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Die Nacht der Monster
Ein Migräneanfall hatte Grabowski am frühen Nachmittag im Büro attackiert, gerade als er noch ein paar Rechnungen kontrollieren wollte. Der Weg nach Hause wurde für ihn zur Qual. Wie eine entfesselte Bestie tobte der Schmerz durch seinen Kopf. Der Drang, sich übergeben zu müssen, trieb ihn zur Eile an.
Das Baugerüst vor dem Haus aber ließ ihn erstarren und seine Qual für einen Moment verdrängen. Es rankte an der äußeren Fassade hinauf bis zum Dach. Abgeschirmt von Plastikplanen, die sich im Wind blähten, war das Gebäude kaum noch zu sehen. Das musste tagsüber in nur wenigen Stunden entstanden sein, denn morgens war noch alles in Ordnung gewesen. Obwohl Grabowski schon den Haustürschlüssel in der Hand hielt und sich nach einem abgedunkelten Raum und Schlaf sehnte, trat er noch einmal auf die Straße hinaus und blickte aus zusammengekniffenen Augen nach oben. Er konnte sich nicht erklären, warum ausgerechnet in dieser stürmischen Jahreszeit ein Baugerüst aufgestellt worden war und fragte sich, warum man ihn als Mieter davon nicht in Kenntnis gesetzt hatte. Die Sache beunruhigte ihn. Das stählerne Ungeheuer stand direkt vor seinem Leben. Er hasste Veränderungen.
Im Treppenhaus begegnete Grabowski dem massigen Hausmeister Lorenz, der seinen Pflichten ähnlich schlampig nachzukommen pflegte, wie er sich kleidete. Grabowski sprach ihn auf das Baugerüst an, beschwerte sich darüber, dass die Mieter von den bevorstehenden Renovierungsarbeiten nichts erfahren hätten. In seiner selbstgefälligen Art musterte Lorenz den kleinen Mann aus seinen Schweinsäuglein und machte aus der Verachtung, die er für ihn empfand, keinen Hehl. „Das ist allein Sache der Hausverwaltung“, brummte er und nuckelte geräuschvoll auf einem erloschen Zigarrenstummel herum, was seine unappetitliche Erscheinung um eine weitere unerfreuliche Facette ergänzte.
„Aber Sie sind der Hausmeister“, beharrte Grabowski ärgerlich. „Sie müssen uns Mieter darüber informieren, was hier vor sich geht!“
Lorenz ließ den Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den anderen wandern. „Das Letzte, was ich brauche ist jemand, der mir sagt, was ich zu tun habe“, knurrte er. „Wenn Sie es so eilig haben, rufen Sie meinetwegen selbst bei der Hausverwaltung an. Ich kläre das, wenn ich Zeit dafür habe. Und dann sagen Sie mal gleich bei Ihrer Versicherung Bescheid, dass wir hier ein Baugerüst haben. Die müssen nämlich auf jeden Fall informiert sein. Sonst zahlen die nix, wenn bei Ihnen eingebrochen und geklaut wird. Das ist schon mal sicher.“
Einen Moment lang weidete sich Lorenz noch an Grabowskis Verunsicherung, dann steuerte er zufrieden grinsend die Kellertreppe an. „Schönen Tag noch!“
Bei der Hausverwaltung rief Grabowski erst am nächsten Tag an, nachdem sich seine Migräne wieder etwas beruhigt hatte. Dort wurde er hin- und herverbunden, ohne am Ende eine Begründung für das Baugerüst bekommen zu haben. Keiner schien Genaueres zu wissen, jeder versicherte, die Angelegenheit prüfen zu wollen, niemand aber zeigte besonderes Interesse. „Hinterlassen Sie Ihre Telefonnummer, wir rufen Sie dann zurück.“
Warum lauerte dieses verfluchte Stahlgebilde direkt vor seinem Fenster, versperrte ihm von einem Tag auf den anderen den Ausblick auf die Umgebung? Die Plastikplanen ließen kaum Licht durch, und die Sturmböen, die seit einiger Zeit die Stadt beherrschten, hatten Bretter, Stangen, Leitern und Planen als willkommenes Spielzeug entdeckt. Sie variierten die unheimlichsten Geräusche und erzeugten ständig neue hässliche Töne: Holz klapperte, Stahl klirrte, Verstrebungen quietschten, Plastik schabte - ein zermürbendes Konzert! Grabowskis Leidenschaft, seine geliebten Klassik CDs zu genießen, war fortan empfindlich gestört. Und schlafen konnte er bei diesem Lärm auch nicht. Wie aber sollte er solchen Banausen wie Lorenz oder den Sachbearbeitern der Hausverwaltung klar machen, in welch unerträglicher Weise sein Leben plötzlich beeinträchtigt wurde?
