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Die Putzteufelin

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04.04.2008
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Die Putzteufelin

Die Putzteufelin

Ich war elf Jahre alt, im Herbst vor Tschernobyl, als die Putzteufelin in unser Haus zog. Das Appartment im Erdgeschoss lag neben der Toreinfahrt zum Garagenhof. Ein Zimmer mit Küche und Duschbad. Es stand schon lange leer.
Ich wohnte in der zweiten Etage, Ulla in der dritten und der dicke Heiner in der ersten. Ulla war meine beste Freundin. Sie teilte ihr Kinderzimmer nicht mit einem kleinen Bruder, wie Heiner und ich, deshalb spielten wir meist bei ihr. Unsere Mütter trafen sich zu ihren ‚Frauenrunden’, tranken Kaffee, aßen den reihum gebackenen Kuchen und erzählten sich Geschichten aus der Nachbarschaft oder von uns Kindern. Ullas Mutter hatte das lauteste Lachen. Sie rauchte HB, und sobald sie weg war, riss meine Mutter alle Fenster auf und versprühte Mandarinenspray. Wenn sie dabei einen Schlager trällerte, hatte Heiners Mutter Kirschlikör mitgebracht, davon wurde Mama immer lustig. Es ging friedlich und harmonisch zu in unserem Haus, bis die Putzteufelin einzog.
„Eine Heimlichtuerin“, wie Ullas Mutter gleich erkannte. Der Einzug muss an einem Wochenende stattgefunden haben, unbemerkt von uns allen. Montags stand plötzlich ein Name an dem leeren Klingelschild. Auf einen sorgfältig abgeschnittenen Zettel mit Kuli geschrieben. Unsere Mütter warteten darauf, dass Frau K. sich vorstellte, doch nichts dergleichen geschah. Es dauerte fast eine Woche, bis wir sie überhaupt zu Gesicht bekamen, obwohl wir sicher waren, dass sie jeden Tag den Flur im Erdgeschoss putzte. Es roch bis oben nach Zitrone und der silberne Knauf an der Haustür war auf Hochglanz poliert. Als unsere Väter das anerkennend erwähnten, ernteten sie bissige Bemerkungen von unseren Müttern.
Freitags sahen wir sie dann endlich. Ulla, Heiner und ich stürmten die Treppe hinunter und wären beinahe übereinander gefallen, so plötzlich stoppten wir auf dem letzten Absatz. Ich weiß noch genau, dass ich damals voller Verblüffung dachte: eine Hexe, genau so muss eine Hexe aussehen. Wir starrten auf den Rücken einer kleinen gekrümmten Frau, die in einer sackartigen Strickjacke steckte. Ein bodenlanger Rock hing bis auf die ausgetretenen Filzpantoffel. Sie stand mit dem Gesicht zur gekachelten Wand. Alles an der kleinen Frau war grau, selbst der unordentliche Haarknoten, aus dem sich eine Strähne gelöst hatte, die nun auf der verfilzten Jacke tanzte. Wahrscheinlich hätten wir uns nicht gewundert, wäre dieses Wesen vor unseren Augen zu Staub zerfallen. Wir schauten uns an und Heiner zeigte stumm auf Frau K., dann tippte er gegen seine Stirn und verdrehte die Augen. Ulla hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Lachanfall zu unterdrücken. Natürlich hat Frau K. uns gehört, sie drehte sich aber nicht um. Keiner von uns erkannte, was sie dort machte. Schließlich drückten wir uns an ihr vorbei und sahen, dass sie einen dünnen Lappen um den rechten Zeigefinger gewickelt hatte, mit dem sie die Fugen der maisgelben Kacheln im Erdgeschoss bearbeitete. Offensichtlich wollte sie sich von links nach rechts vorarbeiten, bis zu den Briefkästen. Den Laugeneimer neben sich schob sie vorsichtig mit dem Fuß weiter und tauchte den Finger immer wieder hinein. Frau K. überhörte unseren verlegenen Gruß und fuhr konzentriert fort. Sicher hatte sie Angst, eine Fuge zu übersehen.
Auf der Strasse schütteten wir uns aus vor Lachen, Ulla hielt sich den Bauch, Heiner ahmte die ruckenden Bewegungen nach und machte dazu ein quietschendes Geräusch. Wir kreischten, bis uns die Luft ausging.
Am nächsten Tag erzählte Ullas Mutter meiner Mutter, dass Frau K. bis zum Einzug in unser Haus im Norden der Stadt gewohnt hat. Die Schwägerin von Ullas Mutter kannte dort eine ehemalige Nachbarin von Frau K., die ihr schon vor langer Zeit im Vertrauen gesagt hatte, dass Frau K. nicht ganz richtig im Oberstübchen wäre. Von dieser Nachbarin wusste ihre Schwägerin auch, dass der einzige Sohn von Frau K. mit drei Jahren an Blutvergiftung gestorben war. Angeblich verstarb der Ehemann ein Jahr später ebenfalls, doch man munkelte, dass er in Wahrheit bei Nacht und Nebel verschwunden sei, weil er es bei seiner griesgrämigen, putzwütigen Frau einfach nicht mehr ausgehalten habe. Durchaus glaubhaft, fand Ullas Mutter. Meine Mutter nickte ebenfalls, kaute dabei nervös an ihrer Unterlippe.
