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Die Macht der Kinder
Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein Zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah...
...ein grelles Blitzen im Spiegel. Aus allen Ecken schossen sie auf die Mitte zu und bildeten ein merkwürdig verzerrtes Antlitz. Das Glas schien zu schmelzen, während die Lichtblitze allmählich Gestalt annahmen. Doch das war noch nicht alles. Der Spiegel wölbte sich. Eine Nase wuchs aus ihm heraus, dann folgten Wangen und Barthaare. Große mit Fell besetzte, spitze Ohren zuckten in der silbernen Flüssigkeit, die sich nunmehr über den gesamten Spiegel verteilte. Zwei glänzende Augen öffneten sich und blinzelten ins Zimmer. Auf der Stirn des katzenartigen Wesens schimmerte ein goldener Stern, dessen Inneres immer tiefer in dessen Stirn zu verschwinden schien.
Plötzlich erzitterten die Barthaare der Katze, als sie mit ihrem kleinen Maul Worte zu formen begann. »Alina…Alina, es ist Zeit«
Wie ein Echo erklang ihre Stimme und streichelte meine Ohren.
Jede Nacht erneut. Jede Nacht seit etwa fünf Jahren, seit ich zehn war, erschien dieses wundersame Wesen in meinem Spiegel und jede Nacht erneut erteilte es mir eine Aufgabe, die zu lösen ich verpflichtet bin.
Wie ein Schlafwandler verließ ich das Bett und ging zum Spiegel, der einen hellen Lichtstrahl auf den Boden sandte. Wirbelnde goldene Staubteilchen formten sich, wie an einem unsichtbaren Spinnennetz, zu einem Kleiderhaufen, der mich auf den ersten Blick an das Mittelalter erinnerte. Ich schlüpfte aus meinem Nachthemd und hinein in das Kleid. Es reichte mir bis zu den Zehen. Die langen Ärmel hatten einen weiten Saum und waren aus weißsilberner Spitze gefertigt. Auf einem dunkelblauen Grundton saßen silberne Steine, die wie tausende Sterne schimmerten, während das Dekolleté mit Bernsteinen bestickt war. Zwar trug ich dieses Kleid jede Nacht, wenn Sepataya, die Katze, mir einen Auftrag gab, aber es war doch immer wieder etwas Magisches.
Und dennoch war irgendetwas anders.
»Was hast du gemacht?«, fragte ich sie.
Die Augen der Katze funkelten wie bei einem listigen Fuchs, ein Blick, der mir Unbehagen bereitete. Dann spürte ich eine seltsame Wärme auf meinen Haaren, als würden Flammen auf ihnen tanzen. Mit den Fingern wollte ich sie berühren, zuckte aber sofort zurück. Hitze wallte über meinem Kopf. Im Spiegel konnte ich es schließlich sehen, wenn auch nur verschwommen. Tatsächlich züngelten unzählige Flammen auf meinem Kopf, als würden meine Haare wie Kobras zu einer Flöte tanzen.
Es dauerte nicht lange bis sich die Flammen verhärteten und eine rotgoldene Krone mit einem Stern in der Mitte bildete. Für einen Moment hielt ich inne. Dieses Bild war mir irgendwie vertraut, auch wenn ich es vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Damals war es ein dreizehn-jähriges Mädchen gewesen, bei dem ich diese Krone gesehen hatte. Sepataya hatte sie dann auf mich übertragen. Bis heute habe ich von ihr nur erfahren, dass sie aller Jahre neue Kinder braucht, um die Welt der Magie erhalten zu können.
»Es ist Zeit«, wiederholte Sepataya geheimnisvoll.
»Dies wird deine letzte Aufgabe sein. Führe sie mit Bedacht aus, denn davon hängt die Existenz meiner Welt ab und die Fantasie der Menschen.«
»Heißt das, dass du nie wieder kommen wirst?« Mein Hals verengte sich, als hätte ich einen Kloß im Ganzen hinuntergeschluckt. Sollte es wirklich so abrupt enden?
»Nein, es bedeutet, dass du einen Nachfolger auswählen musst. Einen Menschen, dessen Träume lebhaft und unbeeinflusst sind und dessen Glauben rein ist.« Sie machte eine Pause, bevor sie mit gesenktem Blick fort fuhr. »Deine Zeit ist nahezu zu ende, Alina. Von Tag zu Tag wirst du erwachsener und verlierst immer mehr deinen Glauben und deine Träume. Verschwommene Umrisse...«
Ich spürte wie tausende Splitter durch meine Adern schossen. Um mich herum schien auf einmal alles zu verblassen. Hatte Sepataya tatsächlich gesagt, dass meine Kindheit vorbei war? War ich zu einer Verleugnerin geworden? Hatte ich die Welt der Träume und Magie verraten?
