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Die Stadt in den Wolken
„Hey du Winzling! Pass doch auf!“, beschwerte sich der turmhohe Luftgeist bei Silas. „Tschuldige“, brummelte dieser zurück. Silas hatte wieder einmal mit Staunen die herrlichen Häuser aus glänzendem Marmor betrachtet. Arim b´Anan, die Stadt in den Wolken schaffte es sogar, die eigenen Bewohner zu faszinieren. Dreißigtausend Fuß über dem Meeresspiegel blickte sie majestätisch zur Erde hinab. Für Silas und etwa zehntausend andere Sylphen und Sylphiden war Arim b´Anan der Nabel der Welt. Nicht zuletzt, weil hier alles immens hoch war. Und Höhe war für die Luftgeister der Wolkenstadt wichtiger als alles andere.
Dies war im Übrigen ein Problem von Silas. Er war nicht hoch. Eher klein – was dazu führte, dass er es nicht leicht hatte in der höhenfanatischen Welt der Luftgeister. Allerdings besaß er zahlreiche Eigenschaften, die dieses vermeintliche Übel kompensierten. Magisch „hoch“ begabt und dazu noch „hoch“ intelligent, wussten ihn seine Freunde und Bekannten durchaus zu schätzen. Seinen Lebensunterhalt verdiente Silas in der stadteigenen Armee, was viel Abenteuer und Aufregung mit sich brachte. Feuergeister, Salamander und Vulkane machten diese Armee notwendig. Zwar griffen sie selten Arim b´Anan selbst an, kleine Überfälle auf die Luftgeister waren dafür nahezu an der Tagesordnung.
Er befand sich gerade auf dem Weg nach Hause, grübelte entspannt über irgendwelche Höhenrekorde nach, als er sie sah. Ihm stockte der Atem – ganz untypisch für Sylphen. Silja wohnte eine Straße weiter, direkt neben dem Marktplatz. Sie hatten sich letztes Jahr beim Höhenfest kennen gelernt und er war damals schon ganz närrisch gewesen.
`Diesmal wage ich es´, dachte Silas entschlossen. `Wenn ich nur den richtigen Moment erwische´, dachte er weiter.
„Hallo“, hauchte Silja ihm entgegen.
„Hallo“, gab er einfältig zurück.
Und vorbei, sie war vorübergeschwebt. Silas biss sich auf die Unterlippe.
`Wieder vermasselt. So nicht´, dachte er, fasste sich ein Herz und rief: „Silja!“
Sie blieb stehen und drehte sich erstaunt um.
„Ja?“
„Ich bin in militärischer Mission unterwegs um deine Sicherheit zu gewährleisten.“
„Meine Sicherheit gewährleisten?“, fragte die Sylphide erstaunt, „welche Gefahr droht mir denn?“
„Keine – und damit das so bleibt, würde ich heute Abend gerne persönlich als dein Leibwächter fungieren, ganz in Zivil natürlich, damit niemand Verdacht schöpft.“
Silja lächelte. „Oh, das klingt natürlich verlockend, der Sicherheit wegen meine ich“, gab sie schmunzelnd zurück. „Könnten wir die Mission auch auf morgen Abend verschieben? Heute bin ich schon zum Hochstapeln und Wahrsagen verabredet.“
Silas antwortete strahlend: „Sagen wir acht Uhr, hoch oben bei dir?“
Er konnte sein Glück kaum fassen.
„Gerne, um acht bei uns hoch oben auf dem Dach!“, gab Silja augenzwinkernd zurück und machte auf dem Absatz kehrt in Richtung Marktplatz.
Silas blieb noch einige Sekunden wie verzaubert stehen - von einem Hochgefühl ergriffen - bis er von unten gegen ein Tarvernenschild krachte...
Genau 28 Stunden 10 Minuten und 4 Sekunden später stand Silas gebügelt und gekämmt auf Siljas Haus. Er war schon ein bisschen aufgeregt, aber kein Wunder, da er doch vergangenen Sommer erst seinen 274. Geburtstag gefeiert hatte. Die Dachluke öffnete sich und Silja schwebte elegant in einem schlichten, figurbetontem Kleid auf ihn zu. Ganz Gentleman reichte er ihr den Arm und ein unvergesslicher Abend nahm seinen Lauf.
Abends war die Stadt voller als am Tage. Überall wurden Glücksspiele und Wettkämpfe veranstaltet, um die Abenteuerlust der Sylphen und Sylphiden zu erfüllen. Meist ging es nur um kleinere Einsätze, aber es kaum auch schon vor, dass ein Luftgeist seine Freiheit verspielte – zumindest für einen gewissen Zeitraum. Wenn nämlich jemand bei einem Glücksspiel mehr einsetzte als er besaß, wurde er in eine Flasche, Teekanne oder sonstiges Gefäß gesperrt und hinunter auf die Erde geworfen. Dort musste er dann demjenigen Wesen, welches ihn fand, drei Wünsche erfüllen, um anschließend wieder nach Arim b´Anan zurückkehren zu dürfen. Hier wurde schon der ein oder andere Haken ersichtlich. Manchmal fiel das Gefäß irgendwo ins Meer und es konnte Jahrhunderte dauern, bis ein intelligenter Fisch oder eine Nixe vorbei kam und den Gegenstand an sich nahm. Je billiger der Gegenstand, in dem der Luftgeist gefangen war, desto unwahrscheinlicher eine Rettung. Der zweite Haken war, dass die Wünsche ordentlich erfüllt werden mussten, andernfalls ging das Spiel von vorne los. Und zu guter Letzt war es nicht ratsam von einem Feuergeist, Salamander oder Vulkan entdeckt zu werden, die nur allzu gerne Wünsche äußerten wie „beiß dir deinen Arm ab“ oder „schluck mal deine Zunge runter“ und dies noch als äußerst spaßig empfanden.