Wir bekamen rasch heraus, dass Frau K. wirklich jeden Tag die Treppe putzte, jeden Montag ihre zwei Fenster, täglich Staub saugte und jeden Freitag die Fugen im Hausflur mit dem Lappen bearbeitete. Ullas Mutter nannte sie bald nur noch ‚Putzteufelin’. Frau K. sprach mit niemandem im Haus. Als meine Mutter bei ihr klingelte, um sie über die Müllabfuhrtermine zu informieren, nickte Frau K. kurz durch den Türspalt und schloss sich gleich darauf wieder ein. Meine Mutter stand verdattert im Hausflur.
Heiners Mutter fiel auf, dass die Putzteufelin kaum aus dem Haus ging; aus ihrer Wohnung drang nie ein Geräusch. Keine Radiomusik, kein Fernsehgeplapper. Meine Güte, was trieb sie denn den ganzen Tag?
Ullas Mutter fand Frau K. komplett verrückt, „… eigentlich gehört die doch nicht in ein normales Mietshaus! Hat man nicht schon oft gehört, dass solche Leute plötzlich Blutbäder anrichten, nachdem sie jahrelang unauffällig vor sich hin gelebt haben? Bekommt sie wenigstens mal Besuch? Nein? Na bitte!“
Wir Kinder lechzten nach Geschichten über die Putzteufelin. An langen Winternachmittagen dachten wir uns selbst welche aus. Wir sahen sie als Einsiedlerin in einem Wald harmlose Wanderer meucheln, oder als Bettlerin an einer Straßenecke Münzen in ihre Strickjacke stecken. Gerne trugen wir besonders viel Dreck und Schneematsch ins Haus, weil sie dann mehrmals am Tag die Treppe putzte. Sie tat dies ohne Murren, wir hatten den Verdacht, ihr vielleicht noch einen Gefallen zu tun.
Den ganzen Winter überlegten wir immer wieder, welchen Streich wir der Putzteufelin spielen könnten. Heute weiß ich nicht mehr genau, warum wir das überhaupt wollten, doch ich denke, es ging darum, endlich ihre Stimme zu hören. Niemand kannte ihre Stimme. Wir wollten sie schimpfen hören, sie sollte wütend werden, außer sich sein und rot anlaufen; diese kleine graue Vogelscheuche! Wir wollten wissen, ob sie überhaupt ein menschliches Wesen war. Es musste also ein ganz gerissener Streich sein, so viel war klar.
Also hockten wir beieinander, schmiedeten und verwarfen unzählige Pläne, unternahmen aber nichts. Aus Angst? Weil sie vielleicht wirklich eine Hexe war? Ich weiß es heute nicht mehr.
Im nächsten Frühjahr passierte der Reaktorunfall in Tschernobyl. Unsere Mütter regten sich drei Wochen lang auf, gaben uns keine Milch zu trinken, wuschen das Obst unter heißem Wasser ab und ließen uns nicht auf den Spielplatz.
Ullas Mutter erzählte, dass Frau K. nur noch Konserven in ihrem Korb hatte, wenn sie abends, kurz vor Ladenschluss, vom Supermarkt gehuscht kam. Seit Tschernobyl trug die Putzteufelin jeden Tag ein graues Kopftuch und putzte die Treppe morgens und abends. Es roch nicht mehr nach Zitronen, sondern beißend nach Salmiak. Heiners Mutter beschwor, dass die ‚Durchgedrehte’ beim Putzen stöhnte, wenn sie mit aller Kraft auf den Schrubberstiel drückte.
„Sie hat immer noch Angst vor Radioaktivität, die Verrückte“, sagte Ullas Mutter und blies Rauchkringel in die Luft. Vielleicht war es die Tatsache, dass unsere Mütter sich jetzt jeden Tag über Frau K. lustig machten, sie offiziell zu einer ‚Bekloppten’ erklärten, die unsere Skrupel beseitigte. Außerdem gingen wir längst wieder auf den Spielplatz, tranken Milch und dachten kaum noch an Tschernobyl. Einen Tag später beschlossen wir, am Freitag, in aller Frühe, Rübenkraut in die Fugen der Hausflurkacheln zu schmieren. Mit Ohrenstäbchen gingen wir ans Werk, versteckten das Krautglas hinter den Mülltonnen und rannten hechelnd zur Schule. Den ganzen Vormittag zappelten wir ungeduldig in unseren Bänken und überlegten, was uns wohl bei unserer Rückkehr zuhause erwarten mochte. Was würde sie machen, die Verrückte, die Durchgeknallte? Hoffentlich verpassten wir nicht das Beste!
Ulla ging zuerst ins Haus. Alles war still. Das Rübenkraut verströmte einen süßmuffigen Geruch und klebte unverändert in den Fugen. Wir horchten an Frau K.’s Tür. Nichts. Uns wurde unbehaglich, denn ihre Fußmatte war bis in die Flurmitte verschoben. Das war ein untrügliches Alarmsignal. Wir schlichen stumm die Treppe hinauf, eine seltsame Beklemmung lag in der Luft, und jeder verschwand in seiner Wohnung.
Mama wartete in der Diele. Sie sparte sich jegliche Einleitung.
„Ullas Mutter hat den Krankenwagen gerufen. Wir mussten sie wegbringen lassen. Ich habe sie heute morgen weinend im Hausflur gefunden; wir konnten sie nicht beruhigen.“
Mehr sagte meine Mutter nicht, biss auf ihrer Unterlippe herum und verschwand in der Küche. Kurz darauf klingelte Ulla. Sie zeigte stumm auf den Eimer mit Seifenlauge, der am Treppenabsatz stand. Heiner brachte drei riesige Schwämme mit.
Frau K. kam nicht zurück. Unsere Mütter bedachten uns noch einige Zeit mit vorwurfsvollen Blicken, ihr Lachen kam mir verhaltener vor und sie redeten nie mehr von der Putzteufelin. Im Laufe der Jahre vergaß ich die Geschichte fast, ab und zu träume ich von gekachelten Kellergängen, doch das mag durchaus andere Gründe haben. Schließlich bin ich Krankenschwester.

