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Die Schaffung der Sonnentunnel
Seit mehr als einer Stunde sind heute schon Sonnentunnel am Himmel zu sehen. Einige bewegen sich langsam, andere stehen minutenlang still. Manchmal schließt ein Tunnel, ein anderer öffnet sich und strahlt sein Licht in einer glänzenden Röhre bis zum Erdboden. Sheila und Scott sitzen schon lange nebeneinander auf dem Rasen hinter Scotts Haus und genießen das wunderbare Naturschauspiel.
„Ist dir schon mal aufgefallen, dass sich Dinge verändern, die sich nicht verändern dürften?“, fragt Scott leise und gedankenverloren. Sheila neigt den Kopf leicht in Scotts Richtung, schaut aber weiter zum Horizont.
„Wenn die Sonne so wie heute durch Löcher in einer dicken Wolkendecke hindurch scheint, selbst aber nicht zu sehen ist, ist das für mich eine der schönsten Wetterkonstellationen. Wenn drei, vier oder mehr dieser herrlichen Lichtröhren zu sehen sind und das ganze Gesichtsfeld in ein Gesamtkunstwerk verwandeln, könnte ich lachen – oder heulen“, fährt Scott fort. Sheila nickt sanft.
„Bis vor einigen Jahren fand ich daran nichts Besonderes. Natürlich schien auch damals schon die Sonne durch Wolkenlöcher, aber von einem Tag auf den anderen war etwas grundlegend anders. Es sind die Lichtröhren, die Sonnentunnel. Die gab es früher nicht. Sie waren tatsächlich von einem Tag auf den anderen da. Vorher nicht, glaub mir.“ Scott wendet das Gesicht Sheila zu, sein Blick bittet um Verständnis. Sheila dreht langsam den Kopf und sieht ihn an. Ernst, immer noch entrückt. Dann erkennt sie den Sinn und die Folgen seiner Worte. Sie lächelt und sagt: „Ich weiß“.
Scott ist glücklich. Den meisten Leuten würde er seine Beobachtung nicht anvertrauen, aus Angst für spleenig gehalten zu werden. Nur mit wenigen Freunden und Bekannten, von denen er annahm, sie könnten es verstehen, hat er darüber geredet. Verstanden haben sie es, konnten oder wollten sich aber nicht erinnern, dass sie den Effekt selbst auch wahrgenommen haben.
Beide Köpfe wenden sich wieder dem Horizont zu. Sheila erzählt: „Am ersten Tag als es mir aufgefallen ist, habe ich minutenlang ehrfürchtig und ungläubig zum Himmel geschaut. Selten hatte ich ein so wunderschönes Himmelsschauspiel gesehen und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie es sein kann, dass mir das vorher nie aufgefallen ist“. „Weil es nicht da war“, entgegnet Scott leise.
„Ich habe mich das natürlich auch gefragt“, fährt er fort. „Wieso hat sich eine so globale Natureigenschaft von einem Tag auf den anderen verändert? Oder ist es mir vorher nur nicht aufgefallen? Das kann aber nicht sein, da etwas, das mich in derartige Ehrfurcht versetzt, dasselbe vorher auch getan hätte. Es wäre dasselbe als hätte man einen Regenbogen früher nicht bemerkt. Undenkbar. Ich weiß, es klingt merkwürdig oder unglaublich. Aber es ist so und ich finde es nicht unglaublich. Die Sonnentunnel existieren erst seit ein paar Jahren. Der Effekt ist „eingeschaltet“ worden.“ Sheila blickt Scott an. „Wer hat es eingeschaltet und warum?“
„Wer ist das, was wir Gott, Allah oder Natur nennen, je nachdem, wo wir herkommen und wie wir erzogen wurden. Ich nenne das Wesen, weil ich so erzogen wurde, Gott. Das Warum ist, glaube ich, sehr ernüchternd. Unsere Welt, was auch immer dazu gehören mag, mindestens aber unser Universum, wurde von Gott, oder von einem anderen Wesen aus der Welt Gottes, unbewusst geschaffen. Zur Veranschaulichung kannst du sie dir als Computerspiel vorstellen, eine Art göttliches Sim-City. Das ist aber nur ein Beispiel. Genauso gut könnte unsere Welt eine Schaumblase in der Badewanne Gottes oder der Schlusspunkt eines von Gott geschriebenen Romans sein. Das spielt keine Rolle und wir werden es vermutlich noch sehr lange nicht herausfinden, wahrscheinlich nie. Ein Computerspiel ist aber schön anschaulich. Gott spielt also dieses Spiel. Natürlich kennt er die einzelnen Individuen unserer Welt nicht, genauso wenig wie ein Spieler unserer Welt die Individuen aus Sim-City kennt. Nun zurück zu den Sonnentunneln. Sie sollten schon immer da sein, es handelt sich schlichtweg um einen Programmfehler. Gott spielt eines Tages eine korrigierte Programmversion ein und von einem Tag auf den anderen ist der Effekt da.“
Sheila meint, die Sonnentunnel an ihrem Himmel noch intensiver strahlen zu sehen. Minutenlang sitzen Scott und sie schweigend auf dem Rasen. Dann sagt sie: „Ernüchternd, ja. Aber auch überaus ermutigend, weil viel Platz für die Individualität des Einzelnen bleibt.“ Scott lächelt. Vorsichtig berührt er Sheilas Hand.
Der beginnende Sonnenuntergang verwischt die Sonnentunnel zu gelb, orange und rot verlaufenden Farbflächen am Horizont. Arm in Arm genießen Sheila und Scott den Anblick, die Gefühle und das Leben.
Irgendwo über uns, neben uns, um uns hat der Teenager den Datenträger in seinen Rechner gelegt. Er freut sich auf den spannenden Abend. Immerhin hat der Hersteller für die lange angekündigte Version echte Neuerungen versprochen. Bei vorherigen Updates sind immer nur kleinere Fehler korrigiert worden. Diesmal soll es unter anderem möglich sein, den Schwierigkeitsgrad durch globale Katastrophen zu erhöhen.
Die Installation ist abgeschlossen. Er startet das Spiel …