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Die Seifenblase
Ein grausiger Winter stand vor der Tür. Noch war er nicht vom Himmel gefallen, noch wütete er nicht.
Er saß im Bus. Gerade hatte er sich von seiner Freundin verabschiedet, jetzt ging er nach Hause. Gerne kostete er vom Leben, wenn er ihren Kopf auf seiner Brust spürte, gerne lag er bei ihr. Diese Beziehung blühte noch, sie war jung, so wie dieser Tag; er hat sich früh losgemacht, etwas tat ihm weh in jener Brust.
Das Liebesspiel verlangte seinen üblichen Preis. Ungebeten schöpfte es mit riesigem Löffel von ihrer Energie, von der Kraft ihrer nackten Leiber. Aber sie gaben es gerne her, sie ließen gerne von sich schöpfen. Der Akt begann zu holpern, er fühlte, etwas sog ihr die Leidenschaft aus den Gliedern. Ihre Hände schlafften weg, er genoss diesen Augenblick, er sah zufrieden ihr schwaches Lächeln. Wie sanft gab sie sich ihm, wie sanft blickte sie zu ihm hoch! Es machte auch ihn müde, diese Augen forderten jetzt eine zärtlichere Hingabe. Doch etwas blockierte ihn: War auch für sie die süße Knospe jenes Spiels geöffnet worden? Hatte auch sie die höchste Ekstase erlebt? Vorsichtig und leise fragte er sie: Nie hat sie von dieser süßesten Frucht gekostet, nie gab man ihr genug dafür. Dass nichts an ihm fehlte, wusste er, ihre Augen sprachen es. Und trotzdem ging etwas in seinem Innersten kaputt, Mitleid floss in seinen Adern. Schwer lastete es in ihm, giftig wie Blei verdarb es sein Gemüt. Nun blickte auch er sanft, aber seine Augen umhüllte eine Trauer. Welche Schurken vergingen sich einst an ihr, an diesem so liebevollen Menschen? Tragen sie denn keine Schuld mit sich, begreifen sie nicht, dass sie Unrecht ihrem Fleische taten? Immer gab sie, nie öffnete man auch ihr eine Hand, um ihr Freude zu schenken. So konnte er nicht, so war er nicht. Und nun fürchtete er, nicht dazu befähigt zu sein, genug geben zu können. Würde ihr diese Frucht mit ihm auf ewig verborgen bleiben, würde nicht auch sie einmal vom Baume der Lust fallen, in ihren Schoss?
Man schwieg, man lag nebeneinander, ihr Kopf auf seiner Brust. Dieses Mal kostete er nur ungern vom Leben. Bitter schmeckte es, bitter von all diesem Mitleid, bitter von all diesen Gedanken.
Zuzeiten dieser Erinnerungen saß er noch immer im Bus. Sie füllten seinen Kopf und machten es ihm schwer, zu sein. Vielleicht trugen die Anderen keine Schuld mit sich, vielleicht traf es sie nicht. Ihn jedoch traf es, und obwohl keine Belastung zu dieser Tragik nötig gewesen wäre, zerrte etwas an seiner Seele. Kann sie ihm verzeihen, dass ihm diese Geschichte weh tut, kann sie ihm verzeihen, dass er ein böses Mitleid für sie empfindet? Oh, wieso machte er sich selbst immer alles so schwierig? Wieso konnte er nicht einfach so lieben, wie es die Glücklichen taten? Eine Angst erfüllte ihn. Keine Beziehung ist für eine allzu große Trauer geschaffen, keine Beziehung ist gegen die Trübsal gerüstet. Die Liebe ist stark, stärker als all die anderen Gefühle, die er kennt, aber sie ist auch sehr empfindlich. Eine hübsche Seifenblase, so stellt er sie sich vor. Man entdeckt viel Schönes auf ihrer schimmernden Oberfläche, viel Entzückendes, warm und privat ist ihr Innen. Doch dünn und sensibel schützt ihre Haut diese traumstille Welt. Strapazen zerreisen sie, dann ist alles hin.
Er wusste ja, jede Strapaze, jede unangenehme Stunde wäre sein Verschulden; als sie sich kennenlernten, erahnte er seine Liebe zu ihr bereits. Lange studierte er, lange horchte er auf sein Innerstes: darf er ihr sein Wesen zumuten? Darf er sie in sein wirres Leben miteinbeziehen, ist sie stark genug dafür? - Ist überhaupt jemand stark genug für ihn? Denn er litt an einer Krankheit, sie hatte sich in das unschuldige Fleisch seiner Seele verbissen, schmatzend knabberte sie an ihm wie ein unschönes Getier. Es ging viel wund in seinem Herzen, es schlummerten viele graue Erinnerungen in seinem Gehirn. Ist ein kranker und verletzter Mensch denn überhaupt dazu fähig, eine Liebe zu teilen?
Blass strahlten seine Augen, sie blickten nach draußen, währenddem der Bus fuhr. Sie sahen die Welt in der er lebte. Heute jedoch fielen ihm besonders die Birken auf, wie leblos ihre Farne zum Boden hin hingen, wie unberührt sie sich vom eisigen Winde wiegen ließen. Wie missbraucht diese Bäume nur ausschauten! Wie zerzaust ihre Kronen durch den dichten Nebel brachen! War denn heut’ alle Freude ausgestorben? Gab es den kein Glück mehr? Nur noch dieses Schweigen, nur noch diesen Nebel…!
Zuweilen wenn sie gute Stunden genossen, dann werweißelten sie über ihre gemeinsam Zukunft, die Zukunft ihrer heutig jungen Liebe. Ah, wohlig und kindlich sind diese Träumereien, heiter lachten sie miteinander. Erst gestern erlebte er solche Stunden, eine, zwei, drei und mehr. Er liebte sie dafür umso mehr.
Weh, und jetzt fühlte sich alles an, als liege es bereits im Sterben, die ganze Liebe, die ganze Träumerei! Selbst sein Leben bekam runzeln wie ein grauer, alter Mann. Würde sie ihn deshalb verlassen? Er würde sie ja verstehen, man darf niemandem fremde Laster zu tragen geben! Mit Tränen würde er es ihr verzeihen, mit Tränen würde er akzeptieren. Sein dummes Wesen bereuend ginge er dann alleine wieder weiter, durch das Leben, durch das Dasein, durch diese triste Welt.
Gerne wäre er ausgestiegen, den Weg zu ihr zurückgelaufen, um ihr zu sagen, dass es ihm leid tut, dass ihm alles schrecklich leid tut, dass er sie liebt und jede mögliche Sekunde ihrer gegebenen Zeit saugen möchte. Doch er stieg nicht aus, sein plötzliches Wiedererscheinen wäre unbeholfen und überrumpelnd gewesen, er hätte sie bedrängt und auch keine Bedrängnis verträgt eine Seifenblase. Es ist, als hätte man ihm einen stumpfen Pflock durch Brust und Herz gestoßen, es rinnt kein Blut, er lebt damit, sein Herz ist verkrampft.
Unwillig steigt er aus, als der Bus ankommt. Draußen wartet das Leben, fordert Kraft, fordert Munterkeit. Diese Dinge aber hat er in jenem Moment nicht. Konnte diese Fahrt nicht ewig dauern, konnte er sein Dasein nicht für immer seinem Nachdenken und Bereuen zuwenden? Denn einfacher ist es, zu leiden, als vom Leiden zurück ins Licht zu finden… für sie würde er es tun.