DIE MITTE DES PALINDROMS
- Ich wollte die Zeit anhalten, damit der Schmerz aufhört...
- Ich weiß...
Sie ließ einen Kuß auf seine Lider fallen.
- Ich wollte...
- Was..?
Er lag auf der Seite, fast wie ein Fötus. Sie preßte sich an ihn, an seinen Rücken, seine Beine.
- Ich wollte es nicht wahr haben...
- Ich weiß...
Sie strich mit der Hand über seine Brust, seinen Bauch, spürte die Bewegungen seines Atems, fühlte den Schlag seines Herzens. Er, die Hände wie betend zusammengelegt unter dem Kopf, war sich ihrer bewußt, sie war da, einfach da, er nahm sie ganz war. Wenn er sich konzentrierte, erkannte er Einzelheiten, spürte das Gewicht ihres Armes in seiner Seite, ihre Haut an seiner Haut, den Lufthauch in seinem Nacken, die Brustwarzen an seinen Schultern und, wenn er genau darauf achtete, die einzelnen Haare an seinem Po.
- Ich wollte es einfach nicht wahr haben...
- Ich weiß...
Sie weiß...
Er war wieder einmal durch die Straßen geirrt, ohne klaren Gedanken, ein Chaos in seinem Kopf von Schmerz und Trauer, darüber schwebend die Frage: Warum?
Er war wieder einmal durch die Straßen geirrt, getrieben, auf der Flucht vor der Gegenwart. Er wollte die Vergangenheit wieder haben. Die glückliche Vergangenheit. Mit ihr. In ihr war sie lebendig. Sie lachte, sie weinte, sie stritt, sie versöhnte sich. Sie redete, sie sang, sie schwieg. Sie haßte und sie liebte ihn.
Und dann hat man sie ihm genommen.
Gevatter Tod, warum nur, warum? Warum sie?
Er machte die Augen auf.
- Es stimmt nicht...
- Was..?
- Ich wollte nicht die Zeit anhalten, ich habe sie angehalten. Und der Schmerz wurde größer...
- Ich weiß...
Sie weiß...
Die Nachricht, der Schock.
Ein Unfall. Eine nasse Straße. Eine Kurve. Dann nichts mehr.
Er war wieder einmal durch die Straßen geirrt und in einer Bar gelandet. Sansi-Bar.
Nach ihrem Tod ebbte sein Leben ab. Er tat nur noch das nötigste. Zu Hause, im Beruf. Sex? Die Hand oder die Hure.
Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie, hatte er in dieser Bar zu der Frau, die am Tresen saß, gesagt. Einfach so, ohne zu überlegen.
Sie hatte erst gar nicht reagiert. Außer dem Kerl hinter der Theke war sonst niemand da.
Ein Palindrom, sagte sie schließlich. Zu sich, zu ihm? Er wußte es nicht.
Die ganzen Cocktailnamen sagten ihm nichts und so nahm er nur ein Bier. Er trank nicht viel, auch nach diesem Unfall nicht, nach dem Tod seiner Frau.
Reliefpfeiler. Diese Wort ist mein liebstes Palindrom, hatte sie gesagt, ihn nicht angeschaut, niemanden angeschaut, es einfach gesagt, es in den Raum gestellt und fertig.
Fangt etwas damit an oder laßt es.
Sprache kann etwas Wunderbares sein, hatte er instinktiv reagiert. Nicht lange nachgedacht, einfach nur gesagt, was ihm in den Sinn kam.
Er blickte sie an, wollte genau wissen wie diese Frau aussah.
Ein Bein auf dem Boden, ein Bein am Hocker. Schwarze Strumpfhosen, schwarzer Ledermini, dunkelrote Bluse. Helle, fast weiße Haut. Pergament. Dichter, schwarzer Lockenkopf, buschige Augenbrauen, die Augen weit auseinander. Große Augen, von Natur und durch Bemalung. Lange Nase, voller Mund. Wäre der Sensenmann eine Frau, so könnte er aussehen, dachte er. Sie trank etwas Grünes in einem schmalen, hohen Glas mit einem weißen Strohhalm.
Er rückte zu ihr auf.
Sie ist tot, begann er, meine Frau... Und dann sprudelte es aus ihm heraus, wie noch nie bei einem anderen Menschen. Wer sie war, wie sie war, wie sie lebte, wie sie starb.
Sein Bier stand unberührt auf dem Tresen als sie die Bar verließen.
- Die Zeit ist schließlich für mich stehen geblieben. Gefangen in der Gegenwart mit der Sehnsucht nach vergangenen, glücklichen Tagen mit ihr...
- Ja...
Die Nacht war kühl für einen Sommer. Sie gingen schweigend durch die Straßen; er hatte schon genug geredet und sie wollte noch nicht. Sie gingen so dicht, daß sie sich fast berührten.
Er hatte sie damals identifizieren müssen, sie war mal wieder ohne Papiere unterwegs gewesen. Sein Herz hatte sich zusammengezogen, als er sie auf dem Untersuchungstisch in der Pathologie hatte liegen sehen. Der Geruch hatte ihn dann nicht mehr gestört. Rote Flecken, schwarze Flecken, Flecken in allen Farben und Schattierungen hatten ihren Körper übersät. Flecken, verursacht durch Brand- und Fleischwunden. Ja, sie war es, hatte er dem Beamten zugenickt. Sie war es... Sie war...
Seine Wohnung... Unbewußt, vielleicht unterbewußt, hatte er sie dorthin geführt. Sie hatte keine Einwände noch mit hinaufzukommen.
Schöne Wohnung, sagte sie. Eine Floskel im Tonfall von 'Schönes Wetter'.
Sie küßte ihn auf die Wange. Ich will dich.
Er drehte sich um.
Wie ähnlich sie ihr sah. Und wieso auch nicht! Die gleichen grauen Augen. Die gleiche sportliche Figur.
- Ich habe die Zeit angehalten... Der Schmerz...
- Ich weiß...
Sie trocknete seine Tränen.
Ja, sie wußte es und sie erzählte es ihm. Erzählte ihre Geschichte, ihre Erfahrung mit dem Tod eines Geliebten, ihr Schicksal.
Schicksalskinder.
- Laß die Zeit wieder laufen... flüsterte sie ihm ins Ohr.
Und er spürte wieder so etwas wie Liebe.
Und es war als sagte sie ihm, von wo immer sie auch war, ja.
Und er gab sich ihr hin, denn sie war jetzt und hier und wirklich.