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Die Suche
Jonas Hofmeister war ein träumerischer junger Mann. Mit dem blassen Teint, seinem streng gescheitelten, aschblonden Haar, seinen Augen, die in ihrer verwaschenen Farbe immer ein wenig traurig in die Welt zu blicken schienen, und der Nachlässigkeit, mit der er sich kleidete, war er ein gutes Beispiel für den verarmten Studenten, der sich in der fremden Stadt nur deshalb durchs Dasein schlug, weil vage, kaum zu erahnen, ein besseres Leben in der Zukunft lag.
Und so hatte es auch immer den Anschein, wenn er durch die Straßen ging, dass sich die Leute und Gegenstände, ja sogar die Laternenpfähle und Häuser an ihm vorbei schoben, anstatt dass er die Vorwärtsbewegung vollzog.
Seine Familie war zu Hause. Freunde hier hatte er nicht, und er tat sich schwer, neue zu finden. Das entsprach nicht seinem Wesen.
So pflegte er distanzierten Umgang mit seiner Vermieterin, den Mitstudenten und Lehrern. Auf Abstand bedacht, aber durchaus freundlich, so wie es seinem Charakter entsprach.
So kam es, dass er in der Stadt zwar allgemein beliebt war, bei seinen Kommilitonen anerkannt und geachtet. Auf der anderen Seite wusste man nicht mehr als belanglose Daten über den Menschen Hofmeister und nicht mehr.
Er war kein Lebemann, war zufrieden mit dem Bett, das er sich leisten konnte, und wenn er an einem Tag nicht satt wurde, klagte er nicht. Die neueste Mode war ihm egal.
Es war nicht so, dass er traurig wäre darüber, nicht denselben Lebensstandard zu haben wie die Menschen um ihn herum. Er nahm es einfach nicht wahr, es kam ihm gar nicht der Gedanke, dass es ihm schlecht gehen könnte.
So stand er morgens auf, ging in die Uni und grüßte freundlich, wen er auf seinem Weg traf. Am Nachmittag dann, wenn das Leben langsam aus den Büros in die Straßen schwappte, bediente er in einem kleinen Café zwei Straßen entfernt von seinem Zimmer. Hier war er ebenso freundlich zu den Besuchern, ebenso höflich, aber ebenso unbestimmt wie immer.
Und abends dann saß er in seiner stillen Stube über den Unterlagen gebeugt und tat das, weshalb er in dieser Stadt war. Er versuchte, sich all die Zeichen einzuprägen, die in den Büchern standen, all die Terme und Gleichungen, Skalare, Vektoren.
Und es konnte vorkommen, wenn er hochschreckte unter der kleinen Schreibtischleuchte, dass das erste Tageslicht zu schimmern begann.
Also ging er durch das Leben, und, auch wenn ihm einiges zum satten Dasein fehlte, das Wichtigste hatte er: das Ziel.
Trotzdem war es ihm in trüben Stunden, als mangele ihn an etwas Entscheidendem. Manchmal spürte er ganz deutlich, dass er selbst in seinem innersten Grund unvollständig war, dass ihm etwas ganz Notwendiges fehlte. Und er wusste nicht, was es war, und er machte sich auf die unermüdliche Suche, es zu finden.
Er strich durch die Stadt, ließ sie an sich vorbei gleiten, beobachtete mit wachen Augen und einem offenen Herzen.
Er wich den Menschen aus, die auf dem Weg nach Hause waren – mit einem hektischen Ausdruck im Gesicht.
Er ließ die Leute vorbeiziehen, die zur Arbeit mussten – hastig, mit angespanntem Blick.
Er kam sich vor wie im Meer, wie in einer bunten Welt voller merkwürdiger Geschöpfe.
Es kam vor, dass Blicke sich trafen, als er Gesichter studierte. Dann und wann ein flüchtiges Lächeln, doch jedes Mal von ihm – ohne es zu wollen – das Wegschauen, der gesenkte Blick.
Keine Berührungen; jeder ist darauf bedacht, ein Mindestmaß an Raum zum Nächsten zu haben. Vakuum quasi So schwebt er dahin, eingeschlossen in eine Unzahl von Luftblasen, die ihn abschirmen gegen den Anderen.
Oder den Anderen gegen ihn.
Und da er am Vormittag studierte, im Café bediente am Nachmittag und des Nachts wieder studierte, war er nur am Abend, im Dämmerlicht auf der Suche. Die Laternen der Stadt taten das Ihre, aber es war in diesen Stunden nie ganz hell in den Straßen.