Gestern kam ich zum Spätdienst auf die Station und erkannte sie sofort. Sie stand vor der Sichtscheibe unseres Schwesternzimmers und polierte sorgfältig mit kleinen, kreisrunden Bewegungen das Glas. Eine Kollegin kam gerade um die Ecke und sagte mit betonter Munterkeit: „Das machen Sie aber schön, Frau K.! Wie das glänzt!“
Frau K. reagierte nicht. Sie wirkte noch kleiner, noch gebückter als damals, so, als wolle sie bald im Boden verschwinden. Meine Knie wackelten, als ich langsam auf sie zuging. Ich erkannte den ernsthaften, verschlossenen Ausdruck und die Ergebenheit in ihrem Gesicht wieder. Vorsichtig umfasste ich ihren Ellbogen und sagte leise ihren Namen. Ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln traf mich, dann zog sie ihren Arm weg und machte einen Schritt nach rechts, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Ich seufzte und ging ins Schwesternzimmer.
Zwei Stunden später kam meine Kollegin aufgebracht zu mir.
„Komm sofort mit und schau dir die Sauerei an, die Frau K. in der Patiententoilette fabriziert hat! Ich habe wirklich keine Lust mehr, immer die verwirrten Alten aus dem Heim aufpäppeln zu müssen.“
Ich ging hin, betrachtete lange die kotverschmierten Fugen zwischen den weißen Kacheln. Sie hatte Ohrenstäbchen benutzt.

 

hallo Jutta,

da lese ich mich durch diese albern daherschlendernde Geschichte und frage mich: wann kommt es denn mal?, bis es dann richtig reinhaut. Retrospektiv steigert diese lange Hinführung die Wirkung, auch der Zeitsprung fordert ja einen Stilwechsel.

betrachtete lange die kotverschmierten Fugen zwischen den weißen Kacheln und sah sofort,

da stört etwas, hier kommt die Auflösung, und wenn Du das wesentliche sofort erkennst, guckst Du nicht mehr lange.

Ob ich die vielen Schlenker (wozu dient hier Tschernobyl?) gut finde, weiß ich noch nicht; da melde ich mich wieder, wenn ich drüber geschlafen habe.

Daß die Geschichte nahe geht, habe ich erwartet (nicht wegen des Titels, nur wegen der Autorin); ich wurde nicht enttäuscht.

