- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
Die Schlucht
„Selle!“
Mit einem unwilligen Grunzen presste der Junge sein Gesicht noch tiefer in den Spalt zwischen seinen Kissen.
„Selle! Steh endlich auf, du Penner!“
Es war Sonntag. Sonntag! Hatte nicht selbst Gott an diesem Tag blau gemacht?
Schritte polterten die Treppe nach oben. Es war ein Takt, den er inzwischen mit grauenhafter Präzision nachzählen konnte. Hilflos musste er dem Countdown lauschen, bis seine Tür aufgerissen wurde. „Ich fass es nicht! Du hast es mir hoch und heilig versprochen!“
„Es ist Sonntag“, brummelte Selle in sein Kissen und zog sich die warme Decke bis zum Hals hoch.
„Das ist mir total egal!“ erklang es empört aus Richtung der geöffneten Tür.
Mühsam schielte Selle mit einem Auge zu der Elfe hinüber. „Ich will wenigstens einmal in der Woche ausschlafen.“
Wild sträubten sich ihre dunkelvioletten Haare. „Immer hast du irgendwelche Ausreden! Und was ist mit Zilba!? Er steht schon seit Wochen im Stall! Wahrscheinlich weiß er gar nicht mehr, wie du aussiehst!“
Selle schloss die Augen. „Schon möglich.“
Ein lautes Splittern durchfuhr das Zimmer und Selle saß kerzengerade im Bett. Entsetzt heftete sich sein Blick an den dunklen Fleck an der Wand nur wenige Meter neben ihm. Die grünen Scherben der einstigen Mineralwasserflasche lagen weitflächig auf dem Teppich verstreut. „Bist du wahnsinnig, Ikrim!?“ keuchte er.
„Du stehst jetzt sofort auf!“ Die Elfe hatte ihre schlanken Fäuste geballt. In ihren Augen funkelte eine Brutalität, wie Selle sie noch aus den alten Zeiten kannte. Genau so hatte sie ihn angesehen, als die Lanze des Greif in den Dendalor-See gefallen war und Selle sich geweigert hatte, ihr todesmutig nachzuspringen.
Aber das war vorbei. Selle entspannte sich und lächelte gelassen. „Reg dich nicht auf, Ikrim. Lass mich noch zwei Stunden schlafen, dann reden wir einfach noch mal darüber.“
Die dunkelgekleidete Elfe riss ihre Augen weit auf. Ihr Kopf wurde rot, ihre Ohren dagegen weiß bis in die Spitzen. „Selle Domeier!“ brüllte sie. „Du bist der faulste, unzuverlässigste und dreisteste...“ Sie holte Luft. „... PENNER, den ich je erleben musste!“
„Hey, ich hab dich nicht darum gebeten, hier zu bleiben!“
Schlagartig wich alle Wut aus Ikrims Gesicht.
Doch Selle starrte nur zornig auf seine Finger, die sich in die Bettdecke krallten. „Hör endlich auf, mich zu nerven! Ja, verdammt! Ich habe eure dumme Welt gerettet!“ Er schluckte und fügte dunkel hinzu: „Aber wenn ich mir so ansehe, was es mir gebracht hat... Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.“
„Aber... Selle“, Ikrims Stimme war leise. „Du musst doch -“
„Ich muss gar nichts!“ Mit einem Ruck warf er die Bettdecke zurück und stieg auf der Seite aus dem Bett, die nicht von Scherben übersät war.
Er griff sich seine Sachen und zog sich an ohne die Elfe eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Und was ist mit Zilba?“ kam die mit einem Mal zurückhaltende Frage.
Selle hatte seinen zweiten Stiefel zugeschnürt und wandte sich mit ausdrucksloser Miene Ikrim zu. Es traf ihn mit unerwarteter Härte. In Ikrims Augen standen tatsächlich Tränen.
