Die schwarze Turnhose
Die schwarze Turnhose
Die letzte Stunde der Klasse 1b hatte begonnen. Emil Leizer,
ein kurz vor der Pensionierung stehender Lehrer, war gutmütig, aber streng. Die Erstklässler hatten großen Respekt vor ihm. Mit seiner imposanten Gestalt und der Glatze stand er vor der Klasse und brachte den Schülern das Schreiben bei. Wenn er gute Laune hatte, wackelte er mit seinen Ohren und die ganze Klasse lachte darüber. „Lilo am Zaun“ stand an der Tafel und die Schüler versuchten, auf ihren Schiefertafeln diesen Satz in die vorgezeichneten Zeilen , mal nach links rutschend, mal nach rechts rutschend, hinein zu manövrieren. Das war gar nicht so einfach, denn in einem Alter von sieben Jahren konnte man zwar „Das ist das Haus vom Nikolaus“ malen, aber noch nicht richtig schreiben. Vor Eifer bewegten sich die Zungen der kleinen Schreiber von einem Mundwinkel zum anderen. In der Ecke stand Fritz Senk, der die Ernsthaftigkeit des Unterrichts noch nicht so ganz erfasst hatte. Fritzens Eltern waren Bauern, die am Rande der Stadt wohnten. Und Bauern waren für Städter eher ungehobelte Menschen, mit nicht gerade feinen Manieren. Also, Fritz störte durch Faxen machen die anderen Kinder und wurde von Lehrer Leizer an den Ohren in die rechte hintere Ecke, mit dem Gesicht zur Wand bugsiert. Für die kleine Tine wäre das eine ganz schlimme Sache, dort stehen zu müssen. Vor all den anderen Kindern – welche Blamage. Deswegen getraute Tine sich auch nicht, den Lehrer zu fragen, ob sie während der Stunde austreten gehen darf, denn dafür waren schließlich die Pausen da. Tine musste aber so nötig, dass sie einfach vor Angst, von Herrn Leizer ausgeschimpft zu werden und auch in die Ecke zu müssen, in die Hosen pullerte. Die schwarze Turnhose, die Tine unter dem Rock trug, hatte sie nach der Turnstunde gleich angelassen.und die war nun nass. Natürlich war das etwas ganz schlimmes, in die Hose zu machen. Aber Gott sei dank hatte es niemand gemerkt.
Tine musste aber nach Unterrichtsschluss auf ihre 4 Jahre ältere Schwester Witte warten, die noch Sport hatte. Witte hatte nämlich den Wohnungsschlüssel und Tine war noch zu klein, um alleine nach Hause gehen zu dürfen. Die Eltern waren beide arbeiten und die große Schwester musste die Aufsichtspflicht für die beiden jüngeren Geschwister, Peter und Tine übernehmen. Also wartete Tine brav mit ihrer bepullerten Turnhose auf einer Gymnastikbank in der Turnhalle auf Witte. Hier schaute sie zu, zwar mit Unbehagen der nassen Hose wegen,aber sich nichts anmerken lassend, wie Witte auf der Turnmatte Rolle vorwärts übte. Das konnte Tine noch nicht. Purzelbäume schlagen, dass konnte sie schon, aber Rolle vorwärts verlangte schon gezieltere Körperbewegungen. Überhaupt fand Tine ihre ältere Schwester beneidenswert, denn als Jüngste musste man sich schließlich immer nach den Älteren richten, was nicht immer einzusehen war. Da konnte man halt nichts machen.
Nun war auch diese Stunde um. Eine Schulstunde dauerte immer 45 Minuten und es ging endlich nach Hause. An der Ecke, vor der Schule befand sich ein Bäcker. Da holte Witte für sich und Tine noch ein Salzgebäck für 5 Pfennige das Stück. Beide hatten nämlich schon wieder Hunger bekommen, weil die beiden Stullen, die jeder mitbekommen hatte, schon lange aufgegessen waren. In dem Alter hatte man sowieso immer Hunger. Auch bei Logattes, ein Lebensmittelgeschäft, wurde noch mal Halt gemacht. Hier gab es u.a. Sauerkraut im Fass, lose Salzgurken und große Bonbongläser .Witte holte noch eine Stange Lakritze für 10 Pfennig. Die hatte sie in ihrer Federmappe noch gefunden. Dafür sollte zwar ein Rechenheft gekauft werden, aber das Alte hatte noch einige unbeschriebene Seiten. Das reichte noch eine Weile. Die Lakritzstange wurde gerecht geteilt. Jeder bekam ein gleich großes Stück. Die süße, klebrige Stange wurde mit Hochgenuß verzehrt. Spuren von Lakritze befanden sich danach meist in den Mundwinkeln in Form von schwarzer Spucke. An der Ecke Thomas-Müntzer-Str. befand sich der Schreibwarenladen Rätiger. Aber da mussten Witte und Tine heute nicht reingehen, weil die 10 Pfennige für das Heft schon in Lakritze umgesetzt worden waren. Nun bogen die beiden in die Schillerstraße ein, wo die Siedlung, in der die Geschwister wohnten, lag. Ein Paradies für Kinder. In der Siedlung war kein großer Straßenverkehr und man konnte herrlich in den grünen Innenhöfen „Räuber und Schande“ oder „Eckeneller, wo kommst du her?“ spielen. Die beiden Mädchen bummelten sowieso immer auf dem Nachhauseweg und schlenderten an dem Lattenzaun, der sich entlang der Schillerstraße 3 – 6 befand, vorbei. In der Hecke, die sich hinter dem Zaun befand, musste man erst einmal die Ameisen beobachten, die geschäftig im Sand unherwuselten. Das war ein Gewimmel. Hunderte von Ameisen krabbelten auf dem Boden hin und her, bewegten kleine Sandkörner und winzige Holzteile, verschwanden in kleinen Löchern, oder versuchten an den Beinen hoch zu krabbeln, wenn man zu nah an sie ran kam.
Witte drängte nun zur Eile, denn Mutti kam auch bald von der Arbeit nach Hause. Endlich zu Hause, zog Tine ihre inzwischen nur noch feuchte Turnhose aus und legte Sie auf das Fensterbrett des Küchenfensters, um sie in der Sonne zu trocknen. Dass die Turnhose nach Urin riechen könnte, konnte Tine sich mit ihren sieben Jahren noch nicht ausrechnen. Das musste natürlich heimlich geschehen, sonst gab es Mecker von Mutti. Die Sonne schien aber schön kräftig, so dass die Hose ziemlich schnell trocknete. Auch Peter, der 2 Jahre älter war als Tine, durfte davon nichts mitbekommen, denn er hätte auf jeden Fall gepetzt. Aber der trieb sich ohnehin wieder irgendwo rum. Mutti kam gerade mit dem Fahrrad um die Ecke gefahren, als Tine die trockene Turnhose wieder angezogen hatte. Das war noch mal gut gegangen.