Gruß Set

 

Hallo Set,
danke fürs Lesen und Kommentieren. Habe den Schluß geändert. Tja, als ich Deinen Kommentar las, habe ich mich auch gefragt, ob Tschernobyl eine Rolle spielt. Es ist wohl dem Fünkchen Wahrheit geschuldet, das dieser Geschichte zugrunde leigt. Es war in eben diesem Jahr, als eine ohnehin schon putzwütige Nachbarin in unserem Haus tatsächlich wie besessen putzte und schrubbte. Alles andere ist erfunden, doch da es für mich der Aufhänger war, habe ich wohl nicht bedacht, dass es auch einfach weggelassen werden könnte. Stört es denn, irritiert es sehr, oder kann man es als kleine historische Erinnerung sehen?
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

Deine tschernobyl-verseuchte Putzteufel-Geschichte hat mir gut gefallen.
Ich würde - im Gegensatz zu Set, sorry! - den Super-GAU unbedingt drin lassen, denn er trägt, wie ich finde, seinen Teil zur Geschichte bei. Schließlich hat sich Frau K. dadurch noch zusätzlich genötigt gefühlt, zu schrubben und zu wienern.

Sie teilte ihr Kinderzimmer nicht mit einem kleinen Bruder, wie Heiner und ich, deshalb spielten wir meist bei ihr.

Da war ich kurz irritiert. Es klang für mich zuerst so, als sei Heiner der kleine Bruder der Ich-Erzählerin.

Im nächsten Frühjahr passierte der Rektorunfall in Tschernobyl.

Hier fehlt ein a in Reaktor, aber Rektoren haben wahrscheinlich auch manchmal Unfälle :D.

Ich fand's klasse, habe mich gut unterhalten mit Deiner Putzteufelin.

Liebe Grüße
Giraffe :)

 

Hi Jutta,
kann ich mich gleich revanchieren. :)
Mir ging es genau umgedreht wir Set: ich habe die Geschichte um die putzkranke Alte genossen und mich an den kleinen Fiesheiten gelabt, bis – ja bis zum Schluss. Den fand ich irgendwie – plakativ? Oder einfach unlogisch? Dass eine alte, verwirrte Frau noch zu so drastischen Rachemitteln greifen soll? Wahrscheinlich rührt es daher, dass ich sie mir einfach so furchtbar alt vorstelle. Als sie noch die „Putzteufelin“ ist, wird sie schon wie ein alte Hexe mit grauen Haaren beschrieben, da dachte ich so „Mitte Siebzig, fast Achtzig“, dann machen wir einen Zeitspung von mindestens zehn Jahren – da wäre sie dann fast Neunzig. Kann ich mir nicht so recht vorstellen, diese Rachegelüste, zumal sich die Prota unter Umständen äußerlich völlig verändert hat, also nicht ohne weiteres zu erkennen ist? Aber vielleicht gehe ich ja hier zu streng ran, die anderen scheint es nicht gestört zu haben.
Und das mit Tschernobyl passt schon, diese Annahme, man könnte die radioaktiven Strahlen „wegputzen“, da hat der Wahnsinn in dieser Zeit sicher die seltsamsten Blüten getrieben.

Na, trotzdem eine schöne Geschichte.
LG
Sammamish

 

Hallo Giraffe,
freut mich, dass die Geschichte dir gefällt und auch, dass Tschernobyl offensichtlich drin bleiben kann. Ja, Rektoren haben sicher viele Unfälle, aber hier passen sie nicht rein; danke!
LG,
Jutta

Hallo sammamish,
Deine neue Betrachtungsweise macht mal wieder andere Perspektiven auf. In meiner Vorstellung war Fr. K., als sie in das haus zog, so um die fünfzig,-für Kinder schon uralt-, was dem tatsächlichen Alter der echten Nachbarin in etwa entspricht. Sie wirkte so alt durch ihre Haltung, ihre Kleidung und ihr Verhalten, deshalb war sie auch Jahre später gut wiederzuerkennen. Ob Fr. K. nun wirklich geisteskrank ist, oder nur eine schrullige Alte, die einfach aus dem üblichen Rahmen fällt, darüber kann jeder selber nachdenken, so wie Du!! Da gibt es viele Möglichkeiten zur Erklärung, warum Fr. K. die Prot. wiedererkennt, eine davon wäre z.B. eine Autismusform; aber vielleicht wurde sie einfach nur unterschätzt; ich weiß es auch nicht so genau, finde es aber spannend, darüber noch mal nachzudenken. Vielen Dank Dir!
LG,
Jutta

 

Hi Jutta,

deine Putzteufelin ist wirklich gelungen, dickes Kompliment!