„Hm“, zuckte er mit den Schultern und langte nach seiner Baseballkappe. Nachdem er sie sich nach hinten verkehrt aufgesetzt hatte, sagte er: „Ich reite mit ihm zur Schlucht. Von da wird er den Weg allein finden.“
Jetzt zeichnete sich Schrecken im feinen Gesicht der Elfe ab. „Nein! Tu das nicht! Wir brauchen Zilba, um den Schutz...!“ „Sei still!“ fuhr er ihr unwillig dazwischen und grollte: „Ich weiß, was ich tue.“
Sie war nicht still. Nicht, als er sich sein Frühstück machte. Nicht, während er seinen Rucksack packte und erst recht nicht, als er sich auf sein Fahrrad schwang und den Hügel hinunter noch zusätzlich in die Pedale trat. Zum Glück konnten selbst ihre Flügel nicht lange mit dieser Geschwindigkeit mithalten.
Selle nahm die Abkürzung über den Rathausplatz. Der Fahrtwind ließ seine ausgebleichte Jeansjacke flattern. Sein Blick war nach vorn gerichtet, doch seine Gedanken folgten einem ganz anderen Weg. Sie verloren sich in Erinnerungen.
Als er die Ställe schließlich erreichte, konnte er sich an den Großteil des Weges nicht mehr erinnern. Doch das passierte ihm häufiger auf dieser Strecke. Er schenkte dem nie weiter Beachtung.
Selle lehnte sein Rad gegen den alten Schuppen und schloss die kleinere Tür neben dem Scheunentor auf. Vertrauter Stallgeruch und die ruhigen Geräusche der Pferde empfingen ihn mit solch einer wohltuenden Vertrautheit, dass er gar nicht wusste, weswegen er es aufgeschoben hatte hierher zu kommen.
Selle trat durch die strohübersäte Gasse zwischen den Boxen. Schließlich fiel sein Blick auf Zilba. Der Hengst blickte ihm mit dunklen, sanftmütigen Augen entgegen und fast hätte sich der Junge der Illusion hingegeben.
Wäre nicht in diesem Moment ein Flimmern über das Tier hinweggestrichen. Es war nicht mehr als ein Schatten, der kurz die wahre Form seines Reittiers offenbarte.
Schweigend trat er vor die Box und verharrte dort. Wie einen blassen, dünnen Schleier durchblickte er nun die Täuschung, mit der Zilba sein alptraumhaftes Äußeres vor den Menschen verbarg.
Er wünschte, er könnte sich wie alle anderen täuschen lassen.
Zilba reckte seine Schnauze vor und Selle strich automatisch über dessen harte, raue Haut. Wie immer freute sich das starke Wesen, das ihm während seines Abenteuers stets treue Dienste geleistet hatte, ihn zu sehen. Die länglichen, grünroten Augen leuchteten wie aus großer Tiefe und besaßen eine fremde Schönheit, der man sich nur schwer entziehen konnte. Kaum trafen sich jedoch ihre Blicke, ergriff Selle eine sonderbare Scheu, die ihn seine Hand zurückziehen ließ. Er fühlte sich müde und spürte, dass er Zilba nicht mehr reiten wollte.
Unruhig bewegten sich die anderen Pferde als Zilba einen bettelnden Laut ausstieß, der in anderen Ohren eher einem dunklen Krähenruf gleichen mochte. Seine gepanzerte Brust drückte gegen die Tür der Box, deren Holz augenblicklich zu knirschen begann.
Selle schob den Riegel zur Seite und ließ die Tür aufschwingen. „Ich habe dich lange genug da drin eingepfercht“, murmelte er, als der Körper der Kreatur aus der Box heraustrat. Die schwarzglänzenden Hufe zerrieben das Stroh unter jedem Schritt zu Staub.
Zilba reckte seinen Schädel und streckte seinen Körper, sodass die breiten Gelenke dankbar knackten.
Während er das Geschöpf noch gedankenversunken anschaute, öffnete sich plötzlich eine der anderen Türen und sowohl sein Blick, als auch der Zilbas ruckten herum.