Abgesehen davon beunruhigte ihn die Vorstellung, dass es auf diese Weise möglich geworden war, von außen zu seiner Wohnung zu gelangen. Man brauchte ja nur nach oben zu klettern. Eine weithin sichtbare Einladung an das Gesindel der Stadt: Schaut her, hier gibt einen direkten Weg in Grabowskis Leben.
Das Baugerüst war einfach da. Keiner wusste Bescheid. Keiner gab Auskunft. Und keinen schien es zu beunruhigen, dass es sich wie ein Krebsgeschwür an der Fassade eines Hauses gebildet hatte. Außer Grabowski. Gelegentlich gaukelte der Sturm ihm Geräusche vor, die wie das hektische Heraufklettern nächtlicher Eindringlinge klangen. Gewaltverbrecher, die Wohnungen stürmten, Blutbäder anrichteten, Räume verwüsteten und alles stahlen, was ihnen in die Finger kam. Sie vergewaltigten Frauen, schändeten Kinder und töteten Männer. Das Baugerüst schützte sie, begünstigte ihr grausiges Treiben und übertönte mit seinem Klappern und Quietschen die Todesschreie der Mieter. Besorgt presste Grabowski sein blasses Gesicht gegen das Fenster und lauschte mit angehaltenem Atem. ES kam näher. Immer näher!
Manchmal schreckte er nachts hoch, weil er plötzlich ein dumpfes Pochen am Fenster zu hören glaubte. Als würde eine knochige Geisterhand Einlass fordern. Seine Nerven reagierten auf jedes Geräusch. Und es gab niemand, mit dem er über seine Ängste hätte reden können. Seit dem Tod seiner Mutter vor ein paar Jahren, hatte er nicht einmal mehr eine Familie. Sie fehlte ihm sehr. Und sie ließ sich auch nicht durch die Prostituierte ersetzen, die er sich gelegentlich ins Haus holte, damit sie Mutters Kleider anzog. Er konnte in ihren Armen liegen, in Mutters vertraute Bluse weinen, aber reden wollte er nie mit ihr. Jetzt hätte er sie gern bei sich gehabt, einfach nur, um sich an sie klammern zu können. Aber niemand war da und er fühlte sich plötzlich einsamer als jemals zuvor.
In Grabowskis düstersten Fantasien durchbrach das Baugerüst eines Nachts das Fenster, stieß wie das geöffnete Maul eines Monstrums in sein Leben und spuckte Ausgeburten der Hölle ins Schlafzimmer. Vorneweg marschierte Lorenz und lachte diabolisch. Sein Zigarrenstummel glühte.
Dann griff er Grabowski an. Finstere Kreaturen machten sich irre lachend über Grabowskis Schätze her. Sie zerfetzen seine Briefmarkensammlung, zerstörten seine CDs, zerschlugen seine kostbaren Rotweinflaschen und warfen die Fotoalben aus den Fenstern, die letzte Erinnerung daran, dass er früher mal glücklicher gewesen sein musste. Grabowski hielt sich die Ohren zu und weinte.
Ein weiterer Migräneanfall zwang ihn dazu, die folgenden Tage wieder das Bett zu hüten. Er war übernächtigt und von tiefen Depressionen erfüllt. Zu seiner großen Überraschung stellte er fest, dass tagsüber nicht auf dem Baugerüst gearbeitet wurde, obwohl sich der Sturm vorübergehend gelegt hatte. Auch als die Sonne sich zwischendurch kurz einmal zeigte, blieb es verwaist.
