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Die Nachtigall
Im Auge der Nachtigall spiegelten sich die Menschen, die mit der Hoffnung auf Glück gekommen waren. Neben ihr auf der Bühne stand der Erfinder, lächelnd, mit erhobenen Händen, wie ein Zirkusdirektor vor seinem Publikum.
Als er sie im Wald aufgesucht hatte, sah er schon einmal in dieses dunkel glänzende Auge. Lange Zeit versuchte er, das Glück mit seinem Reichtum zu kaufen. Zuletzt suchte er die Nachtigall, von der es hieß, sie könne die Krankheiten der Menschen heilen.
Auch ihm hatte sie einen Moment des Glücks geschenkt: Sie sang von den wärmenden Strahlen der Sonne und den tosenden Wellen des endlosen Meeres, sie nahm ihn mit in die Tiefen der dunklen Wälder und auf die Höhen der entlegensten Gletscher. Kälte und Hitze, Regen und Dürre erfuhr er.
Überwältigt war er lange bei ihr im Wald geblieben, um ihrem Gesang zu lauschen und das Glück festzuhalten.
Seine Bitte, ihn in die Stadt zu begleiten, hatte sie jedoch abgelehnt. Den Wald wollte sie nicht verlassen. Daraufhin hatte er sie eingefangen und mitgenommen.
Nach seiner Rückkehr baute er eine große Voliere und lauschte ihr jeden Tag. Er lud Menschen ein, an ihrem Gesang teilzuhaben. Aber mit jedem Tag in der Voliere sang sie weniger, ihre Melodien veränderten sich. Ihre Töne fielen herab wie die Blätter eines Baumes.
Da überlegte er, wie er ihren Gesang dauerhaft festhalten könnte.
Jetzt, wo er sich am Ziel wähnte, stand er auf der Bühne und zeigte auf die Nachtigall, die in einem Käfig saß:
„Ihr alle kennt die Nachtigall, die ich herbeigerufen habe, um unsere Leiden zu lindern und unsere Seelen zu erheben. Wir alle sind ihr dankbar für das Glück, das sie uns gespendet hat.“
Seine Stimme wurde lauter, die Augen verengten sich. „Aber sie will nicht bei uns bleiben, sie will uns verlassen!“
Unmut und Bestürzung rollten herauf zu ihm.
„Da ihr mir aber am Herzen liegt, werde nun ich für euer Glück sorgen! Daher gebe ich euch diesen Vogel!“ Eine weitere Nachtigall, frei auf einer Stange sitzend, wurde auf die Bühne getragen. „Ich selbst habe diese Nachtigall konstruiert. Dieser Vogel wird uns niemals verlassen. Mit ihr schenke ich euch Freude, ich gebe euch Glück, ich gebe euch die Musik des Lebens!“
Sogleich begann seine Nachtigall zu singen. Sie erzählte von der wärmenden Sonne, die ihre Strahlen bis in die Herzen der Menschen sendet. Von einem weißen Strand, der fortwährende Freude und Glückseligkeit verheißt.
Der Erfinder blickte in die Masse der jubelnden Menschen unter sich, die mit ihren geöffneten Mündern und aufgerissenen Augen das Glück begehrten, das sein Automat ihnen versprach. Ihm versprachen sie Reichtum.
„Lass uns gleichzeitig die Nachtigall und ihre Nachbildung hören!“
„Wir wollen hören, wer schöner singen kann."
Als die Rufe in der Masse aufgenommen wurden und zwischen den Mündern umhersprangen, drehte sich der Erfinder zu der Nachtigall um. Ihr Blick lag auf ihm, das Auge dunkel wie das Innere eines Brunnens. Er zwang seine Mundwinkel zu einem Lächeln, als er sich zu der Menge umdrehte und die Arme hob. In die Stille hinein tönte lange nur das Glücksversprechen seines Automaten.
Leise, tastend erklang dann das Lied der Nachtigall: Zitternde Blätter, kahle Äste und kalte Tropfen aus grauen Wolken. Wind, der über Hügel jagt und sich heulend in kahlen Bäumen fängt. Fahler Mond über braunen Feldern.
Das Ende des Liedes war Stille. Die Menschen hatten sich an den Händen gefasst oder die Arme umeinandergeschlungen, ihre Mäntel zugeknöpft.
Nur das Duplikat verkündete unverdrossen Sonne und Glück. Der Erfinder griff nach ihm, aber es breitete seine Flügel aus und flog empor.
Der Blick des Erfinders glitt über die Menge.
Er hob wieder die Hände:
„Meine Schöpfung hat die Natur übertroffen! Wir wollen keine Erzählungen von Untergang und Verderben! Wir sehnen uns danach, das Glück zu finden, das uns zusteht!“
Die Menschen richteten sich an diesen Worten auf und jubelten ihm zu.
„Und damit jeder von euch diese Vollkommenheit genießen kann, kann auch jeder von euch eine meiner Nachtigallen erwerben! Kauft euer Glück!“
Unter ekstatischem Beifall wurde ein Vorhang aufgezogen, hinter dem tausende weitere Automaten sichtbar wurden.
Als jeder Mensch sein persönliches Glück mit sich genommen hatte und der Erfinder wieder allein war, sang die Nachtigall erneut.
Aus ihrem Schnabel tropfte schwarzer Tod. Ölig verbreitete er sich über den Boden und fiel zäh über den Rand der Bühne. Ihr schwarz wirbelndes Auge verfolgte, wie er auf die Knie fiel, sich krümmte. Zu ihrem Käfig kroch, ihn mit flackernden Augen herunterstieß.
In die Stille flüsterte er: „Nein, du stehst meinem Glück nicht im Weg.“
Er brachte die Nachtigall mit ihrem Käfig in einen fensterlosen Keller. „Hier ist der Ort für deine Lieder. Ich erlaube nicht, dass du meine Schöpfung bedrohst!“
Sein Vogel hatte unterdessen weitergesungen. Er saß auf dem Dach des Hauses. Auch andere Nachtigallen waren ihren Besitzern entkommen und sangen nun gemeinsam Tag und Nacht ihr Lied. Sie vereinigten sich zu einem wirbelnden, dunklen Schwarm über den Dächern der Stadt. Sie kreischten das Glück der Menschen heraus. Sonne und Meer tosten über den Köpfen der Menschen. Unablässig kreisten sie, tönten, hämmerten ihre Botschaft des Glücks. Die Sonnenstrahlen dörrten die Menschen, trockneten ihre Münder. Knochenbleicher Sand tropfte als Trank aus den Wolken.
Schwarz platzte die Haut des Erfinders unter den Flammen der Sonne. Die Menschen taumelten, fielen unter der rasenden Wolke der Vögel.
Der Erfinder wusste, dass nur die Nachtigall die Flamme, die er den Menschen gebracht hatte, löschen konnte. Er stieg hinab in den Keller. Stille empfing ihn, Dunkelheit und Kälte.
Im Licht der Taschenlampe sah er den braunen Körper der Nachtigall auf dem Boden des Käfigs liegen. Der Strahl glitt über das stumpfe, leblose Auge.