und Rotkohl, dazu diverse andere Kleinigkeiten. Während der tägliche Mensafraß Tjark zu einem Vegetarier gemacht hatte, aß er bei Oma beinahe alles. In Kombination mit ihrer selbstgemachten Limonade würde dieses Gourmet-Essen seinen Kater in Nullkommanichts verjagen – so wie Omas Pudel Derrick die Katze des Nachbarn.
Schon wieder schlich ihm Derrick um die Beine, wo er doch sonst immer in seinem Sessel schlummerte. Oma war auch irgendwie anders. Als sie endlich am Tisch saßen, ging er der Sache auf den Grund.
»Oma. Was ist los? Irgendwas stimmt nicht, oder?«
»Du hast dir ja gar keinen Rosenkohl genommen.«
»Oma, ich mag keinen Rosenkohl – immer noch nicht.«
»Na, dann aber wenigstens ein paar Kroketten!«
»Ist jemand gestorben?«
»Und Bohnensalat, den magst du doch so gern! Ich hab im Lotto gewonnen!«
»Was?«
»Na der gelbe Bohnensalat! Dein Lieblingssalat!« Sie hielt ihm die Schüssel hin.
»Nee, Oma. Das andere, was war das?«
»Ich hab im Lotto gewonnen, Tjark!«, sagte sie und hielt beide Hände vor den Mund.
Alles verschwand vor seinen Augen, die Kroketten, der Bohnensalat, zum Glück auch der Rosenkohl. Mit offenem Mund starrte er sie an.
»Bist du dir sicher?«
»Tjark, mein Junge. Ich bin zwar alt, aber mein Kopf funktioniert noch ganz wunderbar!«
Das stimmte allerdings. Oma war trotz ihrer neunzig Jahre geistig topfit. Körperlich hatte sie abgebaut, ging jedoch immer noch regelmäßig zum Seniorentreff, um zu singen und zu tanzen, und unternahm gelegentlich einwöchige Trips mit den anderen Alten.
»Im Lotto gewonnen? Das glaub ich jetzt nicht! Das ist ja supergeil, Oma, echt unfassbar! Wie viel ist es denn?«
»Viel.«
»Viel?«
»Genug. Tjark? Ich möchte, dass das unter uns bleibt. Mir ist Geld nicht wichtig. Weder ich noch deine Eltern hatten viel davon und trotzdem sind wir zufrieden. Deinen Eltern geht es gut und mir ebenso. Außerdem bin ich nun auch nicht mehr lange da. Und im Gegensatz zu mir hast du dein ganzes Leben noch vor dir! Du bist ja erst zwanzig!«
»Einundzwanzig, Oma!«
»Mein ich ja! Jedenfalls bist du jung und ich will, dass du das machst, was du wirklich machen willst, was dich glücklich macht und nicht so’n ollen Quatsch, BWR oder wie das heißt …«
»BWL, Oma.«
Die drei Buchstaben schleuderten ihn knappe achtundvierzig Stunden zurück.
»… wir brauchen auch eine zwischenbetriebliche Vergleichbarkeit. Wenn Konzern A bilanziert, sollte das idealerweise vergleichbar sein mit der Bilanzierung von Konzern B, sonst können Adressaten keine Investitionsentscheidungen treffen …«
Tjark saß auf einem der Stühle in der obersten Reihe des Hörsaals. Vor ihm auf dem Klapptisch lag ein Notizblock ohne Notizen. Wie die meisten Blätter in dem Block war aber auch das oberste Blatt nicht blank: Es war übersät mit Zeichnungen. Das Profil einer Kommilitonin, die nicht weit von ihm in der nächsten Reihe saß, der Kastanienbaum draußen vor einem der Fenster, diverse imaginäre Figuren und abstrakte Gebilde. Es war schon öfter vorgekommen, dass Sitznachbarn verblüfft waren über seine kleinen Kunstwerke. Heute tippte sein Sitznachbar eifrig auf seinem Laptop herum, neben dem Geschriebenen die Folien der Vorlesung: »Internationale Konzernrechnungslegung, 2. Vorlesung, 3. Semester«.
