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Die, Mary die
Die, Mary die (<-- Englisch "die" = sterben)
Sie hatten ihr die Hände auf das Bett gelegt. Rechts und links neben dem Körper. Eine Maschine piepte leise in einem langsamen Rhythmus und das seltsame Geräusch des Beatmungsapparates erfüllte den Raum. Ihr war ein Schlauch durch die Nase gelegt, der sie mit Luft versorgte. Er sah, wie ihr Bauch langsam, kaum erkennbar, auf und ab ging. Die Wände waren weiß; genauso wie das Bett. Und das lange dünne Gewand, das sie trug. Er ergriff ihre Hand, wie er es schon so oft getan hatte. Eine Träne rollte über seine Wange.
Sieben Jahre lag sie nun dort in dem Bett. Sie rührte sich nicht. Sie atmete nicht. Sie aß nicht. Ihre Augen waren geschlossen. Und doch – so sagten sie Ärzte – lebte sie. Und er? Seit sieben Jahren saß er nun an ihrem Bett. Seit sieben Jahren jeden Tag und erzählte ihr, was er erlebt hatte.
„Klara hat heute eine Zwei in Deutsch geschrieben", sagte er. Die Ärzte hatten gesagt, er solle das tun, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihn hören konnte. Er erzählte auch noch von ihrem Sohn, von der Arbeit und wie es dem Hund ging, den sie nie gesehen hatte. Dann wurde er still. Er spürte ihre Hand. Sie war kalt und leblos. Ihre Haut war feucht, und er zitterte. Er hatte immer noch Angst sie zu berühren. Sie wirkte so gebrechlich. Sie hatte auch abgenommen ...
Dann stand er auf und ging zum Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und blickte über das Neubauviertel. Er erinnerte sich daran, dass sie hier ein Haus kaufen wollten, als die Planungen bekannt gegeben wurden. Die Häuschen sahen so schön aus, auf dem Prospekt. Nun waren sie fertig. Wie die Zeit verstrich ...
„Ich weiß noch, als du damals den Unfall hattest", murmelte er leise vor sich hin. „Sie sagten ...“, er hielt inne und drehte sich zu ihr um. Eine Träne stand in seinem Gesicht. „Sie sagten, du würdest bald wieder gesund.“
Lange würde ihm nicht bleiben. Es war spät und der Arzt müsste bald kommen, um sie für die Nacht vorzubereiten.
Er setzte sich wieder neben das Bett und strich ihr über den Kopf. Dann wischte er sich die Träne von der Wange und versuchte in einem nüchternen Tonfall zu sprechen: „Heute ist der Beschluss vom Richter gekommen.“ Er suchte etwas in seiner Tasche. Dann kramte er einen Zettel hervor. „Die Maschinen werden nicht abgestellt, da die betroffene Person nicht eindeutig als tot zu identifizieren ist.“ Er legte das Papier weg. „Tut mir Leid“, stammelte er. „Ich habe alles versucht“
Wieder stand er auf. Und wieder ging er zu dem Fenster. „Du sagtest einmal“, schluchzte er, „dass du mich so liebst, dass du mich aufgeben würdest. Bis heute habe ich dich nicht so sehr lieben können. Ich konnte nicht wegen dir zum Mörder werden ... Du weißt ...“, er stockte und wischte sich erneut die Tränen von der Wange. „Die Maschinen würden sofort Alarm schlagen, wenn ich sie abzustellen versuche ...“ Er drehte sich langsam um. Seine Hand griff in seine Jackentasche. „Sie würden sie wieder anstellen.“ Seine Stimme war nur noch ein Schluchzen. Seine Worte verschwammen ineinander. „Und du könntest wieder nicht ruhen.“
Wie benommen taumelte er auf sie zu. Dann nahm er eine Pistole aus seiner Jackentasche und zielte auf ihren Kopf. „Es ist der einzige Weg“, schluchzte er und schüttelte leicht den Kopf. Dann sagte er, was er schon so lange sagen wollte. Und seine Stimme wurde plötzlich klar und deutlich: „Ruhe in Frieden, Mary!“ Dann drückte er ab ...