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Die Putzteufelin
Die Putzteufelin
Ich war elf Jahre alt, im Herbst vor Tschernobyl, als die Putzteufelin in unser Haus zog. Das Appartment im Erdgeschoss lag neben der Toreinfahrt zum Garagenhof. Ein Zimmer mit Küche und Duschbad. Es stand schon lange leer.
Ich wohnte in der zweiten Etage, Ulla in der dritten und der dicke Heiner in der ersten. Ulla war meine beste Freundin. Sie teilte ihr Kinderzimmer nicht mit einem kleinen Bruder, wie Heiner und ich, deshalb spielten wir meist bei ihr. Unsere Mütter trafen sich zu ihren ‚Frauenrunden’, tranken Kaffee, aßen den reihum gebackenen Kuchen und erzählten sich Geschichten aus der Nachbarschaft oder von uns Kindern. Ullas Mutter hatte das lauteste Lachen. Sie rauchte HB, und sobald sie weg war, riss meine Mutter alle Fenster auf und versprühte Mandarinenspray. Wenn sie dabei einen Schlager trällerte, hatte Heiners Mutter Kirschlikör mitgebracht, davon wurde Mama immer lustig. Es ging friedlich und harmonisch zu in unserem Haus, bis die Putzteufelin einzog.
„Eine Heimlichtuerin“, wie Ullas Mutter gleich erkannte. Der Einzug muss an einem Wochenende stattgefunden haben, unbemerkt von uns allen. Montags stand plötzlich ein Name an dem leeren Klingelschild. Auf einen sorgfältig abgeschnittenen Zettel mit Kuli geschrieben. Unsere Mütter warteten darauf, dass Frau K. sich vorstellte, doch nichts dergleichen geschah. Es dauerte fast eine Woche, bis wir sie überhaupt zu Gesicht bekamen, obwohl wir sicher waren, dass sie jeden Tag den Flur im Erdgeschoss putzte. Es roch bis oben nach Zitrone und der silberne Knauf an der Haustür war auf Hochglanz poliert. Als unsere Väter das anerkennend erwähnten, ernteten sie bissige Bemerkungen von unseren Müttern.
Freitags sahen wir sie dann endlich. Ulla, Heiner und ich stürmten die Treppe hinunter und wären beinahe übereinander gefallen, so plötzlich stoppten wir auf dem letzten Absatz. Ich weiß noch genau, dass ich damals voller Verblüffung dachte: eine Hexe, genau so muss eine Hexe aussehen. Wir starrten auf den Rücken einer kleinen gekrümmten Frau, die in einer sackartigen Strickjacke steckte. Ein bodenlanger Rock hing bis auf die ausgetretenen Filzpantoffel. Sie stand mit dem Gesicht zur gekachelten Wand. Alles an der kleinen Frau war grau, selbst der unordentliche Haarknoten, aus dem sich eine Strähne gelöst hatte, die nun auf der verfilzten Jacke tanzte. Wahrscheinlich hätten wir uns nicht gewundert, wäre dieses Wesen vor unseren Augen zu Staub zerfallen. Wir schauten uns an und Heiner zeigte stumm auf Frau K., dann tippte er gegen seine Stirn und verdrehte die Augen. Ulla hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Lachanfall zu unterdrücken. Natürlich hat Frau K. uns gehört, sie drehte sich aber nicht um. Keiner von uns erkannte, was sie dort machte. Schließlich drückten wir uns an ihr vorbei und sahen, dass sie einen dünnen Lappen um den rechten Zeigefinger gewickelt hatte, mit dem sie die Fugen der maisgelben Kacheln im Erdgeschoss bearbeitete. Offensichtlich wollte sie sich von links nach rechts vorarbeiten, bis zu den Briefkästen. Den Laugeneimer neben sich schob sie vorsichtig mit dem Fuß weiter und tauchte den Finger immer wieder hinein. Frau K. überhörte unseren verlegenen Gruß und fuhr konzentriert fort. Sicher hatte sie Angst, eine Fuge zu übersehen.
Auf der Strasse schütteten wir uns aus vor Lachen, Ulla hielt sich den Bauch, Heiner ahmte die ruckenden Bewegungen nach und machte dazu ein quietschendes Geräusch. Wir kreischten, bis uns die Luft ausging.