Tjark schaute aus den Fenstern, vernahm die Stimme der Professorin wie Hintergrundmusik. Die warmen Sonnenstrahlen, die diese Professorin glücklicherweise nicht aussperrte, wie die meisten anderen, fielen schräg in den Hörsaal. Der große Platz vor dem Hauptgebäude der Uni wimmelte von Studenten und Studentinnen, deren Wochenende bereits begonnen hatte, und im Geiste war Tjark schon einer von ihnen.
Dann begann das Wimmeln endlich auch im Hörsaal und schon stand Andy neben ihm.
»Die Party in der Alice-Neel-Straße ist erst morgen.«
»Och nee, echt? Bis dahin halt ich’s nicht aus, ey.«
»Ach komm, das passt schon. Wir machen heut einfach was anderes. Erst mal bei mir oder dir treffen, dann sehen wir weiter.«
»Okay. Ich bring Bier mit!«
»Abgemacht!«
Spät am nächsten Nachmittag hatte sich Tjark grade von seinem Kater erholt, da stand Andy schon wieder vor der Tür.
»Moin! Fit?«
»Puh, nicht wirklich.«
»Heute geht’s ab, Junge! Und ich hab Reste von gestern dabei«, sagte Andy grinsend und wedelte mit einer Vodka-Flasche vor Tjarks Gesicht herum.
Einige Stunden später kamen sie in bester Stimmung in der Alice-Neel-Straße an. Die WG war berühmt für ihre ausgelassenen Feiern. Sobald er die Altbauwohnung mit ihren hohen Decken betrat, fühlte sich Tjark wohl. Einige Leute standen mit Bierflaschen im Flur und unterhielten sich. Sein Vater hätte sie wohl als Hippies bezeichnet. Aus dem ersten Zimmer dröhnte Live-Musik. Ein paar der Musiker kannte er, unter ihnen Studenten der Musikhochschule, auch wenn sie dort höchstwahrscheinlich weniger schrammelig spielten. Durch die nächste Tür gelangten sie in die Küche, in der Fela Kuti Ungleichheit und Gewalt anprangerte.
»Endlich normale Leute!«, flüsterte Tjark in Andys Ohr, der den beiden gerade einen Rum-Cola mixte und genau wusste, was Tjark meinte: endlich interessantere Leute als die BWLer.
Dass die beiden selbst BWL-Studenten waren und Andy, im Gegensatz zu Tjark, das Studium gefiel und er auch nichts gegen seine Kommilitonen hatte, sogar mit einigen anderen befreundet war, spielte in diesem Moment keine Rolle. Schlagartig begann Tjarks Puls zu rasen und wie hypnotisiert stieß er Andy mit dem Ellenbogen.
»Scheiße Tjark, was soll das? Jetzt hab ich hier kostbaren Rum verschüttet!«
Nachdem Tjark ihm keine Beachtung schenkte, folgte Andy seinem Blick und sah sie: Lina. Wow, dachte Tjark, und bewunderte ihr kurzes krauses Haar, die große Nase, den eigenwilligen Kleidungsstil. Sie kam genau auf ihn zu und ließ ihn erröten. Einen Moment lang dachte er, sie würde sich zu ihm beugen, um ihn zu küssen, wie er es sich schon auf vergangenen Partys vorgestellt hatte. Doch sie griff nur nach einer Flasche Sekt, die hinter ihm neben dem Kühlschrank stand. Er fühlte, wie ein Rinnsal von Schweiß aus seinen Achselhöhlen an den Oberarmen hinunterfloss und hoffte, dass er nicht stank.
»Na ihr beiden! Gab’s heut keine BWLer Party, auf die ihr gehen konntet? Oder sind nur eure Anzüge in der Reinigung?«, sagte sie und lachte, bevor sie mit ihrer Sektflasche davonstolzierte.
Das idiotische Grinsen, welches er selbst nicht bemerkt hatte, verschwand von Tjarks Gesicht.
»Ey, lass die Alte labern. Nicht alle Kunststudentinnen sind cool, das sollte selbst dir klar sein!«
»Andy. Es geht hier nicht um Lina oder sonst irgendjemand anderen und das weißt du.« Er leerte sein Glas in einem Zug und lief Richtung Ausgang.