Mit pochendem Schädel schleppte er sich zur Wohnung des Hausmeisters hinunter, um dort von dessen Frau erfahren zu müssen, dass ihr Mann nicht da sei und sie auch nicht genau sagen könne, wann er wiederkäme. Nein, zum Baugerüst könne sie keine Auskunft geben.
„Rufen Sie doch mal bei der Hausverwaltung an“, empfahl sie Grabowski, wünschte ihm noch einen guten Tag und knallte die Tür zu. „Wer war das denn?“, vernahm er Lorenz' Stimme hinter der geschlossenen Tür. Der machte sich nicht mal die Mühe zu flüstern. „Das kleine blasse Arschloch aus dem vierten Stock“, antwortete seine Frau. „Macht immer noch so ein Affentheater wegen der Einrüstung. Typen gibt's!“
Benommen wankte Grabowski wieder benommen nach oben.
Klappern. Klirren. Scheppern. Durchdringendes Heulen. Schritte auf den Laufplanken, huschender Wahnsinn, oder etwa nicht? Zaghaft öffnete Grabowski das Fenster, auf alles gefasst. Ein eisiger Windstoß biss ihm ins Gesicht. Der Lärm schien von weiter unten zu kommen. Keine Chance, irgendwas zu sehen. Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit und versuchte die Geräusche irgendwie zu deuten. Seine Fantasie quälte ihn mit grässlichen Bildern. Betont langsam kletterte das Grauen zu ihm herauf. Hastig schloss Grabowski das Fenster und zog die Vorhänge zu, als böten sie einen zusätzlichen Schutz. Ruhelos wanderte der schmächtige Mann durch seine Wohnung, sah sich suchend um, ohne zu wissen, wonach er eigentlich suchte. In der Küche durchwühlte er die Schubladen, griff sich ein Messer und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Die Geräusche vor dem Fenster verstärkten sich. ES war wieder da. Und es kam näher, um ihn zu holen. Es lachte schrill, warf sich immer wieder wuchtig gegen die Scheibe. Das Glas ächzte unter dem Druck.
Grabowski beschloss, sich mit Beethovens 5. Sinfonie gegen die Mächte der Finsternis zur Wehr zu setzen. Vielleicht beruhigten ihn die vertrauten Klänge, vielleicht vertrieb die Genialität dieser Musik das Böse. Er hatte Mühe, die CD aus der Hülle zu bekommen und einzulegen, dann zog er den Lautstärkeregler bis zum Anschlag hoch und sogleich erbebte seine Wohnung. Grabowskis Sinne saugten sich begierig voll mit der kraftvollen Anfangssequenz, sein kleiner Körper zuckte freudig unter den gewaltigen Tönen. Unterdessen tobte draußen ein wild gewordener Drache und bäumte sich fauchend auf. Für diesen dramatischen Augenblick schien Beethoven die 5. Sinfonie extra komponiert zu haben. Grabowski stand mitten im Zimmer, im Zentrum der Hölle, fuchtelte mit dem Messer herum und brüllte die eigene Angst an.
„Wir haben dich!“, riefen die Stimmen. „Wir sind da, um dich zu holen! Du elendes Muttersöhnchen!“
Da warf sich Grabowski auf den Boden und verkroch sich wimmernd in einer Ecke. Trotz der lauten Musik hörte er sie. Sie waren schon in sein Schlafzimmer eingedrungen. Sie gaben sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Klauen packten ihn und zerrten ihn aus seiner Ecke hervor. Er wurde auf das Bett geschleudert. Das war also das Ende. So war es, wenn der Teufel sich ein vergeudetes Leben holte, eines, das nie richtig gelebt worden war. Dann erstarb die Musik.