Und dass sie manchem Leser stellenweise etwas unlogisch erscheint, stört mich nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Gerade das macht einen großen Reiz dieser Story aus!

Hat mich ganz toll unterhalten, und ich bedanke mich dafür.

LG
lesespass

 
Zuletzt bearbeitet:

>Ich war elf Jahre alt, im Herbst vor Tschernobyl, als die Putzteufelin in unser Haus zog.<

Schon der erste Satz scheint alles - aber doch wenigstens einen Großteil - der kommenden Geschichte zu verraten. Sicherlich kann man drüber streiten, ob das Datum des Super-GAU (26. April 1986) angebracht wäre, aber spätestens nach einem halben Jahr Putz"teufelei" ereignete sich halt in T. der bisher schwerste Unfall in der „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie und die gesteigerte Reaktion, als könnte man Radioktivität einfach wegwischen, lässt der Geschichte nun mehr Deutungen zu, als Dir,

liebe Jutta,

eigentlich recht und überhaupt gewollt wären, was in der Diskussion um Laufzeitverlängerung eine politische Deutung aufzwingen könnte. Da will ich mich mal zurückhalten …

Von einer „Teufelin“ hab ich allerdings noch nie gehört. „Luzifer“ scheint immer männl. Geschlechts zu sein - sieht man einmal davon ab, dass der Morgenstern ja auch durch die Venus repräsentiert wird. Obwohl Gottes Wort, wenn es denn seines wäre, kein Wort über die Geschlechtlichkeit der Engel incl. des gestürzten verliert. Putz-Hexe, vielleicht, „Putzteufelin“ niemals! Denn ist es nicht vielmehr so, dass man vom Putzteufel, dem Verführer schlechthing, heimgesucht wird, als wäre Putzen eine Verführung? Putzen als Übertreibung der Hygiene, ja, Putzen als Sünde? Nee!

Aber sind nicht alle in der Geschichte vom Teufel befallen? Denn siehe:
> … und sobald sie (Ullas rauchende Mutter) weg war, riss meine Mutter alle Fenster auf und versprühte Mandarinenspray< und kurz darauf: >Als unsere Väter das anerkennend erwähnten (es riecht nach frisch geputzt), ernteten sie bissige und abfällige Bemerkungen von unseren Müttern<, was eigentlich unterschwellig andeutet, dass hinterm Putzteufel auch ein hypochondrischer Gatte stecken könnte, der seine Putzfrau antreibt...

„Prostata!“, riefen die Missfits, wenn sie mit Eierlikörchen, statt des Kirschlikörs anstießen, wobei mir noch Willi Busch mit seinem "Es ist ein Spruch von Alters her / Wer Sorgen hat, hat auch Liqueur" einfällt.

Inwieweit die Beschreibung einer Krankengeschichte Amusement auslösen kann, bleibt mir ein Geheimnis.

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel,
doch doch, es gibt da den bösen, schönen Film 'Der Club der Teufelinnen', der mir sicher unbewusst Pate gestanden hat. Tschernobyl habe ich als junge Mutter erlebt, musste mich bei allem politischem Engagement, aller Angst damit auseinandersetzen, meinen Kindern ein hysteriefreies Leben zu ermöglichen. Verdrängung gehörte schließlich auch dazu, bei uns allen, denke ich. In der Geschichte habe ich mir Zeitsprünge erlaubt, Perspektiven verändert und ich verfolge nicht die Absicht, Moral zu predigen. Amusement, Betroffenheit, Ärger, Unverständnis, alles liegt im Auge des Betrachters, denke ich und bleibt auch hier eine Ermessenssache. Danke Dir und
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta Ouwens,

sehr schöne Geschichte. Tolle Figurenzeichnung - alle, wie sie da vorkommen. Die Mütter, die Kinder und natürlich Frau K. Für mich jedenfalls gelungen.

Die Schwägerin von Ullas Mutter kannte dort eine ehemalige Nachbarin von Frau K., ...

Diese drei Ecken Informationen ... sehr schön. Eigentlich hätte es noch eine Freundin, deren Arbeitskollegin kegelt im Verein mit ... geben müssen :D.
Nein, ich hab schön geschmunzelt.

Da sind einige solcher Dinge in Deinem Text, der Zigarettenrauch, der im Pfirsichduft erstickt wird beispielsweise. Aber der Zitrusduft aus dem Treppenhaus, das ist ganz was anderes.

Tschernobyl stört mich persönlich eigentlich weniger, eher gibt es mir einen Anhaltspunkt zur zeitlichen Einordnung. Das es ihren Putzdrang verstärkt, ist für mich eigentlich nur ein Zeichen, wie sehr sie immer noch leidet unter dem Verlust ihres Kindes. Blutvergiftung - Verunreinigung.

