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Die Mechanismen des Geschäfts

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28.12.2009
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Die Mechanismen des Geschäfts

Ludger Baginski lag in der Dunkelheit und hörte dem Regen zu. Er machte das oft. Still daliegen. Den Kopf leer werden lassen. Manchmal fuhr ein Auto schneller als sonst durch die Pfützen draußen auf der Straße. Das Geräusch der Reifenprofile, wie sie das Regenwasser verdrängten. Auch das mochte er. Schritte in der Einfahrt. Das Klappern der Briefkästen. Er bekam nie Post. Vor Jahren hatte seine Tochter ihm einen letzten Brief geschickt. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Den Brief besaß er noch. Gutes Papier. Von Hand geschrieben. Er hatte ihn zwischen die Seiten von ARGENTINIEN `78 gesteckt, das einzige Buch, das er noch besaß. Er sah auf den Wecker. Acht Uhr.

Im ALDI war noch nichts los. Eine junge Frau wartete vor ihm an der Kasse. Auf dem Warenband ein Netz Orangen und Naturjoghurt. Sie gab der Kassiererin das Geld passend in die Hand. Die Kassiererin war eine Frau im mittleren Alter. Große Brüste. Das Haar lila gefärbt. Sie zog die Flaschen über den Scanner und sah ihn erst an, als er ihr den Zehner hinhielt.
„Fehlen vierzig Cent.“
„Mehr hab ich nicht.“
Sie verdrehte die Augen. „Was jetzt? Die Flasche oder die.“
„Ich bring den Rest nachher rein.“
Sie schüttelte den Kopf. „Könnte ja jeder kommen.“
„Sind nur vierzig Cent.“
„Vierzig Cent sind vierzig Cent.“
„Ja“, sagte Ludger. „Stimmt.“

Den ersten Schluck trank er auf dem Parkplatz. Er blickte durch die Scheibe auf die Kassiererin. Vierzig Cent sind vierzig Cent. Auf dem Rückweg kam er an einer Baustelle vorbei. Zwei Männer schippten Erde aus einer Grube. Ludger blieb stehen und sah ihnen zu. „Braucht ihr Hilfe?“
„Was redest du da“, sagte einer der Männer und stützte sich auf dem Stiel seiner Schippe ab.
„Ich such Arbeit.“
„Arbeit? Bist du eine Deutsche?“
Ludger nickte.
„Seit wann wollen die Deutsche arbeiten?“ Die beiden Männer lachten. „Knochen kaputt machen fünf Euro Stunde.“
„Fünf Euro die Stunde“, wiederholte Ludger.
„Gehst du lieber Schnaps trinken.“
„Fünf Euro die Stunde hast du gesagt.“
Der Mann stellte die Schippe ab. „Geh weiter, sonst hau ich dir in die Schnauze!“
Ludger wollte gerade antworten, als sich die Tür des Bauwagens neben der Grube öffnete. Ein Mann trat aus der Tür. Er trug ein Polohemd, Arbeitshosen.
„Redet nicht so, ihr habt keine Ahnung, wer das is'.“
„Schnapsleiche ist das.“
„Kann so viel Schnaps saufen, wie er will. Und ihr haltet euch besser mal nicht am Werkzeug fest, ja?“
Die Männer begannen schweigend zu schippen.
„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte der Mann im Polohemd. „Sie brauchen nich schippen. Aber holen se sich auch was zu essen. Was Vernünftiges.“
Ludger nahm den Fünfziger entgegen. „Mach ich.“
Der Mann strich sich über den Unterarm. „Kann mich noch genau dran erinnern, wie Sie den Ball reingemacht haben damals im Finale, wie dumm der Horn geguckt hat. War einer der besten Tage meines Lebens.“
Ludger sah auf die beiden Männer in der Baugrube. „Ja, schon was länger her.“
„Mein Vatter, der hat immer gesagt, das war die späte Rache für '83. Da waren wir auch schon besser als die Scheiß-Geißböcke, aber da hatten wir keinen, der das Ding reinmacht.“
„Irgendeiner muss'n ja reinmachen.“

Ludger ging weiter. Vor ein paar Jahren hatte ein Lokalreporter ihn ausfindig gemacht und interviewt. Den Artikel hatte er aus der Zeitung ausgeschnitten und mit Reißzwecken über das Bett im Männerheim gehängt. Dort hing er ein paar Wochen, bis er die Überreste schließlich im Aschenbecher des Aufenthaltsraums fand.

Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Babette. Das war nicht ihr richtiger Name. Sie hieß Monika, aber er konnte verstehen, warum sie sich so nannte. Es war eine kleine Stadt. Er klopfte an die Tür. Sie wohnte in einem feuchten Apartment unter einer Metzgerei. Sie beschwerte sich nie. Schritte. Das Einrasten des Türschlosses.
„Ach, Ludger“, sagte sie leise und ohne Lächeln. Sie öffnete die Tür ein wenig mehr. „Lange kannst du aber nicht bleiben.“

In der Wohnung roch es nach kaltem Rauch und Weichspüler. Er setzte sich auf die Bettkante.
„Hast du was da?“, fragte sie.
Er reagierte nicht.
„Jetzt lass dich nicht so bitten!“
Er holte den Doppelweizen aus der Manteltasche und schraubte den Verschluss ab. „Erst sagste mir, wem der Koffer da is.“
Sie seufzte und setzte sich neben ihn. „Manfred is wieder da.“
„Manfred“, wiederholte Ludger. „Einfach so eingeflogen?“
„Du weißt doch, wie das is.“
„Ich? Nee, woher denn?“
„Ach, Ludger.“
„Ach, Monika.“
„Du sollst mich nich so nennen.“
„Ich kann dich nennen, wie ich will. Wir sind ja geschiedene Leute, seitdem Manfred seinen Koffer hier abgestellt hat.“
„Aber so isses doch gar nich.“
„Wie isses denn dann?“
„Der bleibt nur noch für ein paar Tage.“
„Wie lang isser denn schon hier?“
„Jetzt fang nich so an. Wo warst du denn die ganze Zeit? Hast dich nicht einmal blicken lassen.“
„Du weißt ganz genau, wie's bei mir manchmal ist.“
„Der Manfred“, sagte sie und legte eine Hand auf sein Knie. „Vergiss den mal. Das ist nix.“
„Hat dich grün und blau geschlagen. Jetzt isser wieder da. Soll ich 'n davon halten?“
„Das war doch ganz anders.“
„Jetzt biste auf einmal vor'n Schrank gelaufen, oder wie?“
„Nee, aber du kennst Manni doch, der hat das nich so gemeint.“
„Nicht so gemeint …“
„Ihr seid alle gleich“, sagte sie. „'ne Frau wie ich, die braucht was anderes.“
„'ne Frau wie du“, wiederholte Ludger.
„Was?“, sagte sie. „Glaubst du etwa, ich hab das nicht verdient? Hab ich nicht verdient, ordentlich behandelt zu werden?“
„Ist ja jut.“
„Nichts ist gut.“
„Ich hab's verstanden.“
Er ließ sie den Doppelweizen nehmen, und sie trank, bis er ihr die Flasche von den Lippen riss.
„Sau!“, schrie sie. „Du Drecksau!“
„Haste denn Kohle für 'ne neue?“
„Lass mich, lass mich bloß.“
„Ich lass dich schon.“
„Nein, geh' nicht, du darfst nicht gehen.“
Als sie nach seiner Hand griff, ging alles sehr schnell. Danach fasste sie sich an die Wange und sank zurück aufs Bett. „Das glaub' ich nich'.“
„Wenner dich schlägt, dann liebt er dich. Sagt man doch so.“
„Das glaub ich ja jetzt nich.“
„Komm“, sagte er. „Stell dich mal nich so an.“ Er streichelte ihr über die dünnen Haare. „Wollt ich nicht. Mir is die Hand ausgerutscht. Wegen Manni. Ich hab das nur gemacht, weil du mir was bedeutest.“
„Was bedeute ich dir denn?“

Auf der Straße knöpfte er sich den Mantel zu und verstaute den Korn in der Innentasche. Er ging an Dönerbuden, Stehcafès und leerstehenden Ladenlokalen vorbei zum Hauptbahnhof. In der Wartehalle setzte er sich auf eine Bank und drehte aus den letzten Krümeln Tabak eine Zigarette. Er wartete, bis der Regen nachgelassen hatte. Vor dem Zeitungsstand blieb er stehen. Manchmal las er noch die Ergebnisse oder warf einen Blick auf die Tabelle. Er nahm ein Exemplar des Stadt Anzeigers aus dem Ständer und faltete den Sportteil auf. Fortuna Köln hatte gegen den Karlsruher SC mit 3:1 gewonnen. In der Tabelle belegte der Verein den zweiten Platz. Eine Fotografie im unteren Drittel der Seite zeigte den Trainer im intensiven Austausch mit der Mannschaft. Baginski erkannte das Gesicht auf den ersten Blick. In der Kabine hatten sie ihn damals immer nur Wade genannt.
„Wollen Sie die Zeitung da kaufen?“ Der Mann klopfte mit den Fingern auf den Tresen. „Ja, genau, Sie, Sie meine ich.“
„Der Wade“, sagte Baginski und schüttelte den Kopf. „Der war doch froh, dasser den Ball geradeaus treten konnte …“
„Also, wollen Sie die Zeitung jetzt kaufen?“
„Vierzig Cent sind vierzig Cent.“
„Was?“
Baginski steckte die Zeitung zusammen und schob sie zurück in das Fach. „Ich Kapitän, Wade Vorstopper, so war das, ich feine Klinge, der Rambo. So, und nich anders, ja?“

