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Die Suche nach Nähe
„Fiona, ich habe nicht viel Zeit. Meine Frau und ich haben heute Hochzeitstag und wollen Essen gehen. Also beeil dich bitte mit dem Blasen,“ raunt mir mein treuester Stammkunde, Herr Brückner, zu. Mir macht es nichts aus die Sache schnellst möglichst zu beenden, schließlich wird mir übel wenn ich nur daran denke, dass der Mann der in wenigen Sekunden in meinem Mund kommt, später seine Frau zärtlich umgarnen wird.
Ich tue es nach seinem Standard. Mit der Zeit kommt die Erfahrung. Das ist wohl in jedem Lebensbereich so.
Ich tue ganz erregt und schaue ihn unschuldig an.
Das mag er. Einmal hat er mir erzählt, seine Frau sei ihm zu dominant, er möchte ein Mädchen, das sich ihm vollkommen unterwirft und keine Fragen stellt. Sie soll nur tun, was er will.
Und dieses Mädchen bin ich für ihn.
Während ich noch in Gedanken schwebend weitermache, ist er schon gekommen. „Hör auf Fiona, ich muss jetzt gehen. War okay,“ sagt er gehetzt.
Ich setze mich auf den Sessel der direkt neben meinem Bett steht und schaue ihm beim Anziehen zu. Er sieht ganz gut aus für Ende vierzig mit seinen schwarzen Haaren, der in Form gehaltenen Figur und den blauen Augen. Ich warte bis er aus dem Zimmer ist und zünde mir dann eine Zigarette an. Es tut gut den Rauch zu spüren. Wenigstens merke ich, dass alles real ist.
Als ich mein Abitur absolviert hatte, war ich versessen darauf, Jura zu studieren. Ich wollte es meinem Vater gleich tun und lernte viel, um den schweren Stoff an der Uni zu fassen. Ich wollte so sein wie Papa. So stark, treffsicher und intelligent. Oft unterhielten wir uns über Erlebnisse aus seinem Berufsleben. Er erzählte so unterhaltsam, als ob er von Geburt an Jura im Blut hatte. Das bewunderte ich so sehr an ihm.
In meiner Freizeit traf ich mich mit Freunden und ging auf Partys. Das Leben eines Durchschnittsmenschen eben.
Ich mache die Zigarette aus und betrachte mich in dem gegenüberliegenden Spiegel. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und entspreche dem Typ eines Mitteleuropäers. Groß, blond, blaue Augen und helle Haut. Verkauft sich gut.
Eigentlich könnte mir das egal sein. Meine Mutter ließ meinen Vater und mich im Stich, als ich noch im Kindergarten war. Ich kann mich nicht genau an sie erinnern. Dafür war ich zu klein. Meinen Vater bat ich immer wieder, von ihr zu erzählen.
Eine Erinnerung drängt sich in mir auf.
Ich sitze auf unserem kleinen Balkon, in meinem Elternhaus. Es ist schon spät, doch ich will auf Papa warten. Als er endlich kommt strahlt er mich an, aus diesem warmherzigen Gesicht.
Ich muss schlucken, in meinem Hals hat sich ein Kloß gebildet. Ich will die Erinnerung verdrängen, doch sie läuft einfach wie ein Kurzfilm vor meinen Augen ab.
Er sieht mich sehr eindringlich ein als ich ihn nach meiner Mama frage. Dann beginnt er zu erzählen: „Fiona, deine Mutter war wie das Wetter. An einem Tag sonnig, angenehm und erheiternd. Doch schon am nächsten Tag konnte sie wie ein Dauerregen sein, ein Gewitter loslassen. Sie war faszinierend in ihrer Art. Ich war gebannt von ihrem Überschwang. Von der Energie die von ihr aus ging. Ich wollte sie an mich binden. Sie nicht mehr verlieren. Es schien als ob sie ihr erlebnisreiches Leben gegen das Familienleben problemlos eingetauscht hätte. Als ob sie bereit war für mich, später auch für dich, auf ihre uneingeschränkte Freiheit zu verzichten und Pflichten annehmen zu wollen. Doch ich habe mich getäuscht. Sie war nicht bereit die Abenteurerin in ihr eingehen zu lassen. Ich habe ihr die Freiheit genommen und dir deine Mutter.“ Sein Blick wurde trüb. Ich spürte, dass er sich große Vorwürfe machte und nahm seine Hand.
