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Die Ohne-Mich-Kerze
Der Adventskranz war aus Tannenzweigen gebunden und trug vier dicke rote Kerzen. Am 1. Advent wurde die erste Kerze entzündet und als sie am Abend gelöscht wurde, dachte die vierte Kerze: ‚Das ist ja eigenartig. Die Eins sieht kleiner aus als heute Morgen.‘
Jeden Tag stellte Vier fest, dass die Eins immer kleiner wurde. Als dann am 2. Advent die Zwei auch noch entzündet wurde und langsam herunterbrannte, fasste Vier einen Entschluss: ‚Da mache ich nicht mit, Ich lasse mich nicht einfach verbrennen. Ich finde mich so vollständig, wie ich bin, richtig. Ich werde mich nicht anstecken und verbrennen lassen.‘
Vier verbrachte also die kommenden zwei Wochen damit, ihren Docht mit feuerfesten Stoffen, die sie aus den Tannenzweigen saugte, zu imprägnieren. Das erschien ihr am sinnvollsten. Sie hätte ja auch den Docht einziehen können. ‚Aber dann kommt bestimmt jemand auf die Idee mit einer spitzen Schere an meinem Kopf zu graben und meine schöne Gestalt zu zerstören.‘
Schließlich kam der vierte Advent. Ein Streichholz näherte sich dem Docht und Vier bangte ein wenig: ‚Hoffentlich haben meine Anstrengungen Erfolg.‘ Das Streichholz brannte aus, aber der Docht war so weiß wie zuvor. Drei weitere Streichhölzer waren nicht erfolgreicher und die Vier beglückwünschte sich schon zu ihrer guten Idee, als eine Hand erschien und sie vom Adventskranz abnahm. Dann landete sie in einer großen Kiste in einem stockfinsteren Schrank. Sehen konnte sie nichts, aber sie hatte das Gefühl auf einer anderen Kerze zu liegen.
„Ist hier jemand?“
„Ich bin Eins vom vergangenen Jahr.“
„Und wir sind die Kerzen von der Geburtstagstorte.“
„Ich bin die Osterkerze und liege hier fast so lange wie die Eins.“
„Und ihr habt es alle geschafft, nicht verbrannt zu werden?“
„Keineswegs. Wir sind alle nur Stummel. Und jetzt warten wir, dass Neues aus uns entsteht.“
„Was denn?“
„Das wissen wir auch nicht.“
„Nun, ich bin ja noch vollständig und schön. Aus mir braucht nichts Neues gemacht zu werden. Ich kann so wie ich bin als Dekoration auf dem Tisch oder im Regal stehen.“
Da meinte die Osterkerze: „Also ich weiß nicht, ob das gut ist. Im Schrank steht eine Taufkerze. Weil ich ja ein ganzes Jahr jeden Sonntag gebrannt habe, konnte ich mich mit ihr ab und an unterhalten, wenn die Tür mal offen war.“
Alle Kerzen fragten ganz aufgeregt: „Was hat sie denn erzählt?“
„Sie steht da seit zwanzig Jahren und ist nie angezündet worden. Sie ist auch noch nie aus dem Schrank geholt worden. Jetzt hat sie schon ordentlich Staub angesetzt und ihre Verzierungen verbiegen sich. An ihrem Fuß hat eine Maus genagt. Traurig ist sie aber, weil sie nicht zum Gedächtnis an die Taufe leuchten darf.“
Die Kerzen schwiegen und dachten daran, wie sie ihr Licht für bestimmte Anlässe hingegeben hatten. Nur Vier, die Ohne-Mich-Kerze, dachte bei sich: ‚Warum sollte ich mein Licht und mich selber verschenken?“
Einige Zeit später wurde die Kiste herausgeholt und die Kerzenstummel ausgekippt. „Jetzt werden wir die Reste einschmelzen und dann Geburtstagskerzen ziehen.“
Dem Jubel nach saßen mehrere Kinder am Tisch. Und dann wurde auch die Vier in einen Topf getaucht und während sie dahinschmolz, wurde ihr klar, dass nie jemand ihr Licht sehen würde. Sie würde dunkel bleiben und auch kein Licht in die Dunkelheit bringen.
„Ich habe mein Leben verpatzt.“ Das war ihr letzter Gedanke.