≈≈≈
Der Abend hatte für Silas gut begonnen. Er umgarnte Silja, als würde es um sein Leben gehen und die Wirkung blieb nicht aus.
„Einen so angenehmen Leibwächter hatte ich bisher noch nicht“, scherzte Silja und schenkte ihm dabei ein verführerisches Lächeln. Gerade wollte Silas zu einer charmanten Antwort ansetzen, als er gerufen wurde.
„Hey Winzling! Du schon wieder. Interesse an einem Spielchen?“, höhnte eine Stimme hinter ihnen. Silas blickte zurück und erkannte den riesigen Sylphen, den er auf dem Nachhauseweg angerempelt hatte.
„Lass mal stecken. Ihr habt ja doch nichts zu bieten!“, gab Silas leicht säuerlich zurück.
„Nichts zu bieten sagt der Winzling!“, feixte der große Luftgeist und brach mit einigen Kumpanen die neben ihm standen in Gelächter aus.
„Kein Gold? Oder Angst dich zu blamieren?“, setzte er nach. Silja wollte ihn schon weiter zerren, aber der Hieb hatte gesessen.
„Also gut, wenn ihr Schachköpfe alles verlieren wollt, kann mir nur recht sein!“, gab er selbstbewusst zurück. Das Spiel begann um neun.
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Etwa um halb zehn fand sich Silas in einer verbeulten silbernen Teekanne wieder. Natürlich hatte er über alle Maßen versucht, beim Glücksspiel zu beeindrucken. Hatte hervorragend funktioniert. Bis zu dem Punkt, als ihm das Gold ausgegangen war. Aber ganz umsonst war es auch nicht gewesen. Tief beeindruckt über seinen Einsatz hatte ihm Silja einen Abschiedskuss auf die Lippen gehaucht. Was waren da ein paar Jährchen in einer Teekanne. Die sitze ich doch auf einer Pobacke ab, versuchte Silas sich selbst ein wenig Mut einzuflößen.
„Komm mich besuchen, wenn du zurück bist!“, hatte Silja ihm hinterher gerufen. Er spürte, wie sich seine nach Öl riechende Behausung in Bewegung setzte und eine leichte Übelkeit in seiner Bauchgegend hinterließ.
Bumm, krach, buff machte es, als die alte Kanne auf den steinigen Kieselstrand landete. Von den harten Landungen hatte Silas bis dahin noch nichts gehört. Und obwohl er völlig dematerialisiert war, schmerzte seine komplette luftige Substanz. Immerhin ein Strand dachte der Luftgeist erleichtert, da wird man immer schnell gefunden. Er machte sich schon startklar für die Öffnung seines Gefäßes und wartet gespannt auf die Ankunft seines Retters.
≈≈≈
Nach endlosen 476 Jahren war es dann soweit. Bis dahin hatte Silas schon jegliche Hoffnung aufgegeben. Bilder von unbewohnten Inseln hatten jahrelang seine Albträume gestaltet und ihm das Leben in der kleinen Blechbüchse zur Hölle gemacht. Aber all das war sofort vergessen, als er registrierte, wie sein verhasstes Gefäß hochgehoben wurde.
„Lass die Blechbüchse liegen und hilf mir mit Fischen!“, hörte Silas eine Stimme rufen. Er bemerkte aufgeregt, wie der Deckel seiner Kanne sich bewegte. Ein Stück, noch ein Stück, ein bisschen noch – nichts geschah. Er flog durch die Luft und sein Gehäuse landete erneut im Kies. Entsetzen packte ihn. Das ist ja wohl die Höhe, dachte er. Wieder 500 Jahre warten? Doch plötzlich wurde die Teekanne gegen einen Fels gespült und der verklemmte Deckel gab nach.
Silas war frei! Er rauschte durch die Öffnung und stieß einen Freudenschrei aus! „Juchuuuuu, ich bin frei!“ brüllte er über den Strand. Gerade wollte er einen Orkan heraufbeschwören vor Freude, als ihm gewahr wurde, dass er sich unnatürlich schlapp fühlte. Das musste die lange Zeit in Gefangenschaft sein, versuchte er sich zu beruhigen. Erneut setzte er an um einen Sturm zu beschwören – wieder nichts. Langsam bekam er ein höchst flaues Gefühl, dort wo bei einem Menschen der Magen gewesen wäre. Kein Zweifel, seine magischen Fähigkeiten hatten sich in Luft aufgelöst oder so ähnlich. Und auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er hatte keine Wünsche erfüllt – und konnte es auch gar nicht, weil die verdammte Kanne von selber aufgegangen war.