»Hey, Tjark, was’n los? Ist doch nicht so wild, wir sind ja grade erst gekommen.«
Andy folgte ihm raus auf die Straße, wo er ihn vergeblich zur Umkehr zu überreden versuchte.
»Scheiß BWL Kack! Ich hab da keinen Bock mehr drauf, Andy! Ich hab echt die Schnauze voll!«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid, Mann. Aber hey: Wenn du es so scheiße findest und so gerne Kunst studieren willst, dann mach’s doch einfach!«
»Einfach, Andy, du bist witzig! So easy ist das nicht ...«
Unterstützt von einem Kiosk-Bier schaffte Andy es, seinen Kumpel aufzumuntern. Sie gingen ins »Roxy«, ihre Lieblingskneipe, und tranken, quatschten und tanzten bis spät in die Nacht.
Jetzt saß er mit einem Rest Rinderroulade im Mund seiner Oma gegenüber. Der Oma, die ein bescheidenes, aber glückliches Leben führte, allein mit einem Pudel in einem alten Bauernhaus nicht weit von der Stadt. Und jetzt war sie plötzlich reich! Was hatte sie da gesagt? Sie wolle, dass er das macht, was er wirklich will, was ihn glücklich macht und nicht irgendeinen Quatsch – BWR …
»BWL«, murmelte Tjark vor sich hin.
»Wie bitte?«
»Ach nichts, Oma.«
»Also. Was sagst du dazu?«
»Was sag ich wozu?«
»Na zu dem, was ich grade gesagt hab. Ich werde das ganze Geld auf ein geeignetes Konto überweisen, da habe ich mich schon von einer netten Dame bei der Sparkasse beraten lassen. Ich werde dir deine Miete zahlen und dir ein monatliches Taschengeld geben, unter zwei Bedingungen: Erstens bleibt das alles unter uns und zweitens bekommst du den Rest, wenn du es mal brauchen solltest – oder ich nicht mehr da bin.«
»Du wirst noch lange leben Oma, sehr lange!«
»Du lenkst ab, Tjark.«
Sie hatte recht. Er traute sich nicht, das Gefühl der Freude zuzulassen, welches bereits seinen Körper erfüllte, seit sie die Worte »Lotto« und »gewonnen« erwähnt hatte. Gleichzeitig war ihm klar, dass das Unsinn war. Warum konnte Tjark es nicht zulassen? Seine Oma hatte schließlich keine Bank ausgeraubt oder Steuern hinterzogen. Konnte er wirklich das BWL Studium schmeißen und Kunst studieren – trotz seiner Zweifel? Es klang zu schön, um wahr zu sein.
Tjarks Gesichtsausdruck schien seine Gedanken preiszugeben.
»Mein Junge, wir beide wissen, warum du dieses BWR studierst. Deine Eltern sind in der Nachkriegszeit aufgewachsen, hatten nicht viel Geld. Bei euch wurde immer gespart, jede Ausgabe musste gut überlegt sein.«
Als müsste sie ihm sein Leben erklären, fuhr sie fort, während er ihr aufmerksam zuhörte wie ein Schulkind voller Angst, es könnte etwas Essenzielles verpassen. Sie hatte sich damals nicht zu sehr einmischen wollen, als es um die Studienwahl ging. Seine Eltern hätten ihm mit Sicherheit ein kreatives Studium nicht verboten, aber natürlich waren sie froh, dass er etwas lernte, was ihm eine finanziell sichere Zukunft ermöglichte.
Tjark ging noch mit ihr und Derrick spazieren, bevor er zurück in die Stadt fuhr.
