- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Die Tür
Ich kann sie nicht finden. Dabei bin ich mir so sicher, denn jedes Zimmer hat eine. Ich setze mich in einen bequemen Sessel, stütze den Kopf auf die Hände und gehe alles noch einmal durch. Ich bin in einem geräumigen Zimmer, es gibt ein Fenster, ein Bett, einen Tisch mit zwei dazu passenden Stühlen und mehrere Bücherregale. Alles ist genau da, wo es in einem Zimmer sein sollte. Nur eines fehlt: die verdammte Tür. Ich gehe zum Fenster und blicke hinaus. Dichte Nebelschwaden ziehen vorbei und verdecken meinen Blick in die Welt. Nur verzerrte Schatten lassen sie erahnen. Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: nur weil ich die Tür nicht sehen kann, heisst das noch lange nicht, dass es keine gibt.
Ich fange an die Wände abzutasten, ich suche nach Ritzen und Lücken, durch die ein Lichtstrahl zu dringen vermag. Aber es ist nichts zu entdecken, nicht die kleinste Unebenheit, keine versteckte Tür – gar nichts.
Ich sehe mich im Zimmer um. Mein Blick fällt auf das Bücherregal. Ich ziehe die ersten großen Folianten heraus. Es muss doch irgendwo eine geheime Tür geben, irgendein Buch ist der Schlüssel - ich bin mir ganz sicher. Doch je mehr ich herausziehe, desto mehr verläßt mich die Hoffnung, weil eben nichts geschieht und schließlich ich verliere meine Beherrschung. Wahllos schmeiße ich ganze Reihen von Büchern aus den Regalen und werfe sie hinter mich auf den Fussboden. Das Zimmer fängt an sich zu drehen, die Bücher fallen mir aus den Händen, hilflos suche ich nach Halt, aber ich finde keinen und dann bin ich weg.
Ich erwache im Bett. Schleichend kommt die Erinnerung zurück. Die Bücher stehen wieder ordentlich aufgereiht in den Regalen, als wäre nie etwas geschehen. In meinem Kopf pocht ein leiser Schmerz und ich fühle mich benommen. Beinahe schon automatisch schweift mein Blick durch den Raum, auf der Suche nach einer Tür. Diesmal aber bleibe ich ruhig, als ich keine entdecken kann. Die Vorhänge wurden zugezogen und nur eine kleine Nachttischlampe erhellt das Zimmer.
Warum bin ich hier? Wer hat mich hierher gebracht und wo ist überhaupt hier? Ich muss mich zusammen nehmen, damit meine Gedanken nicht abschweifen – es fällt so schwer, an einem Punkt zu bleiben. Ich gehe an den Anfang zurück und versuche mich darauf zu besinnen, was vor dem Zimmer war. Doch da ist nichts, außer dem Halbdunkel des Raumes und nach wenigen Minuten gebe ich auf. Ich richte mich auf und mein Blick fällt auf das verhangene Fenster. Ich wanke hinüber und mit einem Ruck ziehe ich den Vorhang beiseite.
Der Nebel hat sich verzogen. Ich taumle einige Schritte zurück und halte mich am Vorhang fest, damit ich nicht umfalle. Ich erblicke einen Garten, in dem viele Menschen stehen. Ich erkenne meine Eltern, meinen Bruder, meine Großmutter und meinen Großvater. Freunde stehen in der Wiese und längst vergessene Bekannte. Sie alle blicken mich an, aber sie bewegen sich nicht, sie sagen nichts. Sie starren mich nur an. Endlich begreife ich. Ich bin hier alleine in einem Zimmer, das keine Tür hat und all die Menschen, die mich sehen und erkennen können, sind da draußen. Ich beginne an die Scheibe zu klopfen, zu rufen, zu schreien und zu toben.
Doch sie bewegen sich einfach nicht. Ich trommle so heftig mit beiden Fäusten gegen die Scheibe, dass sie gefährlich im Rahmen erbebt und zittert. Aber es nützt nichts – sie reagieren nicht. Ich drehe mich um, um den Stuhl zu nehmen, damit ich die Scheibe einschlagen kann. Doch die Stühle sind nicht mehr da. Fassunglos zerre ich schließlich am Tisch, doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihn nicht bewegen. Ich blicke zu den Regalen, doch sie sind wie leergefegt, als hätte nie ein Buch darin Platz gefunden.
Ich fahre mir mit der Hand über mein Gesicht und unweigerlich dringt ein Kichern aus meiner Kehle. Es steigert sich zu einem berauschenden Lachen, in das sich, sacht und leise, Tränen mischen. Wie ein Besessener klammere ich mich an den Tisch und mit meinem ganzen Gewicht und mit all meiner Kraft versuche ich ihn von der Stelle zu bewegen.
Und während ich schreie und zerre und lache und weine und verrückt werde, weil ich die Menschen, die dort draußen doch nur auf mich warten, nicht erreichen kann, rutsche ich weg und knalle rückwärts auf den harten Boden.
Keuchend ziehe ich mich am Fensterbrett hoch und blicke hinaus. All die Menschen sind einer einzelnen Person gewichen, die im Garten kniet und Blumen pflückt. Obwohl sie mir den Rücken zugewandt hat, erkenne ich meine Frau sofort. Der Wahnsinn, der mich vor wenigen Sekunden noch zu übermannen drohte, ist von mir gewichen und hat Ruhe und Wärme zurückgelassen.
Eine Stimme hallt durch das Zimmer. Sie ergeht sich in medizinischen Ausdrücken, äußert Floskeln und Beteuerungen, gibt Hoffnungslosigkeiten und Frieden von sich. Sie erklärt Maschinen, Qualen und das Leben. Doch von all den Worten schafft es nur ein einziges in mein Inneres und bleibt dort verborgen.
Ich atme tief durch und mein Blick fällt wieder auf meine Frau. Sie sieht mir nun in die Augen, in der einen Hand die frischen Blumen, deren Duft durch das Fenster bis zu mir hereindringt, die andere zum stummen Gruß erhoben.
Ich lächle, denn ich weiss nun, wo die Tür ist. Ich drehe mich um und gehe hinaus.