- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 6
Die Pubertät
Die Pubertät
Es verläuft bei jedem völlig anders: manche verschließen sich in ihrem Zimmer und bauen ein Kolloseum aus Kaugummis, andere randalieren in der Schule, andere wieder stehen eine Stunde früher auf, um sich das Gesicht zuzukleistern und so viele pinke Sachen anzuziehen, wie nur möglich, andere setzen sich anschaulich für Vegetarismus und Tierschutz ein und reißen einem den Hamburger aus der Hand und halten dir dann eine Standpauke, andere sitzen tagelang vor dem Computer und chatten und ballern auf das bemitleidenswerte Moorhuhn, andere werden zum Punk und kaufen sich für 140 Euro viel zu große Springerstiefel bei eBay und tauchen eines Nachts heulend bei einem auf, weil ihre Mutter ihre Ratte ins Klo geworfen und dann abgespült hat, einige denken, sie wären Spiderman und müssten die Welt vor dem Bösen retten, zum Beispiel vor Mathearbeiten und täuschen deshalb einen Epileptikeranfall vor, andere brechen in das Auto ihrer Eltern ein, machen damit eine Spritztour durch das Maisfeld und parken anschließend in einem Supermarkt ...
Die Pubertät...
Ich konnte so ausführlich berichten, da dies alles, wirklich alles auf Tatsachen beruht. Diese Geschichten hörte ich alle nacheinander von Freunden und Bekannten: Lotte hämmerte um zwei Uhr nachts mit ihrem neuen Nasenring an meiner Tür, und wegen Laura durfte ich zwei Monate lang kein Fleisch in ihrer Gegenwart essen, ich durfte mit Julia und ihren Eltern ein neues Auto aussuchen, ich kenne dank Sebastian beide Spiderman-Filme auswendig.
Doch ich habe die Arschkarte gezogen. Ich bin gefühlvoll und sensibel wie nie.
Ich lese bis tief in die Nacht, gehe früh morgens mit Tapsy spazieren, stehe ewig vorm Tiefkühlregal und entscheide, welchen Jogurt ich nehmen soll, liebe Locken und Lipgloss, denke über den Sinn des Lebens nach, schau mir „Sofies Welt“ an und heule beim achten Mal genauso wie beim ersten, erschrecke mich über das Schellen des Telefons und Klingeln an der Tür, besuche regelmäßig meine Oma und lasse mir Geschichten von früher erzählen, höre Mariah Carey zum Einschlafen, summe Lovesongs im Physikunterricht,
ich trinke ausschließlich Latte Macciatto mit extra viel Zucker, schlendere stundenlang durch die Passagen und kaufe schließlich ein Rüschentop und einen Strauß Tulpen, flippe aus, wenn keine Blumen in meinem Zimmer stehen, trage ausschließlich pinke Socken, verkrieche mich gern in der Bibliothek und versuche zu zeichnen.
Nein, ich bin nicht verliebt!
Na und, ist doch völlig normal, würde man nun sagen. Nicht bei mir!
Bei „Titanic“ weinte ich, weil all die schönen Teller kaputtgehen. Ich verachtete Leute, die pinke Sachen trugen. Ich hörte ausschließlich WIZO, The Sex Pistols und KoRn. Das einzige, was ich las, war das Mathematikbuch und etliche Bestseller von Stephen King, wie „The Body“. Ich blickte meine Freundinnen angewidert im Kino an, als sie alle im Chor anfingen zu schluchzen und ihre Taschentücher zückten. Man fand mich öfters mit den Jungs Fußball spielen, als bei einer Pyjamaparty mit einer Gurkenmaske im Gesicht. Ich saß mit meinen Papa wie gebannt vorm Fernseher und fieberte mit bei der EM.
So gut wie jeder ist über meine Verwandlung mehr oder weniger entzückt. Meine Mutter erklärt ihren dauergewellten Freundinnen am Telefon, ich werde jetzt eine Frau. Meine Freunde, von denen nun nur noch Freundinnen geblieben sind, schleppen mich zu endlosen Shoppingtouren und auf Pyjamapartys bin ich nun Stammgast. Meine Oma hat endlich jemanden, der etwas über ihre erste Liebe Gregor hören möchte und der ihre steinharten Schockkekse mag. Die Nachbarn freuen sich unglaublich über die Abwesenheit der zarten Klänge von KorN. Meine achtjährige Schwester freut sich wahnsinnig auf die rosa Klamotten, die sie später mal von mir erben wird. Die Lehrer sind verblüfft, wie friedlich ich geworden bin und meine Mitschüler nicht mehr mir dem Feuerlöscher bedrohe.
Alles in Einem habe ich mich unbegreiflich verändert. Das ist klar. Und ich weiß nicht, ob ich die alte Hannah zurückhaben will. Es ist doch ganz schön, so wie es jetzt ist. Ich bin ein Mädchen! Ja, das bin ich. Und ich sollte mich auch so benehmen. Jawohl, ich sollte rosa mögen und ja, ich sollte bei Liebesfilmen heulen und ja, ich sollte Einkaufen lieben und ja, ich sollte Mariah Carey hören ...
Oder nicht? Ich meine, dies ist doch normal oder? Manchmal vermisse ich es doch nach dem Fußballtraining verschwitzt, dreckig und k.o. nach Hause zu kommen und eine volle Flasche Cola auf einmal zu tanken.
Einmal hörte ich meinen Papa meine Mutter fragen :
„ Lara... das geht doch vorbei, oder?...“
Ich war empört! Was soll vorbei gehen? Es ist doch keine Krankheit, keine Bronchitis, die man mit Antibiotika behandeln muss. Und wenn doch, dann wie sieht dann so eine Antibiotika aus? Zwei Karten zum nächsten Fußballspiel und die neue Platte von SlipKnot?
Nein, das sicher nicht!
Ich fürchte, ich habe keine andere Wahl, als einfach nur anzuwarten. Warten. Oh ja, warten, was als nächstes mit mir geschieht. Vielleicht stürme ich nackt mitten in ein wichtiges Fußballspiel, wer weiß? Vielleicht werde ich ja auch Chef-Redakteur bei BRAVO.
Jedenfalls werde ich davon berichten, denn es macht einen unbeschreiblich frei, wenn man über sich selbst schreibt.