Auf dem Vorplatz nahm er einen Schluck aus der Flasche und zündete sich die Zigarette an. Es war seine letzte. Er nahm ein paar tiefe Züge, stellte sich unter das Dach der COMMERZBANK und hielt die Glut in der hohlen Hand. Wade. Er wiederholte den Namen in Gedanken. Wade. Wade. Wade. Dann dachte er an Monika und Manfred. An den Koffer. Er ging über den Marktplatz und setzte sich auf die Treppen vor dem Stadtmuseum. Als der Himmel aufklarte, schloss er die Augen, ließ den Sonnenschein sein Gesicht wärmen.

Der Ball liegt auf einer Grasnarbe. Zweiundzwanzig Meter vor dem gegnerischen Tor. Rechte Strafraumgrenze. Minute 88. Pokalfinale. Es steht 1:1. Ludger Baginski bückt sich, dreht den Ball so, dass das Ventil unten liegt. Im Training hat er aus ähnlichen Positionen oft Tore erzielt. Er weiß, er benötigt nicht viel Kraft, sondern einen platzierten Schuss. Er sieht in die Gesichter seiner Mannschaftskollegen, die sich im Strafraum bereit machen. Noch zwei Minuten regulär. Fünf Minuten inklusive Nachspielzeit. Verlängerung. Elfmeterschießen. Das dritte Spiel in Folge. Alle sind erschöpft und müde. Krämpfe. Zweifel. Vier Spieler in der Mauer. Baginski sieht die perfekte Flugkurve des Balls. Angeschnitten über die Mauer. Am kurzen Pfosten ins Netz. Er atmet durch. Wird ruhig. Um ihn herum tobt das Müngersdorfer Stadion. Come on FC, Come on FC, schallt es durch das Rund. Niemand hat mit dem kleinen Verein aus der Südstadt gerechnet. Endlich gibt der Schiedsrichter das Spiel wieder frei. Drei Schritte Anlauf. Baginski spürt, wie der Ball ihm über den Spann gleitet, den nötigen Spin bekommt. Die Spieler in der Mauer springen hoch. Timo Horn bleibt mit ausgestreckten Armen auf der Linie stehen und sieht dem Ball hinterher.

Als er aufwachte, war es Nacht und regnete. Der Stoff seines Mantels schwer von der Nässe. Er tastete nach dem Korn und schraubte den Verschluss ab. Die Flasche war leer. Er leckte mit der Zunge die letzten Tropfen vom Gewinde und ließ sie auf der obersten Stufe stehen. Die große Leuchtuhr an der Außenfassade des Juweliers zeigte Viertel vor Zwölf. An den Geschäften gingen nacheinander die Reklamen aus. Bis zu Monikas Wohnung waren es fünfzehn Minuten. Es war ein Versehen gewesen. So einer war er nicht.

Im Fenster der Metzgerei hing ein mit der Hand beschriftetes Schild aus Pappe: HALVE HAHN & FLÖNZ … die Preise konnte er nicht mehr lesen, sie waren verblichen. Gedämpftes Licht hinter den Vorhängen.
„Monika“, sagte er. „Babette.“
Nichts.
„Monika, hier, verdammt … hör mal, tut mir leid, tut mir leid, echt, wirklich, wollt ich nich, ehrlich, kennst mich doch, das wollt ich nich, nie und nimmer.“ Er kniete sich hin und klopfte gegen die Scheibe. „Monika … Babette, hier, weißt du doch, so bin ich nich, so einer … ich war … komm, weißte ganz genau, is keine einfache Zeit.“ Er klopfte noch einmal gegen die Scheibe. „Ich bin nich den ganzen Scheißweg gelaufen, um … hier, zu deiner Bude, durch die halbe Stadt, Scheißregen, und ich weiß … Manni, bist du da? Bist du da drin? Hörst du mich, ja? Hörst du mich? Manni, wir, wir beide sehen uns noch, du Drecksau, man sieht sich immer zweimal, ja? Man sieht sich immer zweimal im Leben, und dann … ich sag dir.“ Er kam hoch, stützte sich an der Hauswand ab. Kalter Schweiß in seinem Nacken. „Drecksau!“, schrie er. „Manni, du, hier, ich war immer … und du? Und du, ja? Was warst du?“
Ein Fenster im oberen Stockwerk wurde geöffnet. „Hau ab ey! Hau jetzt endlich ab, ja? Sonst ruf ich die Schmier!“
„Schnauze da oben!“
„In fünf Minuten sin die hier, die Grünen, und die sacken dich ein, das kannste glaube, dass ich das den Sheriffs stecke, dass die dich einsacken.“
„Du bist nix, gar nix bist du, guck dich mal an, du bist doch froh, dasse geradeaus laufen kannst.“
„Jetzt reicht’s!“
„Jetzt reicht’s, jetzt reicht’s! Zu doof zum Scheißen bist du, hörste? Zu doof zum Scheißen!“
Das Fenster wurde zugeschlagen.
„Zu doof zum Scheißen biste“, schrie Baginski. „Hörste, Wade, hörste?“