Ohne dass ich es wollte, schossen mir Tränen in die Augen.
Das Gesicht der Katze verschwamm. Ich spürte wie ich den Boden unter den Füßen verlor. Eine hektische Bewegung riss mich in die Gegenwart zurück. Sepataya hatte ihre Pfote, die außerhalb des Spiegels um einiges größer wirkte, auf mich zuschnellen lassen. Ob sie mir einen Hieb verpasst hatte?
An meiner Wange gewahrte ich etwas Weiches. Sepatayas Pfote war sanft gegen meine Haut gedrückt und wartete...
Eine Träne rollte aus meinem Auge herunter und hätte eigentlich im Fell versinken müssen – doch das tat sie nicht. Stattdessen schwebte sie über ihrer Pfote, umhüllt von einer bläulichen Aura. Sepataya zog die Pfote zurück, die sofort im Spiegel verschwand. Aus ihrem Maul kam goldener Rauch, der sich um die Träne schlängelte und zu einer starren Hülle verformte. Beides löste sich auf, nachdem Sepataya Worte in einer seltsamen Sprache geflüstert hatte.
»Sollte es dir nicht gelingen, bis Mitternacht einen geeigneten Nachfolger zu finden, dann wird deine Träne das Einzige sein, was meine Welt noch am Leben halten kann – für einen weiteren Tag.«
Ein Stich durchfuhr mein Herz. Ihr Schicksal lag in meiner Hand. Was, wenn ich versagen würde? Wo würde sie landen? Würde sich jemals jemand an sie erinnern? Würde ich es tun? Was würde mit den Menschen geschehen? Würden sie eine besondere Eigenschaft verlieren?
All diese Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, so dass ich nicht bemerkte wie Sepataya hinter dem Glas des Spiegels verschwand. Ihre Stimme hallte ihrem verblassenden Antlitz nach. »Beeil dich Alina. Sonne und Mond werden sich bald wieder begegnen und dann wird alles zu spät sein.«
Stunde um Stunde durchstreifte ich die Städte, auf der Suche nach dem 'Einem Kind'. Ein Kind, das all diese Eigenschaften in sich tragen musste und dessen Geist frei von Vorurteilen und Hass war. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es ein solches Kind auf der Erde nicht mehr geben konnte.
Alle meine Hoffnungen schienen fast verloren, als ich an dieses bestimmte Haus kam. Umschlungen von einem Gewirr aus Efeu und hartnäckigen Rosenbüschen wirkte dieses Gebäude wie ein Kriegsopfer aus der alten Welt. Dachschindeln waren zerplatzt und zum Teil hinuntergefallen, das Gemäuer zerfiel an einigen Stellen zu Staub und hinterließ einen schäbigen Anblick rotgegossener Ziegelsteine.
Da es keine Klingel gab, sondern nur einen metallenen Ring auf einem abgeplatzten Löwenkopf, klopfte ich an. Eine schmuddelig gekleidete Frau öffnete die Tür, hinter ihrem Rock schaute ein schüchterner Junge hervor.
Obwohl die Frau sehr hartnäckig war, gelang es mir, dass sie mir ihren Sohn anvertraute.
Allein in seinem Zimmer stellte ich ihm alle möglichen Fragen, die mir wichtig erschienen, um seinen Charakter genau bestimmen zu können. Er war fröhlich, ehrlich und hatte eine ausgelassene Fantasie. In seinem Zimmer hingen Bilder aus Sand, die Kreaturen zeigten, die ich zuvor noch nie gesehen hatte.
Die Stunde schlug fast Mitternacht und seine Mutter drängte mich zum Gehen.
Im Flur entdeckte ich einen Spiegel und tat so, als würde ich mich noch einmal ansehen. »Komensis serefinia, Sepataya«, murmelte ich. Sekunden später tauchte Sepatayas Kopf im Spiegel auf und der Junge gab einen überraschten, aber sehr erfreuten Laut von sich.
Die nächsten Minuten vergingen so schnell wie ein Lichtjahr. Sepataya hypnotisierte den Jungen, der ihr zuvor seinen Namen verraten hatte – ein Zeichen des Vertrauens und für Sepataya gleichzeitig die Zustimmung, als Nachfolger ernannt werden zu wollen.
Erneut spürte ich die wallende Hitze auf meinen Haaren, an meiner Schläfe trommelte der Puls wie ein eingesperrter, zutiefst verletzter Mensch und meine Augenlider gaben dem Druck der Müdigkeit nach. Ein letztes Mal blitzten mir die Augen der Katze entgegen, bevor mich unendliche Dunkelheit umfing.
Ich sank in einen traumlosen Schlaf.