»Schlaf ein paar Nächte drüber und nächsten Sonntag sehen wir uns wieder«, hatte sie zum Abschied gesagt. »Und nix vertelln, versprichst mi dat?«
»Jau, Oma.«
In der Bahn stadteinwärts ging er alles noch einmal im Kopf durch. Oma. Lotto. Geld. Wie viel mochte es sein, eine Million? Mehrere Millionen? Einfach unglaublich! Der Gedanke machte ihn nervös, allerdings war es eine positive, kindlich verrückte Nervosität. Absurde Bilder von großen Villen und Swimmingpools, Palmen und Meer und Partys à la Great Gatsby schwebten durch seinen Kopf, bevor er sich zwang, zur Realität zurückzukehren. Was war die Konsequenz von so viel Geld? Glück? Nicht unbedingt – seine Eltern und seine Oma waren glücklich. Keine Sorgen? Wahrscheinlich nicht, denn nicht alles ist käuflich. Weniger Sorgen? Definitiv! Er arbeitete mehrere Nachmittage die Woche, um sich Miete und Studium zu finanzieren. BAföG hatte er nicht gewollt. Bei dem Gedanken, Schulden zu haben, bekam er einen unangenehmen Druck auf der Brust und ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht war er wirklich geschädigt durch seine Eltern, nur empfand er es nicht so – für ihn war es das Normalste der Welt, sparsam zu leben, bescheiden zu sein. Und auch wenn es anstrengend war, neben dem Studium zu arbeiten, so war er es gewohnt. Schon immer hatte er gearbeitet, Zeitungen ausgetragen, in der Nachbarschaft Rasen gemäht, in einer Firma im Büro Aufträge ins System eingepflegt. Dass er neben dem Studium arbeiten musste, war nicht das Problem, sondern das Studium selbst. Er arbeitete, um ein Studium zu finanzieren, das er eigentlich nicht wollte. Finanzbuchhaltung, Statistik, Unternehmensberichterstattung, Marketing, Finanzmathematik, Kosten- und Leistungsrechnung. Bei diesen Begriffen lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Es fiel ihm verdammt schwer, sich auf den Stoff zu konzentrieren und er war jedes Mal verwundert, wenn er eine Klausur bestand. Das plötzliche Angebot der Oma erfüllte ihn mit einem wohligen, warmen Gefühl und löste ein Kribbeln in ihm aus, welches er sonst nur vom Verliebtsein kannte. Das zu studieren, was Tjark schon immer hatte studieren wollen, und nicht nebenbei arbeiten zu müssen, das war eine Wunschvorstellung. Sich zusätzlich keine Sorgen machen zu müssen, wie er nach dem Kunststudium genug Geld zum Leben verdienen konnte, war unvorstellbar. Aber vielleicht konnte man sich ja daran gewöhnen! Bei der nächsten Party in der Alice-Neel-Straße müsste Tjark nicht länger neidisch den Gesprächen der Kunststudentinnen und -studenten lauschen, sondern könnte mitreden. Sein Schmunzeln bei diesem Gedanken infizierte eine Frau schräg gegenüber in der Bahn, wodurch ihm erst so richtig klar wurde: Er fühlte sich großartig!
Mehrere Monate später hatte Tjark seine Oma am Telefon.
»Ich hab’s geschafft! Die haben mich genommen!«, schrie er ins Handy.
Eine ganze Weile jubelte sie auf der anderen Seite der Leitung und auch Derrick bellte ganz aufgeregt. Am Ende des Telefonats versprach sie, am kommenden Sonntag etwas ganz Besonderes für ihn zu kochen.
Die ersten Wochen des Wintersemesters an der Kunsthochschule vergingen und Tjark liebte es, liebte die Kurse, Kunstgeschichte und Designtheorie, die praktischen Arbeiten in Malerei und Zeichnen und fand auch die plastischen und digitalen Projekte spannend. Unter den anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen in seinem Jahrgang fühlte er sich wohl und wusste, dass er endlich seinen Platz gefunden hatte.
An einem warmen Mittwochnachmittag lag er neben Andy im Park bei der Uni. Während Andy von der spannenden Vorlesung über Wirtschaftsethik von gerade eben erzählte, zeichnete Tjark die feinen Wolken im blauen Himmel. Dann vibrierte sein Handy, seine Mutter war dran.
»Hey Mama!«
»Hallo Tjark.« Ihre Stimme klang dünn und zerbrechlich.