„Was soll das hier werden, Sie Vollidiot?“, schnauzte Lorenz ihn an. „Sind Sie total übergeschnappt, die Musik hier derart laut zu stellen, und das weit nach Mitternacht? Und dann nicht mal aufmachen, wenn ich klingle und klopfe? Ich musste Ihre verdammte Tür aufbrechen, weil ich dachte, bei Ihnen wäre was passiert!“
Vorsichtig öffnete Grabowski die Augen. Lorenz packte ihn und riss ihn hoch. Seine Füße verloren den Kontakt zum Boden. Der Hausmeister stank nach Schweiß, Bier, Tabak und Sex. Ohne den Zigarrenstummel sah sein Gesicht fremd aus, fast so, als würde ihm die Nase fehlen.
„Helfen Sie mir“, flüsterte Grabowski verzweifelt. „Die Monster sind draußen auf dem Baugerüst. Sie versuchen, in meine Wohnung einzudringen!“
Lorenz ließ ihn wie einen Wäschesack fallen und stampfte zum Fenster. Er riss die Vorhänge auseinander und drückte das Fenster auf. Wild lachend lehnte er sich nach draußen. „Aber sicher!“, rief er aus. „Jetzt sehe ich es auch. Dracula ist da. Der ist mal kurz hierher geflattert, um sich so ein dämliches Arschloch wie Sie zu holen. Draußen ist gar nix, verstehen Sie? Nur ein scheiß Baugerüst, und sonst nix. Absolut nix. Sie gehören in eine Anstalt, das habe ich grad gestern zu meiner Frau gesagt. Und Sie haben sich heute einen verdammten Haufen Ärger eingebrockt, das ist schon mal sicher. Die Tür bezahlen Sie, und das wird teuer!“
Er stand vor dem offenen Fenster und starrte Grabowski an. „Und jetzt verpasse ich dir endlich die Abreibung, die schon lange fällig war. Meiner Frau immer ungeniert auf die Titten glotzen, denkst du, das hat sie nicht bemerkt, du kleiner Wichser?“ Wie ein wütender Bulle ging Lorenz auf Grabowski los, packte ihn und erstarrte in der Bewegung. Seine Augen weiteten sich. Schritt für Schritt wich er zurück. Ungläubig glotzte er erst Grabowski an und dann an sich herab. Das Messer steckte tief in seiner Wampe. Zunächst schien er nicht zu bluten. Nur ganz langsam begann sich sein Unterhemd rot zu färben. Lorenz knickte ein, ging wie ein angeschlagener Boxer auf die Knie. Er streckte die Arme hilflos nach vorn. Sein Mund öffnete sich, ohne dass er etwas sagte. Der Wind hatte sich wieder gelegt, das stählerne Monstrum draußen kam zu Ruhe. Nur die Vorhänge bewegten sich noch leicht, wie ermattete Flügel eines sterbenden Drachen.
Lorenz riss sich stöhnend das Messer aus dem Bauch und warf es zur Seite. Jetzt schoss das Blut aus der Wunde. Er versuchte es zu stoppen, indem er seine großen Hände auf den Einstich presste, aber es quoll ihm durch die Finger. Von seinem Bett aus betrachtete Grabowski fasziniert den verzweifelten Todeskampf des dicken Haumeisters.
„Rufen Sie doch einen Krankenwagen“, flehte Lorenz mit erstickter Stimme. „Bitte …“
Grabowski schüttelte leicht den Kopf. „Das Letzte was ich brauche ist jemand, der mir sagt, was ich zu tun habe“, sagte er störrisch.
Die Blutlache um Lorenz herum vergrößerte schnell.
„Es gibt keine Monster“, presste er mit letzter Kraft hervor. „Sie verdammter Idiot ...“
„Doch, es gib sie!“ Grabowski war ruhig und gefasst wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er erhob sich vom Bett und griff sich das blutverschmierte Messer vom Boden. Er warf einen letzten Blick auf den Hausmeister, dessen Augen schon glasig wurden. Im Flur lag der Vorschlaghammer, mit dem Lorenz die Wohnungstür aufgebrochen hatte. Grabowski nahm ihn an sich. Im Treppenhaus hörte er wieder die Stimmen, heimtückisches Flüstern und höhnisches Gelächter. Aber er hatte keine Angst mehr davor. Jetzt wusste er endlich, was zu tun war.