Am nächsten Tag erzählte Ullas Mutter meiner Mutter, dass Frau K. bis zum Einzug in unser Haus im Norden der Stadt gewohnt hat. Die Schwägerin von Ullas Mutter kannte dort eine ehemalige Nachbarin von Frau K., die ihr schon vor langer Zeit im Vertrauen gesagt hatte, dass Frau K. nicht ganz richtig im Oberstübchen wäre. Von dieser Nachbarin wusste ihre Schwägerin auch, dass der einzige Sohn von Frau K. mit drei Jahren an Blutvergiftung gestorben war. Angeblich verstarb der Ehemann ein Jahr später ebenfalls, doch man munkelte, dass er in Wahrheit bei Nacht und Nebel verschwunden sei, weil er es bei seiner griesgrämigen, putzwütigen Frau einfach nicht mehr ausgehalten habe. Durchaus glaubhaft, fand Ullas Mutter. Meine Mutter nickte ebenfalls, kaute dabei nervös an ihrer Unterlippe.
Wir bekamen rasch heraus, dass Frau K. wirklich jeden Tag die Treppe putzte, jeden Montag ihre zwei Fenster, täglich Staub saugte und jeden Freitag die Fugen im Hausflur mit dem Lappen bearbeitete. Ullas Mutter nannte sie bald nur noch ‚Putzteufelin’. Frau K. sprach mit niemandem im Haus. Als meine Mutter bei ihr klingelte, um sie über die Müllabfuhrtermine zu informieren, nickte Frau K. kurz durch den Türspalt und schloss sich gleich darauf wieder ein. Meine Mutter stand verdattert im Hausflur.
Heiners Mutter fiel auf, dass die Putzteufelin kaum aus dem Haus ging; aus ihrer Wohnung drang nie ein Geräusch. Keine Radiomusik, kein Fernsehgeplapper. Meine Güte, was trieb sie denn den ganzen Tag?
Ullas Mutter fand Frau K. komplett verrückt, „… eigentlich gehört die doch nicht in ein normales Mietshaus! Hat man nicht schon oft gehört, dass solche Leute plötzlich Blutbäder anrichten, nachdem sie jahrelang unauffällig vor sich hin gelebt haben? Bekommt sie wenigstens mal Besuch? Nein? Na bitte!“
Wir Kinder lechzten nach Geschichten über die Putzteufelin. An langen Winternachmittagen dachten wir uns selbst welche aus. Wir sahen sie als Einsiedlerin in einem Wald harmlose Wanderer meucheln, oder als Bettlerin an einer Straßenecke Münzen in ihre Strickjacke stecken. Gerne trugen wir besonders viel Dreck und Schneematsch ins Haus, weil sie dann mehrmals am Tag die Treppe putzte. Sie tat dies ohne Murren, wir hatten den Verdacht, ihr vielleicht noch einen Gefallen zu tun.
Den ganzen Winter überlegten wir immer wieder, welchen Streich wir der Putzteufelin spielen könnten. Heute weiß ich nicht mehr genau, warum wir das überhaupt wollten, doch ich denke, es ging darum, endlich ihre Stimme zu hören. Niemand kannte ihre Stimme. Wir wollten sie schimpfen hören, sie sollte wütend werden, außer sich sein und rot anlaufen; diese kleine graue Vogelscheuche! Wir wollten wissen, ob sie überhaupt ein menschliches Wesen war. Es musste also ein ganz gerissener Streich sein, so viel war klar.
Also hockten wir beieinander, schmiedeten und verwarfen unzählige Pläne, unternahmen aber nichts. Aus Angst? Weil sie vielleicht wirklich eine Hexe war? Ich weiß es heute nicht mehr.
Im nächsten Frühjahr passierte der Reaktorunfall in Tschernobyl. Unsere Mütter regten sich drei Wochen lang auf, gaben uns keine Milch zu trinken, wuschen das Obst unter heißem Wasser ab und ließen uns nicht auf den Spielplatz.
Ullas Mutter erzählte, dass Frau K. nur noch Konserven in ihrem Korb hatte, wenn sie abends, kurz vor Ladenschluss, vom Supermarkt gehuscht kam. Seit Tschernobyl trug die Putzteufelin jeden Tag ein graues Kopftuch und putzte die Treppe morgens und abends. Es roch nicht mehr nach Zitronen, sondern beißend nach Salmiak. Heiners Mutter beschwor, dass die ‚Durchgedrehte’ beim Putzen stöhnte, wenn sie mit aller Kraft auf den Schrubberstiel drückte.