Doch unermüdlich zog er los, konnte es kaum erwarten, dass seine Ablösung kam, er sich mit einem flüchtigen Lächeln verabschieden und das Lokal verlassen konnte.
Und wieder die Straßen. Die Gesichter, die Menschen. Und der Raum zwischen ihnen.
Er staunte – bestaunte – und langsam, unmerklich, für ihn selbst gar undenkbar, verschob sich sein eigenes Ziel, der Grund, das Motiv, weshalb er sich hier aufhielt. Das eine Ziel wurde von einem anderen abgelöst.
Er stand vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäftes, als ihm aufging, dass er am Ziel war. Er stand vor dem Glas, sein Atem schlug sich an der Oberfläche nieder und bevor es auffiel, kam ihm zu Bewusstsein, dass er die Frau dort drinnen angestarrt hatte. Er wandte sich ab und nahm einen tiefen Atemzug, um sich sofort wieder der Verkäuferin zuzuwenden.
Sie hatte schmale Augen. Aber weniger die Form als mehr deren Ausdruck fesselte Jonas. Sie sah den Mann, der ein paar Schuhe kaufen wollte, wie eine Verkäuferin an und gleichzeitig wie eine Königin. Ihr Blick schien von oben und von unten zu kommen, ihre Gesten waren unterwürfig, zugleich voller Stolz. Dann und wann strich sie sich eine Strähne ihres Haares hinter das rechte Ohr, sie verschränkte ihre Beine leicht, als sie ungeduldig wurde, und einmal steckte sie die linke Hand in die Tasche ihrer Hose. Aber immer lächelte sie dabei. Und das Lächeln war nicht falsch, und wenn es falsch war, dann wollte man, dass es ehrlich gemeint war.
Sie konnte nicht älter sein als Jonas. Durch die hohen Wangenknochen und die Form der Augen, hatte sie ein verschwommen asiatisches Aussehen. Das wiederum im Kontrast zu ihrem blonden Haar stand.
Als der Mann den Laden verließ – mit einem Paar Schuhe im Beutel – begleitete sie ihn zur Tür und verabschiedete ihn. Er ging an Jonas vorbei, die Frau schloss die Tür und wandte sich um. Kein bisschen veränderte sich ihre Mimik, es gab kein aufgesetztes Lächeln, das verschwand, ihre Haltung veränderte sich nicht. Ihr Wesen machte keine Wandlung durch. Sie ging durch den Laden, als sie sich einmal umdrehte, begegneten sich ihre Blicke.
Sie lächelte, er wandte sich ab.
Er studierte in dieser Nacht nicht, vielmehr ging er sofort zu Bett. Doch er konnte lange Zeit nicht einschlafen.
Am nächsten Tag erwartete er ungeduldig den Zeitpunkt, zu dem er loslaufen konnte. Diesmal ließ er sich nicht treiben, von den Menschen nicht und nicht von den Umständen. Zielstrebig in seinem Schritt sah er nicht in die Gesichter, er schaute auf den Weg.
Und wieder das Schuhgeschäft und abermals das Mädchen.
Er beobachtete sie, bis er auffiel. Dann wechselte er seinen Standort und beobachtete sie weiter.
Schaute ihr ins Gesicht mit dem wunderbar warmen Teint, versuchte die Worte von ihren dunklen Lippen abzulesen und sah in ihre Augen, die immer ein wenig zu lächeln schienen.
Er ärgerte sich mit ihr über den ungehobelten Kerl, der anscheinend das Passende nicht gefunden hatte und aus dem Geschäft polterte.
Er freute sich ebenso wie sie über die beiden Zwillinge, vielleicht drei oder vier Jahre alt, die durch den Laden trudelten und mit ihrer Mutter für kurze Zeit Lebendigkeit hereinbrachten.
Darüber merkte er nicht, wie sehr er fror.
Als er sich abwandte, um nach Hause zu gehen, freute er sich auf den nächsten Tag.
Doch am anderen Abend war sie nicht im Geschäft. Der Schreck als Reaktion auf diese Entdeckung währte bis in die Nacht hinein, als er in einen unruhigen Schlaf fiel.
Am Tag darauf fehlte sie wieder und ein Stück glitt er weiter zurück in seinen alten Zustand.
Trotzdem ging er am darauffolgenden Abend wieder zu dem Schuhgeschäft und mit klopfendem Herzen bezog er Stellung.
Dieses Mal waren zwei Verkäuferinnen in der Boutique; eine davon war sein Mädchen. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt und Jonas wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass sie Geburtstag hatte oder einen anderen Ehrentag, für den man sich herausputzte.
