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Das Für und Wider eines Schwangerschaftsabbruchs beschäftigt die jugendliche Protagonistin Marie.
Die Spinne
Rot! Zwei rote Streifen. An einem grauen, nebligen Novembertag. Marie hielt den Teststreifen noch einmal vor das Fenster. Kein Zweifel möglich. Sie knipste das Licht an, obwohl es noch nicht einmal drei Uhr war. Vielleicht was falsch gemacht. Bestimmt. Marie las sich die Gebrauchsanweisung ein weiteres Mal durch. Ein drittes, viertes Mal. Der Morgenurin, die Wartezeit – sie hatte alles genau befolgt, wie es in der Gebrauchsanweisung verlangt worden war.
Verwirrt sah Marie aus dem Küchenfenster in den Hinterhof hinein. Ein Gefängnis. Garageneinfahrten und Tore, Wäschestangen und Müllcontainer füllten den mit Waschbetonplatten asphaltierten Raum, dessen Zufahrt eine Stahltür verbarrikadierte.
Verwirrung – das passte nicht zu ihr! Sie kam sonst doch ganz gut zurecht. Früh selbstständig, selbstbewusst, ja, sie kam klar.
Sie dachte an einen Kaffee. Oder einen Sekt. Partys...noch nicht einmal eine Zigarette! Nicht einmal eine Zigarette würde gehen! Verzicht! Wütend trat sie gegen den Küchenstuhl.
Eine Unachtsamkeit reichte, um alles aus der Bahn zu werfen. Ein Moment der Unachtsamkeit.
Marie sah wütend auf ihre Silhouette im schlecht geputzten Fenster.
Und die Schule? Ihre Schule - sie hatte den Abschluss im nächsten Jahr fest für sich eingeplant. Eine Ausbildung, vielleicht zur Kosmetikerin, Selbstständigkeit, oder auch ins Büro – das war alles möglich gewesen. Und nun? Nun wurde ihr eine Entscheidung aufgedrängt. Wie sollte es mit der Schule gehen, wer konnte helfen?
Ihre Eltern? Der Stolz sagte Nein. Zudem arbeiteten beide. Aber immerhin: Das Verhältnis zur Mutter hatte sich seit Maries Auszug vor fünf Wochen zumindest wieder etwas verbessert.
Und Marc? Wie würde der reagieren? Er hatte sie bei sich aufgenommen, als der Streit mit ihren Eltern eskaliert war. Marc bezahlte die winzige Ein-Zimmer-Wohnung von seinem mickrigen Gehalt als Mechatroniker-Azubi. Sie konnte sich oft auf ihn verlassen, manches störte. Bisweilen nervte sie sein Gerede, sein Geprotze, sein Interesse für Autos.
Und was war das für eine Geschichte gewesen, neulich? Marc war die Nacht fort geblieben. Er hatte es auf den Alkohol geschoben und gesagt, es sei nichts passiert. Was weiß man schon genau vom anderen?
Sie siebzehn, fast volljährig, er einundzwanzig. Er hatte sie aus ihrer Einsamkeit entführt. Sie fühlte sich sicherer mit ihm, mit einem Freund an ihrer Seite.
Würde ein kleines Wesen Marcs weiche Seite hervorzaubern? Wäre es zu dritt nicht wunderschön, behütet? Eine kleine Familie? Jung sein hätte auch seine Vorteile.
Mit einem Mal bemerkte Marie, wie eine kleine Spinne sich unten vom klebrigen, ungeputzten PVC-Boden das Tischbein hinaufhangelte. Am seidenen Faden hängend zog sich das kleine Geschöpf die Tischplatte hinauf. Marie unterdrückte den ersten Impuls, ihrer Wut freien Lauf zu lassen und die Spinne zu erschlagen. Sie ekelte sich nicht vor Spinnen. Marie hatte Mut, fürchtete sich nicht vor den Meinungen anderer. Aber man erschlägt nicht so ein kleines Geschöpf, ging ihr durch den Kopf.
Während sie sich nun doch eine Zigarette anzündete, beobachtete sie die Spinne unermüdlich. Die folgte ihrem Weg über Brotkrumen hinweg zum Fenster. Man tötet nicht so ein kleines Geschöpf!
Draußen hörte sie einen Schlüssel in der Tür drehen. Marc kam herein.
Als er in die Küche kam, begrüßte er sie mit einem flüchtigen Kuss. Da sah er die Spinne auf dem Tisch, schlug einmal, bevor Marie reagieren konnte, kurz und heftig mit der flachen Hand auf sie ein, sodass ein feuchter, matschiger Fleck auf dem Küchentisch zurückblieb.
Scheißvieh! Mach das mal weg, lachte er, nahm dann aber selber ein Küchentuch und wischte den Fleck fort.
Dann begab er sich in den Nebenraum, der den beiden als Wohn- und Schlafzimmer diente und schaltete den Fernseher ein.
Marie saß weiter am Küchentisch und betrachtete nachdenklich den schwarzen Punkt, der eben noch eine Spinne gewesen war. Sie ließ den Teststreifen unauffällig in ihre Hosentasche gleiten. Sie wusste, dass das kleine Herz des Wesens bereits in ihr schlug. In zwei Monaten würde sie die kleinen Füße strampeln spüren. Oder auch nicht. Die Entscheidung würde sie alleine treffen. Marie ahnte, dass diese Entscheidung sie ihr ganzes Leben lang begleiten würde. So oder so.