- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Die Schattenlosen
Als Noah die Wohnung betrat, hörte er das Klappern aus der Küche. Marie kam ihm mit einem Tablett entgegen.
„Du kommst spät.“
In ihrem Blick konnte er keinen Vorwurf erkennen. Trotzdem hörte er eine leichte Verärgerung.
„Es ist genau fünf.“
Im Wohnzimmer stellte sie das Tablet ab, verteilte Untertassen und Teetassen auf dem Tisch. Löffel legte sie daneben.
Auf das Stövchen in der Mitte stellte sie eine Teekanne aus dem gleichen, weißen Porzellan. Danach folgten Milchkännchen und Zuckerdose.
Inzwischen hatte Noah sich auf das Sofa gesetzt und sah ihr bei dem täglichen Ritual zu.
Marie setzte sich ihm gegenüber und gab einen Löffel Kandis in die Tasse. Danach schüttete sie beiden heißen Tee ein. In der Stille hörte man den Kandis leicht knacken. Mit dem Löffel rührte sie langsam und gleichmäßig um.
Obwohl sich ihr Kandis noch nicht aufgelöst hatte, rutschte er auf dem Sofa nach vorne: „Ich war heute im Unteren Viertel.“
Der Löffel bewegte sich langsam weiter. Ihr Blick blieb auf die Tasse gerichtet. Die Flüssigkeit glänzte in den dünnwandigen, weißen Tassen wie geschmolzene Bronze. „Ist es nicht gefährlich dort?“
Er lachte. „In gewisser Weise schon. Im Gegensatz zu hier war es dort voller Leben und Lachen. Überall Menschen auf der Straße. Kinder.“
Sie blickte kurz auf, nippte dann.
„Marie.“ Noah stockte, blickte sie an: „Ich, ich möchte ein Kind!“
Sie lächelte: „Sind wir nicht etwas zu alt dafür?“
„Ich meine es ernst, Marie.“
„Du willst, dass ich dich ernst nehme? Du treibst dich in dem Armenviertel herum und erklärst mir dann plötzlich, dass du ein Kind willst? Das soll ich ernst nehmen? Du weißt genau, dass wir überhaupt kein Kind bekommen können.“
„Das ist nicht wahr. Und das weißt du auch. Wir haben alles einfrieren lassen. Wir könnten sofort ein Kind bekommen.“
Marie lehnte sich vor: „Du bist tatsächlich verrückt geworden. Du weißt schon, dass wir sterblich werden würden? Dass sie den genetischen Eingriff rückgängig machen und den Alterungsprozess wieder in Gang setzen würden?“
„Ich weiß das alles, Marie. Wir haben das damals gemeinsam unterschrieben.“
Sie schüttelte den Kopf, wurde lauter: „Das ist Wahnsinn! Du wirst in einem Monat 187 Jahre alt. Du kannst noch tausende Jahre leben und siehst immer noch wie dreißig aus. Und das willst du aufgeben, weil du jetzt einmal im Unteren Viertel warst?“
„Tausende Jahre? Wir drehen uns jetzt schon in den immer gleichen, sinnlosen Handlungen und Ritualen endlos im Kreis. Wir wollten den Tod überlisten und jetzt wälzen wir jeden verdammten Tag diesen Stein den Berg hinauf. Das ist nicht mehr unsere Zeit.“
„Dann gehe ich also am besten morgen zu einer Kollegin aus der genetischen Abteilung und sage, dass wir sterblich werden wollen. Wenn sie fragt, sage ich einfach: Ist nicht mehr unsere Zeit. Okay?“
Noah stand auf und zeigte auf die Bücherregale an den Wänden: „Warum hältst du so an deinen Papierbüchern fest? An dem Porzellan deiner Mutter und deinen täglichen Ritualen?“ Mit einer Hand zog er die bodenlangen Vorhänge von den Fenstern und klatschte leise. Die milchig getönten Scheiben wurden durchsichtig. Draußen schwebten lautlos unzählige Flugdrohnen durch die Häuserschluchten.
„Das ist nicht mehr unsere Heimat. Und das weißt du. Wir haben irgendwann die Zeit verloren, Marie.“ Er setzte sich in einen Sessel und blickte sie an. „Und uns auch.“
„Deine Theatralik kannst du dir sparen.“ Sie begann, den Tisch abzuräumen. „Meine Heimat ist hier. Und in meiner Forschung. Früher dachte ich auch: bei dir. Ich brauche jedenfalls kein Kind, um einen Sinn in mein Leben zu bringen.“ Sie hielt inne, drehte sich in seine Richtung. „Aber wenn du willst, dann zieh in die Unterstadt. Ein Kind darfst du auch alleine großziehen, wenn du sterblich wirst. Meine Eizellen kannst du gerne haben. Ich brauche sie nicht.“
„Weißt du, welche Namen sie da unten für uns haben? Ich habe es gehört, als ich durch die Gassen gegangen bin. Nicht Götter oder Elben. Sie nennen uns die Schattenlosen.“ Seine Stimme wurde mit den letzten Worten leiser. Er blickte auf seine Hände, drehte sie im Licht. „Und sie haben recht. Wir sind durchsichtig geworden. Als hätten wir unsere Seelen verkauft.“
Marie schnaubte und schritt mit dem Tablet aus dem Wohnzimmer.
Als er aus der Küche ein Klirren hörte, ging er zur Tür.
Marie kauerte auf dem Boden. Ihr Rücken war ihm zugewandt. Sie hielt etwas vor sich in den Händen, den Kopf tief gebeugt. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie zitterte. Er ging um sie herum und sah die zerbrochene Tasse in ihren Händen. „Nur noch eine.“ Ihr Körper bebte, als sie aufschluchzte. „Jetzt habe ich nur noch eine.“
Er legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. „Es tut mir so leid, Marie. Ich …“
Marie fuhr herum, wich seiner Hand aus. „Lass mich in Ruhe mit deinem Mitleid!“ Sie schniefte, ihre Stimme war leise: „Du verrätst alles, was uns zwei ausgemacht hat.“ Marie stand auf: „Du wolltest einer der ersten sein, der den Menschen das Feuer bringt. Das hast du gesagt, weißt du nicht mehr? Wir wollten keine Kinder. Wir wollten was bewegen.“ Marie stand auf, öffnete die Wohnungstür und trat hinaus. Dann drehte sie sich noch einmal um: „Ich hätte wissen müssen, dass du zu schwach bist.“
Als sie im Unteren Viertel ankam, stand die Sonne tief. Marie ließ sich durch die engen, geschäftigen Gassen treiben. Menschen gingen zu Fuß, waren einfach gekleidet. Sie sah Eltern mit Kinderwagen. An einem Spielplatz blieb Marie stehen, schaute den Kindern zu, hörte ihr Gelächter. Dann sah sie den Schatten. Er lag langgestreckt von den Fußspitzen bis zum Sandkasten vor ihr.
Sie drehte sich um und verließ das Untere Viertel.