Kinderlachen weckte ihn. Zwei junge Mütter saßen auf der Bank gegenüber. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen, rauchten Filterzigaretten und tranken dampfenden Kaffee aus Pappbechern. Er blieb noch einen Moment auf dem harten Holz liegen, hörte den Stimmen zu, ihrem Lachen. Wind strich über sein Gesicht. Als er aufstand, verstummte das Gespräch der beiden Frauen. Sie sahen ihn an, dann auf die Kinder, die an einem Spielgerüst kletterten. Baginski lächelte.

Er ging an den Bänken vorbei, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Stimmen, das Lachen verhallte. Er urinierte hinter einem Strauch in ein Blumenbeet und fand dabei den Fünfziger in seiner Hosentasche. Der Schein war zerknittert und feucht geworden. Er strich ihn sorgfältig glatt, faltete ihn zusammen und schob ihn in die Manteltasche. Fünfzig Euro. Das Geld hatte er ganz vergessen.

Das Kreishaus lag am Ende der Fußgängerzone gegenüber vom Bahnhof. Er nahm den Weg durch den Rosengarten der Abtei, vorbei an den noch leeren Parkplätzen. Die Kantine befand sich im Untergeschoss des Gebäudes. Baginski benutzte das Treppenhaus. Die Kantine war ein großer Raum mit breiter Fensterfront. Ganz am Ende die Essenausgabe und die Kassen, abgetrennt durch niedrige Metallgitter. Weiße Plastiktische standen in langen Reihen hintereinander, darauf hellgrüne Decken und künstliche Blumengedecke. Zwei Männer in Anzügen saßen sich an einem der Tische gegenüber und tranken Kaffee. Zwischen ihnen lag ein aufgeschlagener Aktenordner. Baginski las die Tagesgerichte, die auf kleinen Tafeln mit weißer Kreide geschrieben standen. Schweineschnitzel mit Rösti, Apfelkompott und Dessert. Putenmedaillons Natur mit Beilage, Salat und Dessert. Chili sin carne, mit veganem Brot, Salat und Obst. Er erinnerte sich an die Worte: Holen se sich auch was Vernünftiges. Er sah den Mann genau vor sich, wie er ihn ansah, versunken in seiner Erinnerung.

„Ja?“
Er hörte die Stimme weit entfernt. Die Frau senkte den Kopf, tippte mit den Fingern auf die Theke.
„Die Putenmedaillons“, sagte Baginski dann und lächelte.
„Sechsfuffzich.“
Er legte den Schein auf die Ablage.
„Dessert können se sich selber raus nehmen. Pudding oder Kuchen.“
„Kuchen.“
„Hamses was kleiner?“
„Nee, tut mir leid.“
„Is‘ noch früh, wissen Se?“
Baginski nickte, nahm das Wechselgeld entgegen und steckte es sich in die Hosentasche. Auf dem braunen PVC-Boden war ein hellgelber Pfeil abgebildet, der die Richtung anzeigte, in die man weitergehen sollte. Er folgte dem Pfeil und blieb an der Ausgabe stehen.
„Hab’n Sie kein Tablett?“
Er sah die Frau an. Sie war klein, die braunen Haare zu einer Dauerwelle frisiert. Sie trug eine goldene Kette mit einer Herzhälfte als Anhänger um ihren Hals.
„Tablett?“
„Ja, hier, so eins.“ Sie zeigte auf den Stapel benutzter Tablette aus Plastik, der hinter ihr auf einem Tisch stand.
„Ach ja.“
„Dann holen Se sich noch eins.“
Baginski sah auf den Pfeil am Boden. Die Reihe vor der Essensausgabe war leer. Er ging ein paar Meter zurück und hob ein Tablett aus dem Spender.