„Sie hat immer noch Angst vor Radioaktivität, die Verrückte“, sagte Ullas Mutter und blies Rauchkringel in die Luft. Vielleicht war es die Tatsache, dass unsere Mütter sich jetzt jeden Tag über Frau K. lustig machten, sie offiziell zu einer ‚Bekloppten’ erklärten, die unsere Skrupel beseitigte. Außerdem gingen wir längst wieder auf den Spielplatz, tranken Milch und dachten kaum noch an Tschernobyl. Einen Tag später beschlossen wir, am Freitag, in aller Frühe, Rübenkraut in die Fugen der Hausflurkacheln zu schmieren. Mit Ohrenstäbchen gingen wir ans Werk, versteckten das Krautglas hinter den Mülltonnen und rannten hechelnd zur Schule. Den ganzen Vormittag zappelten wir ungeduldig in unseren Bänken und überlegten, was uns wohl bei unserer Rückkehr zuhause erwarten mochte. Was würde sie machen, die Verrückte, die Durchgeknallte? Hoffentlich verpassten wir nicht das Beste!
Ulla ging zuerst ins Haus. Alles war still. Das Rübenkraut verströmte einen süßmuffigen Geruch und klebte unverändert in den Fugen. Wir horchten an Frau K.’s Tür. Nichts. Uns wurde unbehaglich, denn ihre Fußmatte war bis in die Flurmitte verschoben. Das war ein untrügliches Alarmsignal. Wir schlichen stumm die Treppe hinauf, eine seltsame Beklemmung lag in der Luft, und jeder verschwand in seiner Wohnung.
Mama wartete in der Diele. Sie sparte sich jegliche Einleitung.
„Ullas Mutter hat den Krankenwagen gerufen. Wir mussten sie wegbringen lassen. Ich habe sie heute morgen weinend im Hausflur gefunden; wir konnten sie nicht beruhigen.“
Mehr sagte meine Mutter nicht, biss auf ihrer Unterlippe herum und verschwand in der Küche. Kurz darauf klingelte Ulla. Sie zeigte stumm auf den Eimer mit Seifenlauge, der am Treppenabsatz stand. Heiner brachte drei riesige Schwämme mit.
Frau K. kam nicht zurück. Unsere Mütter bedachten uns noch einige Zeit mit vorwurfsvollen Blicken, ihr Lachen kam mir verhaltener vor und sie redeten nie mehr von der Putzteufelin. Im Laufe der Jahre vergaß ich die Geschichte fast, ab und zu träume ich von gekachelten Kellergängen, doch das mag durchaus andere Gründe haben. Schließlich bin ich Krankenschwester.
Gestern kam ich zum Spätdienst auf die Station und erkannte sie sofort. Sie stand vor der Sichtscheibe unseres Schwesternzimmers und polierte sorgfältig mit kleinen, kreisrunden Bewegungen das Glas. Eine Kollegin kam gerade um die Ecke und sagte mit betonter Munterkeit: „Das machen Sie aber schön, Frau K.! Wie das glänzt!“
Frau K. reagierte nicht. Sie wirkte noch kleiner, noch gebückter als damals, so, als wolle sie bald im Boden verschwinden. Meine Knie wackelten, als ich langsam auf sie zuging. Ich erkannte den ernsthaften, verschlossenen Ausdruck und die Ergebenheit in ihrem Gesicht wieder. Vorsichtig umfasste ich ihren Ellbogen und sagte leise ihren Namen. Ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln traf mich, dann zog sie ihren Arm weg und machte einen Schritt nach rechts, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Ich seufzte und ging ins Schwesternzimmer.
Zwei Stunden später kam meine Kollegin aufgebracht zu mir.
„Komm sofort mit und schau dir die Sauerei an, die Frau K. in der Patiententoilette fabriziert hat! Ich habe wirklich keine Lust mehr, immer die verwirrten Alten aus dem Heim aufpäppeln zu müssen.“
Ich ging hin, betrachtete lange die kotverschmierten Fugen zwischen den weißen Kacheln. Sie hatte Ohrenstäbchen benutzt.