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Die ovidische Ratte
Es ist ein Traum. Das alte Rom. Brutal und ästhetisch, intellektuell und bestialisch. Die Brücke zur Antike, in meinen Träumen kann ich sie gehen, wenn der innere Projektor läuft, und Neonröhren zu Fackeln, Betonbauten zu Marmorpalästen und Kritzeleien auf Papier zu Kunstwerken auf Papyrus werden. Heute Nacht habe ich in einer Legion gekämpft, gegen Germanen, Menschen wie Berserker. Bewaffnet mit einem Buch, mit den Metamorphosen des Ovid. Die Streitäxte schlugen auf mich ein, es hielt stand. Fäuste und Krallen gegen mich, es hielt stand. Dann mein Cäsar, auf dem Ross neben mir thronend. „Die Vergangenheit schützt uns nicht mehr lange, mein junger Krieger!“ Kaiser Augustus hat den Glauben verloren, flüstern die Mauern von Rom. Und sie werden es bald schreien, dass selbst Seneca es hört. Wer in einem Tier wie dem Nashorn, ausgezeichnet durch Stärke und Überlegenheit, die Trägheit zu schätzen weiß, der sollte kein Weltreich regieren. Reicht mir den Federkiel!
Ich breche neben das Bett, neben den Ovid, zerhackt, zerfleddert, antik. Mir ist unwohl. Als hätte ich nicht gegessen, als würde ich verhungern, verdursten, austrocknen, mich von der Welt entfernen oder von ihr verschluckt werden. Letzteres empfände ich als fürchterlicher, Teil dieser Welt sein zu müssen. Feuchtgebiete statt De brevitate vitae, Bayern gegen Gladbach statt Gladiatoren um Leben und Tod, McDonalds statt Brot und Fisch, Internetviren statt Pest. Unter Bauchkrämpfen krieche ich aus dem Bett. Ein paar Sätze aus den Metamorphosen bis ins Bad. Es geht, ich kann aufrecht stehen, mich frisch machen. Ich muss in die Bibliothek. Nichts Lesbares ist mehr da. In einem animalischen Rausch habe ich die Bücher der Antike zerlesen, verspeist, dann geschlafen und geträumt, gereist und genossen. Mehrere Tage muss ich geschlafen, im alten Rom gelebt haben, als Dichter, als Fischer, als Krieger und als Leprakranker, Gladiator und Aristokrat. Ich habe ihn gesehen, den Mann mit dem Kreuz, den Tischler, er ist einer unter vielen. Kleopatra hat mir die Liebe des Leibes gezeigt, ich war Kratylos und habe mit Aristoteles, meinem Meister diskutiert, mit Alexander dem Großen Welten erobert und okkupiert. Viel weiter zurück träumte ich, in die tiefste Antike, bis hin zu Nebukadnezar, aber nie, niemals hab ich es geschafft, mein Geschichtsbewusstsein zu verlieren. Immer war und blieb ich zu Gast, verhielt mich anders, sprach anders, reagierte anders, so wie ich es auch in der Gegenwart gewohnt bin. Ich muss in die Bibliothek, ich muss alles wissen, es dürfen keine Lücken bleiben. Die Sprache, die Sprachen, ich muss sie beherrschen und die meine vergessen. Nicht die Natur soll mich beschreiben, nicht der Zufall mein Leben erzählen, Ovid soll es sein, der mich dichtet! Wie elendig und widerlich ist es, zu verwesen, zu verhässlichen, wie Recht hast du, Publius Ovidius Naso. Lieber will ich versteinern. Die Art meines Todes soll meine Eigenschaften, meine Passion beleuchten, noch Jahrzehnte nach mir, noch für Psychologen in der Zukunft. Genauso widerlich ist es, Fleisch zu essen, denn man verspeist sich nur selbst. Danke, Pythagoras. Wenn ich an dich denke, denke ich nicht an Dreiecke. Viel höhere Weisheiten hast du uns gegeben. Fahr mit mir über die Meere und halte die Wellen ruhig, wie du selbst es bist, also auch alles, was du siehst, denn du bist alles und ich bin du, bald bin ich bei dir.
In der Straßenbahn schlagen Gespräche auf mich ein, Gesten und Parfüm gegen mich. Doch ich habe dieses Meisterwerk, die Metamorphosen. Die Leute reden als würde es schmerzen, quaken als würde es ihnen weh tun, kurz und knapp wie das Leben, das aus ihnen gähnt und in ihnen schwer, wie ein Sack voll Sand getragen werden will. So sitzen sie auf ihrem Blatt, leben von dem, was vorbeifliegt, bequemen sich nur ab und an einmal dazu, einen Sprung zu tätigen, um sich dann wieder ausruhen zu können, auf ihrem Blatt, in ihrem Tümpel, den sie nicht verlassen. Wir rattern in einen Tunnel. Es wird dunkel, das Licht fällt aus.
Hört ihr die Frösche quaken?
Mein Leib, dieses wertlose Stück Gegenwart, will gefüttert, genährt werden, ähnlich wie mein Geist. Also nage ich an einem Baguette mit Oliven und Tomaten, dem Gemüse meiner Heimat. Dann verschwinde ich in den zahllosen Reihen der Bibliothek. Ein Gruß an Kafka und die Verwandlung, vorbei an der Klassik, ich spucke auf Goethe, vorbei an der Literatur, die einen Krieg nötig hat, um eine zu sein, hin zu der Welt, in die ich gehöre. Die Zeit ist vergessen in den Katakomben. Ich denke lateinisch, nage an der Geschichte, inhaliere den Gestank Roms, krieche durch die Gänge auf der Suche nach Informationen. Die Bücher werden immer älter, immer größer. Die Finger reichen nicht mehr zum Blättern, ich benötige die ganze Hand, unbeholfen, auch die Füße, kürzer, genauso kurz wie die Ärmchen. Ich laufe über die Seiten, stupse gegen Buchrücken, beiße in Goldränder. Ich kann die Decke nicht mehr sehen, die Regale ragen bis ins Unendliche, der Abstand zwischen ihnen wächst, das nächste Regal scheint zahllose Schritte entfernt. Ich drücke mich an die Wand, die unterste Kante wie mir scheint, und krieche an ihr entlang, immer dem fauligen, modrigen Geruch nach. Mit der Seite die Wand berühren, so behalte ich die Orientierung. Doch jetzt muss ich über ein freies Feld. Ganz schnell durch einen Bruch in der Wand, ein Rohr, der Boden wird glatter, dann bin ich außerhalb des Gebäudes, keine Wand zur Orientierung mehr.
„Naso, da ist diese Ratte wieder!“, höre ich jemanden sagen.