Das Ende mag ich sehr. Die späte Rache der Frau K. - die geistig völlig gegenwärtig als verrückt erklärt wird.

Sehr gern gelesen.
Fliege

 

Hallo Jutta,

Ich war elf Jahre alt, im Herbst vor Tschernobyl, als die Putzteufelin in unser Haus zog.
Ich glaube das ist ein Paukenschlag zu viel. Diese Anfänge mit dem Alter des Protagonisten sind im Gedächtnis des Lesers schon etabliert und sie sind meistens kurz und lakonisch. Schlinks Vorleser fängt an mit „Mit zwölf hatte ich die Gelbsucht“, oder so.
Und hier ist Tschernobyl im ersten Satz das entscheidende, nicht das abstrakte. Im Herbst vor Tschernobyl war ich elf Jahre alt. Das ist der Satz, den man meint zu lesen und dann kommt noch hintendran „als die Putzteufelin …“

Als unsere Väter das anerkennend erwähnten, ernteten sie bissige und abfällige Bemerkungen von unseren Müttern.
Der Plural wischt ein wenig die Gesichter weg, es ist hurtig erzählt, die Exposition, vielleicht eine Spur zu hurtig. Es wird das Bild eines behaglichen Heims geschaffen, aber das ganze wird raffend und flott erzählt, die Behaglichkeit findet sich da nicht im Text – die sinnlichen Elemente mit der Hb-Raucherin, dem Mandarinenspray und dem Schlager sind nur kurz aufgeführt.

Am nächsten Tag erzählte Ullas Mutter meiner Mutter, dass Frau K. bis zum Einzug in unser Haus im Norden der Stadt gewohnt hat.
Solche Substantivketten lesen sich schwer.

ob überhaupt ein menschliches Wesen war.
Hier fehlt ein Pronomen.

Also hockten wir beieinander, schmiedeten und verwarfen unzählige Pläne, unternahmen aber nichts.
Damit verläuft der ganze letzte Absatz im Sand.

und ließen uns nicht auf den Spielplatz.
Ich kann mich noch an die panische Angst vor „Sand“ erinnern, weil dort die Strahlung sich irgendwie hielt.

„Sie hat immer noch Angst vor Radioaktivität, die Verrückte“, sagte Ullas Mutter und blies Rauchkringel in die Luft.
Das gefällt mir. Die subtile Verbindung zwischen Rauch-Krebs und Strahlungs-Krebs.

Im Laufe der Jahre vergaß ich die Geschichte fast, ab und zu träume ich von gekachelten Kellergängen, doch das mag durchaus andere Gründe haben. Schließlich bin ich Krankenschwester.
Das gefällt mir auch.

Hm, mir ist es ein bisschen zu knapp erzählt. Diese Kindheits-Geschichten leben ja auch von den Mysterien der Kindheit und die Handlung wirkt dann gedrängt in diesem Rahmen (die Väter würde ich ganz rausnehmen, glaub ich, die kommen ja nur mal in eins, zwei Sätzen vor). Dafür hätte ich den Geruch im Haus noch mehr betont und Tschernobyl wirkt wie ein Fremdkörper in dem Text, man wartet da vom ersten Satz an auf eine wichtige Parallele, ich find es als Thema und als Motiv auch klasse, aber es verläuft sich in meinen Augen ein bisschen. Das Ende ist dann eine Kurzgeschichtenwendung, die für sich genommen, sicher stark ist, aber für mich nicht recht zu der Geschichte passt.
Da wird die Erzählerin, die wir begleitet haben, zu einer Fremden. Sie ist Krankenschwester, sie hat damit „abgeschlossen“, sie denkt nicht mehr daran, es ist eine ganz neue Welt. Die Mutter, die Freunde sind nicht mehr da und dann noch mal die Ohrenstäbchen, ja.
Ich hätte mir eine andere Geschichte mit diesen drei Bausteinen „Kindheit – Putzteufelin – Tschernobyl“ gewünscht, eine poetischere, wenn man so will. Mit diesen Symbolen auch für die Biederkeit dieser Umgebung, dieses Symbol des Putzens, dass ist alles in „Ordnung“ ist, die Mütter sind schon nicht mehr dieselben, wie sie in den 50ern gewesen wären. Sie machen kleine Treffen und trinken und rauchen und lästern ein bisschen und hören Schlager und sind ein wenig boshaft. Und die Frau aus der Generation davor stört dann, die ist sehr eigenartig. Es ist ein Relikt. Und dann eben noch das Tschernobyl-Motiv, zusammen mit dem starken Bild dieses Streichs, dem Verlust der Unschuld, den die drei Kinder da erleben. Ich hab das Gefühl, die Bauklötze für die Geschichte sind da, aber mir ist nicht ganz klar, warum die Geschichte dann doch so konventionell wirkt. Ich hätte mir mehr Mut zur Poesie, zu einem literarischen Weltbild gewünscht, dass man das Gefühl hat, die realen Aspekte stehen deutlich für gewisse, gesellschaftliche Veränderungen und Motive. Und da hab ich nach dem ersten Absatz drauf gewartet.
Es ist überhaupt keine schlechte oder misslungene Geschichte, ich möchte nicht, dass sich das negativ anhört.