Er stand in seinem Versteck, war richtig stolz auf sie, wie schön sie war und strahlend.
Sie tuschelte und lachte mit ihrer Kollegin, wenn ein Kunde den Laden betrat, musste er lächeln, angesteckt von der guten Laune.
Als Jonas sich zurückzog und nach Hause schlenderte, hatte auch er ein Lächeln auf dem Gesicht. Er kümmerte sich nicht um die Passanten, ging geradeaus und träumte.
Als er am anderen Abend wieder auf seinem Platz stand, dachte er, dass er sie ansprechen sollte. Er musste sie kennenlernen, obwohl er den Eindruck hatte, dass sie beide schon längst bekannt waren.
Sie hatte keinen Freund, das war klar. Er hatte niemanden gesehen, der sie abgeholt, sie zur Arbeit gebracht oder sie auch nur besucht hätte. Kein Ring an besagtem Finger oder verräterische Träumereien.
Sie kam jeden Tag mit dem Fahrrad ins Geschäft, sie war sicher Vegetarierin, bei ihrer Figur! Und wenn sie Fahrrad fuhr, war sie Naturliebhaberin.
Vielleicht wartete zu Hause eine Katze auf sie? Ein Hund?
Sie waren wie für einander geformt, dachte er. Er würde sie ansprechen, aber nicht heute. Morgen vielleicht.
Die Stadt kam ihm heller vor, freundlicher, offener. Als er nach Hause ging, hielt er in einem kleinen Supermarkt und kaufte sich eine Flasche Wein.
Die er sofort öffnete, als er die Sachen abgelegt und sich frisch gemacht hatte. Er trank in Ruhe ein Glas, hörte Musik (Brahms) und dachte an den nächsten Tag.
Er musste sich überlegen, was er sagen würde. Zwar hatte er das Gefühl, dass sie sich ohne Worte verstehen würden – er war überzeugt davon – doch war er nicht so dumm, darauf zu vertrauen. Er durfte nichts falsch machen.
Mit einem guten Gefühl ging er ins Bett, doch er konnte nicht einschlafen. Stunde um Stunde warf er sich hin und her, von einer Seite auf die andere, unfähig, das nötige Quäntchen Ruhe zu finden.
Irgendwann gegen Morgen sank er in unruhigen Schlaf, aber als er aufstand, fühlte er sich trotzdem erholt und frisch.
Er vermochte den ganzen Tag über an nichts anderes als an sie zu denken. Er sah ihr Lächeln vor sich, das kleine Grübchen unterhalb der linken Wange. Er blickte eine Kommilitonin an, die mit ihm sprach und plötzlich stockte, weil er keine Antwort gab und sie nur weiter anstarrte.
Als er endlich die lästigen Pflichten erledigt hatte, als es Abend geworden war und dunkel in der Stadt, zog er sich um und ging mit klopfendem Herzen hinaus. Er freute sich.
Und er hatte Furcht.
Ein nagendes Unwohlsein im Inneren, ein dumpfes Gefühl im Magen, das sich verschob, als er die Hand drauf legte.
Er schüttelte seinen Kopf, als er ins Freie trat und lächelte.
Dann eilte er vorbei an Menschen, die ihn nicht beachteten, die sich nur selbst im Blick hatten und niemanden sonst.
Außer Atem langte er an. Er fühlte sich, als wäre er nach Hause gekommen. Er schaute sich um, studierte die anderen Geschäfte. Doch in jedem der Schaufenster schien sich die Schuhboutique zu spiegeln.
Er sah hin und war verwirrt. Seine Freundin war nicht zu sehen, zwei andere junge Verkäuferinnen standen im Laden und bedienten. Sie lächelten und waren zuvorkommend.
Er hätte hineinstürmen sollen, die beiden anschreien und fortschubsen. Was habt Ihr mit meiner Freundin gemacht, wo ist sie?
Aber er war nicht fähig dazu, er war erstarrt.
Dann hätte er jammern sollen, weinen. Mit tränentrübem Blick nach der jungen Frau suchen, die nicht mehr gekommen war. Die ihn versetzt hatte.
Doch auch das tat er nicht.
Stattdessen drehte er sich um und ging, ohne einmal zurückzublicken, durch die Straßen nach Hause.
Je weiter er kam, desto leichter wurde ihm. Desto befreiter fühlte er sich, und als er endlich in seinem Zimmer saß, konnte er wieder lächeln.
Am anderen Tag, nachdem er alle Pflichten erfüllt hatte, zog er wieder los, durch die Straßen der Stadt, an den Menschen vorbei, die ihn nicht sahen.
Er fühlte sich wohl.