»Ist alles okay?«
»Oma ist gestorben«, sagte sie und begann zu weinen. »Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen.«
Nach dem Telefonat fuhr Tjark direkt zu seinen Eltern. In der Straßenbahn dachte er an Oma, wie fröhlich und lebendig sie noch vor drei Tagen gewesen war. Die Vorstellung, dass sie nicht mehr lebte, er am kommenden Sonntag nicht zu ihr zum Mittag fahren würde, kam ihm surreal vor. Anfangs kämpfte er mit den Tränen, dann waren ihm die Blicke anderer Leute egal und er ließ sie zu.
Als Mutter ihm die Tür öffnete, fing sie zu weinen an. Tjark nahm sie in den Arm und sah im Flur seinen Vater stehen, der ihn mit glasigen Augen und dem Zusammenpressen seiner Lippen begrüßte. Derrick jaulte im Hintergrund.
Im Wohnzimmer saß Tjark seinem Vater stumm gegenüber und streichelte den Pudel auf seinem Schoß. Mutter kam mit einer Kanne Tee und fragte, wie es ihm gehe.
»Ganz okay.« Das war gelogen. Omas Tod war wie eine dicke graue Decke, die alles andere erdrückte. »Was passiert jetzt?«
»Die Beerdigung ist morgen Nachmittag.«
»Und Derrick?«
»Tja, der bleibt dann wohl bei uns.«
Sonntag fuhr er zu seinen Eltern statt zur Oma. Mittlerweile war ihm das Lottogeld nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Anstelle des Kribbelns in seinem Bauch bescherte es ihm nun ein flaues Gefühl. Nachdem sie sich zum Tee ins Wohnzimmer gesetzt hatten, entschuldigte sich Tjark innerlich bei Oma und brachte das Thema zur Sprache. Seine Eltern sahen einander mit großen Augen an. Offenbar hatten tatsächlich nur er und die Dame bei der Sparkasse von dem Geld gewusst.
Gleich am Tag darauf rief er bei Omas Sparkassenfiliale an. Am Telefon auf den nächsten freien Mitarbeiter wartend fühlte er sich ein bisschen schlecht, so kurz nach ihrem Tod nach dem Geld zu suchen. Aber früher oder später musste er es ja machen. Eine Frau meldete sich in der Leitung. Seine Oma kenne sie, ja; dass sie verstorben ist, tue ihr aufrichtig leid. Von einer großen Menge Geld wisse sie nichts. Sie schaute im System nach: Da sei kein Vermögen auf dem Konto seiner Oma, sagte sie, lediglich einige Tausend Euro, die sie scheinbar von den Rentenzahlungen angespart habe.
Hatte sie das Geld doch einer anderen Bank anvertraut? Oder es abgehoben und zu Hause versteckt? Wurde es von einem Bankangestellten gestohlen? Banken hatten schließlich nicht unbedingt einen engelhaften Ruf.
Eine halbe Stunde später war Tjark in Omas Haus. Ohne sie fühlte es sich anders an, fremd, obwohl er noch vor ein paar Tagen zum Essen hier gewesen war. Sein Kopf war voller Erinnerungen aus der Zeit, die er hier früher in den Ferien verbracht hatte. Die gruselige Diele, deren Boden sich immer weiter absenkte und durch die er immer so schnell gegangen war, wie er nur konnte, selbst tagsüber. Im kleinen Wohn- und Esszimmer, in dem Oma die meiste Zeit verbracht hatte, oft Sturm der Liebe und Tennis guckend, konnte sich Tjark genau an den vergangenen Sonntag erinnern – es hatte Grünkohl mit Kartoffeln und Mettwurst gegeben. Jetzt hätte er keinen Bissen runterbekommen. Eine Weile stand er so da und schaute sich Fotos an: Von ihr und seinem Opa, von seinen Eltern, von sich und von Derrick und früheren Hunden. Nach einer Weile kehrte er in die Gegenwart zurück und begann, Schränke und Schubladen nach irgendwelchen Hinweisen auf das Lottogeld zu durchsuchen. Tief unter einem Stapel Rechnungen fand er einen weißen Brief mit seinem Namen drauf. Tjark setzte sich auf den Stuhl der Oma, holte den handgeschriebenen Zettel raus und las:
Lieber Tjark,