Eins noch, was wahrscheinlich wieder Ärger geben wird: der Titel … in den letzten Jahren gab es einen Trend in der Bücherwelt Titel nach diesem Strickmuster zu verfassen (Artikel+Substantiv+“in“). Die Päpstin, die Goldschmiedin, das lässt sich wirklich beliebig weiterverfolgen, das war wie so ein Code „Das hier ist ein Historical für eine weibliche Leserschaft“ (wir hüpfen auf den Wanderhure-Zug), deshalb hat der Titel auf mich etwas abschreckend gewirkt. „Die Putzteufelin“ mit den vielen Silben ist für mich auch kein starkes oder sonderlich organisches Wort.

Gruß
Quinn

 

Hallo Knut,
vielen Dank, dass du Dich so mit der geschichte auseinandersetzt. Ich verstehe sehr gut, was Dir fehlt, doch die gesamte Geschichte müsste tatsächlich umgearbeitet werden. Frau K. bringt die vielen Leute dazu, sich mit ihr zu beschäftigen, weil sie sich eben so stark entzieht. Das macht die anderen ja auch wütend, stachelt ihre Fantasie an und ich glaube, hier wünscht Du Dir eine spürbare Steigerung mit weniger Prots; richtig verstanden?
LG,
Jutta

 

Frau K. kenn ich doch von irgendwoher ... :D

Hallo Jutta Ouwens,

habe auch die Geschichte genossen. Nichts großes, wirklich nicht, aber am Abend liest man sowas gern mal weg. Das Ende ist allerdings diskussionsbedürftig:

Ich ging hin, betrachtete lange die kotverschmierten Fugen zwischen den weißen Kacheln. Sie hatte Ohrenstäbchen benutzt.
  • Das stinkt ... warum betrachtet sie lange die kotverschmierten Fugen, was ist an denen so interessant? Ist deine Prot vielleicht selbst etwas plemblem?

Tschernobyl braucht die Geschichte nicht wirklich, d.h. so viel Gewicht erfährt der Unfall nicht als dass er wert wäre, schon in der Einführung erwähnt zu werden. Wirkt mehr als bloßes Schlagwort à la "Jajaja, ich vermag mich sogar daran zu erinnern" seitens der Autorin ;). Es reicht vollkommen, wenn du es erst da bringst, wo es gebraucht wird. Da alles davor recht zeitlos gestaltet ist, besteht auch keine Gefahr glaube ich, dass der Leser die Geschichte erst zu einer anderen Zeit einordnet.

Ein bodenlanger Rock hing bis auf die ausgetretenen Filzpantoffeln.

Wir kreischten, bis uns die Luft ausging.
  • "bis" hört sich hier komisch an, wie als würden sie langanhaltend kreischen was ich mir nicht vorstellen kann. "dass" vielleicht besser.

Mit Ohrenstäbchen gingen wir ans Werk, versteckten das Krautglas hinter den Mülltonnen und rannten atemlos zur Schule.
  • "atemlos rennen", hm. Ist man nicht atemlos, wenn man gerannt ist. Das Adverb kannst du bedenkenlos streichen, es trägt nichts Relevantes bei.

Vorsichtig umfasste ich ihren Ellbogen und sagte leise ihren Namen.
  • Stell ich mir gerade vor: "Frau K.? Frau K. ...!" -- kann sie mir den Namen verraten? ;)

Trotz dem: Gern gelesen,
-- floritiv.