Es war nur Natascha. Das Mädchen trug ihre hellbraune Arbeitskleidung, die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Vor sich schleppte sie in beiden Händen einen prall gefüllten Wassereimer. „Oh. Hallo, Marcel“, begrüßte sie ihn aufblickend. „Du hast dich aber schon lange nicht mehr blicken lassen. Zilba hat dich ganz schön vermisst.“
„Hallo, Natta“, er rang sich ein Lächeln ab und legte seine Hand an Zilbas Flanke. „Ich reite mit ihm aus. Kannst du mal eben das Tor aufmachen?“
In diesem Moment flog eine Einmeter große Gestalt durch die von Natascha offengelassene Tür herein. Ikrim blieb libellengleich in der Luft stehen und beobachtete sanft lächelnd, wie Selle auf Zilba aufstieg. Dann erst entdeckte sie Natascha und ging erschrocken in Deckung.
Erst als das Mädchen mit dem Tor beschäftigt schien, war sie pfeilschnell zu Selle herübergeschwirrt. Ihr Ton war ernst und besorgt: „Schick ihn nicht zurück, Selle. Wie sollen wir uns ohne seine Kraft verteidigen? Wenn...“ Selles entnervter Blick ließ sie verstummen. In seiner flüsternden Stimme schwang ein unmissverständlicher Ton: „Es ist nun bald ein Jahr her und rein gar nichts ist durch die Schlucht gekommen! Du hast nur Angst! Ich habe keine Lust wegen deiner lächerlichen Befürchtungen mein Leben lang -“
„Marcel?“ rief ihn Natta, die jetzt vor dem geöffnete Tor stand und fragend zu ihm herüber guckte.
„Ich werde es heute beenden.“ Mit diesen Worten ließ er Zilba durch das Scheunentor traben.
Verzweifelt schüttelte Ikrim den Kopf, wartete, bis Natascha sich dem Füttern der Tiere zuwandte und flog ihm dann in einigem Abstand nach.
Es war nur ein kurzes Stück Straße bis ein Trampelpfad in die freie Feldflur führte. „Ha!“ brüllte Selle und Zilba griff weit aus. Kraftvoll donnerten die schweren Hufe über die Erde. Jeder, der ihnen nachblickte, sah einen schwarzen Hengst wie einen Sturmwind über die Wiesen fegen. Es war längst nichts Ungewöhnliches mehr, hatte man doch den Jungen, der seinen Hengst ohne Sattel ritt, schon des Öfteren neugierig beobachtet.
Sie brauchten eigentlich nur zehn Minuten zur Schlucht, doch je näher sie kamen, desto mehr bekam Selle das unbestimmte Gefühl, dass etwas anders war. Der Boden wurde felsiger und dem Jungen rann eine Gänsehaut den Rücken hinab. Ein dunkles Grollen erschallte aus Zilbas Brust.
Er spürte es also auch.
Selle ließ Zilba seine Schritte verlangsamen. Auf den Wiesen hatte es noch so gewirkt, als wolle die Sonne jeden Moment durchbrechen, aber kaum hatten sie den Wald betreten, hatte sich ein Schatten über sie gelegt.
Zu gern hätte er Ikrim gefragt, doch falls die Elfe ihnen gefolgt war, würde es noch Minuten dauern, bis sie hier eintraf. Diese Zeit wollte er nicht durch Warten vergeuden.
Das Unterholz knackte unter ihren Schritten. Nun fiel es Selle auf.
Es war zu ruhig. Sein Blick wanderte wachsam umher. Zwar war er seit Langem nicht mehr hier gewesen, doch das brauchte er auch nicht. Kein Wald konnte morgens so still sein. Nur sachtes Blätterrauschen. Und selbst das wirkte, als käme es aus viel zu großer Entfernung.
Selles Blick sprang in Richtung Schlucht. Das durfte nicht sein!