Das Fleisch war zart, das Messer glitt mühelos durch die Fasern. Er tunkte die Stücke mit der Gabel in die rote Sauce und kaute sorgfältig. Er aß die Medaillons, danach Buschbohnen und Kartoffeln, zum Schluss teilte er das Stück Kuchen in zwei gleichgroße Stücke. Haselnüsse, Schokolade, Glasur aus Zuckerguss. Als er fertig war, stellte er das Tablett auf den Sammelbehälter in der Mitte des Raumes und nickte der Frau hinter der Theke zu.

Zinn 40 ist auch was Vernünftiges, dachte er und nahm einen Schluck. Er spürte den Alkohol, und wie er langsam begann, sein Bewusstsein zu verändern. Wie sich die Ränder auflösten, alles leicht wurde. Er hatte noch genug Geld für zwei volle Flaschen. Er würde zu Babette gehen, sich bei ihr entschuldigen, die Sache klären, sich erklären. Noch ein Schluck. Die Sonne schien, blauer Himmel, fast wolkenlos. Schönwetterfußballer hatten sie ihn in der Presse immer genannt. Bei dem Gedanken musste er lachen. Es stimmte. Er hatte es geliebt, bei schönem Wetter Fußball zu spielen. Sich nicht schmutzig machen zu müssen. Dafür waren andere Spieler dagewesen.

Die Grube war seit gestern tiefer und breiter geworden. Es waren die gleichen Männer, die auf dem Grund standen und Erde schippten. Ein Schweißfilm lag auf ihren Nacken. Baginski blieb stehen. Er fühlte die Scheine in der Hosentasche. Einen Zwanziger. Einen Zehner. Vor ihm auf dem Boden lag ein kleiner, weißer Stein. Er traf den Schutzhelm mit einem lauten Klick. Der Mann hielt kurz inne, hob den Kopf und stach die Schippe wieder in die dunkle Erde. Erst beim zweiten Stein drehte er sich um.
„Bist du bekloppt?“
„Nee, Schönwetterfußballer.“
„Bist du der von gestern, Schnapsleiche.“
„Feine Klinge.“
„Was redest du da?“
Baginski holte aus und trat mit dem Innenrist gegen einen faustgroßen Stein, der am Rand der Grube lag. Sand stieb auseinander. Der Stein flog knapp über die Köpfe der Männer hinweg und prallte an der Baggerschaufel ab.
„Ey!“, brüllte der Mann. „Hör auf damit, du Arschloch!“
Baginski kicherte.
„Chef nich da heute, ich nehm Schippe und schlag dir Schädel ein!“
Der zweite Mann hatte sich aufgerichtet und stützte sich mit einer Hand auf dem Knie ab. Er nahm den Helm vom Kopf, sah zu Baginski hoch und sagte: „Verpiss dich bloß.“

Er hörte, wie die Männer ihm noch etwas hinterherriefen, griff nach der Flasche Zinn 40, ließ sie aber in der Manteltasche. An der Straßenkreuzung schaltete die Ampel auf Rot. Er blieb stehen, atmete ein und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Ampel auf Grün gesprungen. „Feine Klinge“, sagte er leise zu sich selbst. Dann drehte er sich um.

 

Mensch, danke dir @Detlev, ich revanchiere mich alsbald, bist ja so ein fleißiger Kommentierer. Ja, schon was älter, der Text, schön, dass du den wieder ausgegraben hast. Ich denke, das Ende kann man lesen, wie man möchte; er kehrt zurück, er nimmt das an, spielt den Pass, so würde ich mir das vorstellen und wünschen, ein letzter Rest Lebenswille, ein letzter Rest Kampf in ihm.

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar!

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,

musst Dich nicht revanchieren - es gibt Autoren, die liest man gerne, ohne Erwartung, just for fun, weil´s Spaß macht und erbaulich ist. Andere sind Pflicht und anderen hilft man gerne weiter ... wie im richtigen Leben. Ich genieße seit einiger Zeit den Status des Rentners und bei "schlechtem" Wetter tummle ich mich lieber hier, anstatt TIK TOK oder andere Belämmerungen zu pflegen.
Ich möchte aber auch nicht nur lesen, ohne Kommentare - deshalb sind sie oft sehr kurz.
Freu Dich einfach, dass ich Dich gerne lese und gut ist!
Grüße - Detlev

 

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