wenn du das hier liest, bin ich wahrscheinlich wirklich nicht mehr da. Vielleicht hast du auch schon herausgefunden, dass ich gar nicht im Lotto gewonnen habe. Tatsächlich haben wir nur vor vielen Jahren mal gespielt, als dein Opa noch lebte. Wir haben schnell damit aufgehört, weil man ja sowieso nichts gewinnt und sein Geld besser sparen kann. Es tut mir unendlich leid, wenn du jetzt enttäuscht bist. Bitte verzeih mir. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie du deine Zeit vergeudest mit diesem BWR Quatsch (oder wie das heißt). Es tat mir weh, dich so unglücklich zu sehen. Da ich dich damals nicht überreden konnte, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Wir Menschen überschätzen den Wert des Geldes, sind aber dennoch davon abhängig und lassen uns davon beeinflussen. Du kennst meine Einstellung, meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass man zwar ein wenig Geld zum Leben braucht. Wenn man jedoch seine Träume und Wünsche vom Geld abhängig macht, bin ich der Meinung, dass das ein Fehler ist! Dich so glücklich zu sehen, nach deinem Wechsel zum Kunststudium, hat das für mich noch einmal bestätigt und mir mit meinem schlechten Gewissen geholfen. Denn du bist nicht glücklich des Geldes wegen, welches du niemals gesehen hast (außer dem kleinen monatlichen Taschengeld, das du übrigens solange weiter bekommst, bis mein Erspartes aufgebraucht ist), sondern wegen dem, was du machst! Hab ich recht? Ich glaube, du bist endlich gewechselt, weil es das ist, was du willst und nicht wegen imaginärem Geld. Ich würde dir jedenfalls vom Lottospielen abraten. Stattdessen nutze mein Restgeld sinnvoll. Wenn es aufgebraucht ist, fällt dir schon etwas ein, da bin ich mir sicher. Dieses Barföck (oder wie das heißt) kann ja so schlimm auch nicht sein, oder? Ich glaube an dich und bin mir sicher, dass du ein glücklicher Künstler wirst!
Fühle dich gedrückt,
Deine Oma Anni
Tjark lief eine Träne nach der anderen das Gesicht herunter. Für eine Weile dachte er nicht an Geld, sondern an Oma. Wie sie für ihn alles getan hatte, sich so oft seine Ängste und Sorgen anhörte und stets einen weisen Rat und eine Aufmunterung für ihn parat hatte. Wie sie ihm jedes Jahr zu Weihnachten die Pralinen mit Weinbrand schenkte, obwohl er sie hasste. Doch selbst dafür hatte Tjark sie geliebt. Dann las er den Brief erneut, freute sich über die etwas wackelige, markante Handschrift, die er von Geburtstags- und Postkarten so gut kannte.
War Tjark enttäuscht? Klar, wie konnte er es nicht sein? Millionen zu haben oder nicht zu haben, dazwischen gab es einen signifikanten Unterschied, den er wohl nie selbst erfahren sollte.
Wieder und wieder las Tjark den Brief und mit jedem Mal wurde sein Grinsen größer und die Tränen trockneten. Irgendwann legte er seine Hände mit dem Zettel in den Schoß und schaute nach draußen, auf die riesige Kastanie auf der anderen Seite des Kanals, deren Blätter sich bereits zu verfärben begannen. Der Baum erinnerte ihn an die schrecklichen BWR Vorlesungen – »BWL, Oma!« –, an die er lange nicht gedacht hatte. Durch Andy konnte Tjark seinen Frieden mit dem alten Studiengang schließen. Jedes Mal, wenn Andy ihm von den aktuellen Themen und neuen Erkenntnissen berichtete, hörte er interessiert zu, denn das Wissen, dass es ihn nicht mehr betraf und er sich stattdessen ganz der Kunst widmen konnte, machte ihn glücklich.
Tjark sah zum Schrank, wo ein eingerahmtes Foto von Oma mit Derrick stand. Er musste schmunzeln.
»Oma, du altes Schlitzohr!«, sagte er, steckte den Brief ein und machte sich auf den Heimweg.