Der Film wurde schwächer, doch mir kommt es vor als ob diese schmerzliche Erinnerung nicht aufhören will.
Ich spüre wie ich wütend werde. Wütend auf meine Mutter. Warum hat sie uns allein gelassen?
Warum hatte sie mich dann überhaupt auf diese Welt gesetzt?
Warum durfte ich sie nie kennen lernen?
Diese Frage stelle ich mir immer wieder, doch die einzige Person die das beantworten kann, existiert nur noch in der Vergangenheit für mich.
Papa hat sich, während ich aufwuchs, bezaubernd um mich gekümmert. Als ich in die dritte Klasse kam, heiratete Vater. Er begann sich zu verändern. Seine klaren, aber warmherzigen Blicke wurden immer stumpfer. Er hatte nicht mehr sehr viel Zeit für mich.
Er stritt oft mit meiner Stiefmutter und es ging immer um Geld. Ich wüsste es nicht so genau, wenn es nicht bis zu meinem Abitur immer das gleiche gewesen wäre. Mein Vater verdiente gut, doch so gut konnte man nicht verdienen, dass es meiner Stiefmutter gereicht hätte.
Ich möchte nicht darüber nachdenken, doch der Satz, der mein Leben veränderte, hat sich für immer in mein Gedächtnis geprägt: „Ihr Vater hat eine Überdosis Tabletten genommen. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“ Es gab keinen Abschiedsbrief, kein Wort zu seiner Tat, kein Detail was ihn in eine so aussichtslose Situation gebracht hat. Innerlich fühle ich, dass ich Schuld daran trage. Ich hätte doch merken können, wie schlecht es um ihn steht. Man sagt, ein Mensch gibt vor seinem Selbstmord Zeichen, um verständlich zu machen, dass man Hilfe braucht. Warum hab ich diese Zeichen nicht bemerkt? Warum hab ich den einzigen Menschen sterben lassen, der sich um mich gekümmert hat und den ich so sehr liebte?
Ich stehe langsam vom Sessel auf und ziehe mich um. Schließlich will ich immer alles geben. Ich will wenigstens in meinem Beruf gut sein. Anstandslos. Mir entgeht kein Wunsch eines Kunden.
Papa hat mir keine große Erbschaft hinterlassen. Das stört mich nicht weiter, aber ich frage mich, warum er mir niemanden dagelassen hat, der mich liebt.
Seit dem Tod suche ich nach Nähe. Nach Zärtlichkeit.
Und habe sie in einer merkwürdigen Form gefunden.
Gerade als ich fertig mit Umziehen bin geht meine Tür auf und der stämmige Herr Düpfl kommt herein. „Oh Fiona,“ säuselt er, „du siehst fantastisch aus in diesem Korsett.“
„Danke!“, antworte ich in meiner rauchigsten Stimmlage.
Während des Verkehrs fühle ich mich fantastisch. Ich schließe die Augen und konzentriere mich nur an diese intime Situation. Die Berührungen sind wie Liebesbotschaften. Ich fühle mich auf eine seltsame Art geborgen.
Nach dem Akt liegt er erschöpft neben mir. Ich fühle mich etwas befangen, doch habe ich mich schon an das Bild des ständig wechselnden Mannes neben mir gewöhnt. Die Nähe, nicht der Mann ist wichtig.
„Wie viel schulde ich dir?“, frägt er etwas außer Atem.
„Das Übliche“, antworte ich knapp.
Nachdem er gegangen ist, zünde ich mir eine Zigarette an. Der Rauch tut gut. Ich habe meine Art von Liebe gefunden.
Es ist eine körperliche Liebe, aber besser als keine. Ich habe viele Kunden und verdiene kein schlechtes Geld.
Mein Papa ist tot, er muss sich also nicht für mich schämen. Er kann stolz sein, dass ich ohne ihn kann. Und ohne meine Mutter. Ich muss ohne sie können. Ich will eigentlich nicht ohne sie können.
Ich habe mein Studium abgebrochen. Fakten konnten mir nichts geben. Vielleicht war es nicht die richtige Entscheidung mit allem zu brechen, aber es hilft mir wenigstens, allem zu entfliehen.
Ich mache die Zigarette aus und überlege, womit ich mich ablenken könnte. Mein nächster Kunde kommt erst in einer Stunde. Ich beschließe, etwas Essen zu gehen.