Er war versucht, Zilba herumzureißen und allem, was bei der Schlucht auf ihn warten mochte, einfach den Rücken zu kehren. Es ging ihn im Grunde nichts an! Er hatte sein eigenes Leben! Dass er in Ikrims verfluchte Welt geraten war, war ein Missgeschick! Und dass er ihnen einmal geholfen hatte, verpflichtete ihn nicht, es wieder tun zu müssen!
Er merkte erst jetzt, dass Zilba stehen geblieben war. Seine verzerrten Augen blicken zu Selle zurück und in ihnen lag der Gedanke, den er mit größter Macht zu verdrängen versuchte:
Und wenn du es nicht tust, wer tut es dann?
Verzweifelt sah Selle in Richtung Schlucht zurück. Was von dort ausstrahlte, spürte der Junge fast körperlich als hauchfeine Kälte in seinem Gesicht.
Was half es, sich etwas vorzumachen? Er konnte versuchen, es jetzt aufzuhalten oder es würde wachsen und ihm folgen, bis er schließlich nicht mehr davonlaufen konnte. Fremden zu helfen, war eine Sache; sich selbst beschützen zu müssen, eine andere. Er hatte diese Pflicht, selbst wenn es für ihn bedeutete, nie ein normales Leben führen zu können.
Was aber noch lange nicht hieß, dass er es gern tat!
„Los, Zilba! Wir sehen uns das mal an“, ließ er sein Reittier antraben.
Und es war seltsam. Plötzlich war alles fast so wie früher.
Vorsichtig musste Zilba seine Hufe auf die zerklüfteten Felsbrocken setzen, die den Boden des engen Spalts ausmachten. Von außen wirkte die Kluft bei weitem zu schmal für Zilbas kräftige Gestalt. Selle hatte seine Jeansjacke enger um sich gewickelt. Die Kälte war stetig angewachsen und er fror seit einiger Zeit erbärmlich. Außerdem ärgerte er sich, keine Waffe bei sich zu tragen. Er musste sich wie schon so oft in den alten Zeiten auf Zilbas Kraft verlassen. Das Ende des Spalts erschien kurz hinter einem Rechtsabzweig. Sie traten auf den schmalen Vorplatz des Schluchtgrunds hinaus. Die Kälte nahm Selle nun fast den Atem.
Doch jetzt, wo er ihren Ursprung erkannte, wunderte ihn das nicht mehr.
Er erinnerte sich an dieses fantastische Bild, das es nach den Regeln der Vernunft nicht geben konnte.
Kurz hinter dem Eingang der Schlucht - man sah noch ein Stück weit die Flanken der steilen Felswände emporragen - eröffnete sich eine vollkommen andersartige Landschaft.
Und sie war weiß; strahlend weiß bis zum Horizont. Eisiger Wind blies ihnen Schneewolken entgegen und Selle fühlte kühle Flocken auf sein Gesicht treffen.
Der Anblick stimmte ihn zuversichtlich, bedeutete es doch, dass die Kälte natürlichen Ursprungs war. Und nicht, wie er zuerst angenommen hatte, die Aura einer finsteren Macht.
Beruhigend strich er über Zilbas spröden Schädel.
Er würde ihn nicht zurückschicken. Selle wusste nun, dass Ikrim richtig lag.
Diesmal hatten es zwar keine bösen Kräfte gewagt, in diese Welt einzudringen, doch die Schlucht hatte sich ohne Vorwarnung geöffnet. Und so konnte sie es wieder tun.
Sie mussten besser vorbereitet sein. Dazu würde wohl noch mehr gehören, als einen lausigen Wächter wie ihn zu haben. Es war wohl an der Zeit, sein Geheimnis mit anderen zu teilen. Er musste das Risiko einfach eingehen, wollte er nicht plötzlich allein vor einer Schlucht voller Feinde stehen.
Als Ikrim schließlich eintraf, brauchte es keiner Worte. Sie betrachteten die Schlucht und wussten beide, was zu tun war.