 

Hallo Fliege,
herzlichen Dank und wie schön, dass die Geschichte dir gefallen hat, vor allem, dass die Atmosphäre rübergekommen ist. So hatte ich es mir gewünscht.
LG, Jutta

Hallo Quinn,
jau, jetzt muß ich ganz ordentlich nachdenken und dazu brauche ich ein bisschen Zeit, denn du zeigts wieder Punkte auf, die ich nciht in meinem Schädel hatte. Aber ich bin auch echt verwirrt und kann so rasch nicht reagieren. Ist ja ein gutes Zeichen... Meine Absicht war eher schlicht: Ich wollte reale Erinnerungen aus der Tschernobylzeit mit ein paar Erinnerungen aus meiner eigenen Kindheit verknüpfen mit der Figur der Frau K., die so ähnlich existiert hat. Das Ganze ist nach einem Gespräch über "Früher" entstanden und hat keinen großen Anspruch. Deshalb verwirrt Tschernobyl vielleicht doch und ich sollte mich eher auf die Atmosphäre und das Milieu konzentrieren. Es hat mir auf jeden Fall Spaß gemacht, die Geschichte zu schreiben. Sie ist sicher konventionell. Nun zeigst Du andere Möglichkeiten auf, deshalb werde ich noch mal nachdenken und vielleicht auch einiges verändern. Der Titel gefällt mir selber nicht mehr, zuerst fand ich ihn toll!! Die Substantivketten sind schon gewollt, die lass ich auch drin. Danke Dir für Deine Mühe und Ausführlichkeit.
LG,
Jutta

Hallo floritiv,
ja, deine Anmerkungen decken sich zum Teil mit Quinns, ich werde die Fehler korrigieren und danke auch Dir fürs Lesen und Kommentieren. Was ich jetzt schon merke, ist, dass es klug ist, den Rahmen genauer zu fassen und die Gewichtung besser zu tarieren.
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

für mich macht gerade die Erwähnung Tschernobyls den grossen Reiz dieser Geschichte aus. Ich würde den Reaktorunfall vielleicht sogar noch etwas mehr in die Handlung bauen ...

LG
lesespass

 

hallo lesespass,
ich denk inzwischen, es könnten zwei Geschichten sein: Eine, die Tschernobyl mit all seinen Auswirkungen in den Mittelpunkt stellt, oder eine, die die Beziehungen und das Geschehen in dem Haus und somit die Entwicklungbis hin zu dem Streich in den Focus rückt. Ich würde dann wahrscheinlich auch auf einer Zeitebene bleiben. Jedenfalls wäre es eine ganz neue Geschichte. Ich tendiere schon dahin. Danke Dir und
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

nun habe ich mal wieder reingeschaut und Deine Geschichte gefällt mir trotz häufigen drüber Schlafens immer noch. Nicht zu viel Detail, alles okay. Tschernobyl schwingt im Hintergrund; ich habe damals den Staubsauger weggepackt, weil der nur kontaminierte Partikel in die Luft bläst. Was Tschnernobyl in der Geschichte passend macht: Tschernobyl steht für Angst, und Putzsucht steht wie Pedanterie und Kontrollsucht ebenfalls für Angst. Logisch, wir putzen, weil Tschernobyl.

Zum Titel habe ich auch noch meinen Senf zuzugeben: ich mag keine sinnzusammenfassenden Titel, keine kurze Benennungen des Inhaltes. Der Titel ist kein "abstract". Ich hätte diese Geschichte "Ohrsticks" genannt.

Liebe Grüße

Set

 

Ja, die Geschichte ist wirklich gut. Auch von manchen kritisierte Tschernobyl passt gut, weil diese Erwähnung die Geschichte in eine Zeit einordnet, in der man zwar zum ersten Mal Angst vor Radioaktivität bekam, aber keine vorm Rauchen hatte, das allenfalls störte und so für gute Durchlüftung sorgte. :D

Frau K. ist scharf gezeichnet und die Kinder sind so, wie sie sind: Alles, was Erwachsenen über Frau K. sagen, wird für bare Münzen genommen (nicht ganz richtig im Oberstübchen, Durchgedrehte, Verrückte). Anschließend wird im vermeintlichen Sinne der Eltern gehandelt und die vermeintliche Verrückte tatsächlich verrückt gemacht.

Gefallen hat mir auch das Ende: Die Kotschmierereien als späte Strafe für den Kinderstreich von damals oder auch als der Hinweis auf die menschliche Natur, sowohl gut wie böse zu sein, was bei den meisten Menschen sich im „Normalen“ äußert (nicht wirklich gut, aber auch nicht wirklich böse), bei manchen aber nur als beide Extreme zu finden ist – ganz sauber und ganz dreckig.

Eine Kleinigkeit habe ich noch gefunden:

Der Einzug muss an einem Wochenende stattgefunden haben, unbemerkt von uns allen.
Wie kann das sein - am Wochenende sind doch alle zu Hause? Besser wäre es, wenn das an einem Wochentag stattfände, wenn Leute arbeiten und Kinder in der Schule sind.

 

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