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Die Tür

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17.08.2004
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Die Tür

Ich kann sie nicht finden. Dabei bin ich mir so sicher, denn jedes Zimmer hat eine. Ich setze mich in einen bequemen Sessel, stütze den Kopf auf die Hände und gehe alles noch einmal durch. Ich bin in einem geräumigen Zimmer, es gibt ein Fenster, ein Bett, einen Tisch mit zwei dazu passenden Stühlen und mehrere Bücherregale. Alles ist genau da, wo es in einem Zimmer sein sollte. Nur eines fehlt: die verdammte Tür. Ich gehe zum Fenster und blicke hinaus. Dichte Nebelschwaden ziehen vorbei und verdecken meinen Blick in die Welt. Nur verzerrte Schatten lassen sie erahnen. Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: nur weil ich die Tür nicht sehen kann, heisst das noch lange nicht, dass es keine gibt.

Ich fange an die Wände abzutasten, ich suche nach Ritzen und Lücken, durch die ein Lichtstrahl zu dringen vermag. Aber es ist nichts zu entdecken, nicht die kleinste Unebenheit, keine versteckte Tür – gar nichts.

Ich sehe mich im Zimmer um. Mein Blick fällt auf das Bücherregal. Ich ziehe die ersten großen Folianten heraus. Es muss doch irgendwo eine geheime Tür geben, irgendein Buch ist der Schlüssel - ich bin mir ganz sicher. Doch je mehr ich herausziehe, desto mehr verläßt mich die Hoffnung, weil eben nichts geschieht und schließlich ich verliere meine Beherrschung. Wahllos schmeiße ich ganze Reihen von Büchern aus den Regalen und werfe sie hinter mich auf den Fussboden. Das Zimmer fängt an sich zu drehen, die Bücher fallen mir aus den Händen, hilflos suche ich nach Halt, aber ich finde keinen und dann bin ich weg.

Ich erwache im Bett. Schleichend kommt die Erinnerung zurück. Die Bücher stehen wieder ordentlich aufgereiht in den Regalen, als wäre nie etwas geschehen. In meinem Kopf pocht ein leiser Schmerz und ich fühle mich benommen. Beinahe schon automatisch schweift mein Blick durch den Raum, auf der Suche nach einer Tür. Diesmal aber bleibe ich ruhig, als ich keine entdecken kann. Die Vorhänge wurden zugezogen und nur eine kleine Nachttischlampe erhellt das Zimmer.

Warum bin ich hier? Wer hat mich hierher gebracht und wo ist überhaupt hier? Ich muss mich zusammen nehmen, damit meine Gedanken nicht abschweifen – es fällt so schwer, an einem Punkt zu bleiben. Ich gehe an den Anfang zurück und versuche mich darauf zu besinnen, was vor dem Zimmer war. Doch da ist nichts, außer dem Halbdunkel des Raumes und nach wenigen Minuten gebe ich auf. Ich richte mich auf und mein Blick fällt auf das verhangene Fenster. Ich wanke hinüber und mit einem Ruck ziehe ich den Vorhang beiseite.

Der Nebel hat sich verzogen. Ich taumle einige Schritte zurück und halte mich am Vorhang fest, damit ich nicht umfalle. Ich erblicke einen Garten, in dem viele Menschen stehen. Ich erkenne meine Eltern, meinen Bruder, meine Großmutter und meinen Großvater. Freunde stehen in der Wiese und längst vergessene Bekannte. Sie alle blicken mich an, aber sie bewegen sich nicht, sie sagen nichts. Sie starren mich nur an. Endlich begreife ich. Ich bin hier alleine in einem Zimmer, das keine Tür hat und all die Menschen, die mich sehen und erkennen können, sind da draußen. Ich beginne an die Scheibe zu klopfen, zu rufen, zu schreien und zu toben.

Doch sie bewegen sich einfach nicht. Ich trommle so heftig mit beiden Fäusten gegen die Scheibe, dass sie gefährlich im Rahmen erbebt und zittert. Aber es nützt nichts – sie reagieren nicht. Ich drehe mich um, um den Stuhl zu nehmen, damit ich die Scheibe einschlagen kann. Doch die Stühle sind nicht mehr da. Fassunglos zerre ich schließlich am Tisch, doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihn nicht bewegen. Ich blicke zu den Regalen, doch sie sind wie leergefegt, als hätte nie ein Buch darin Platz gefunden.

Ich fahre mir mit der Hand über mein Gesicht und unweigerlich dringt ein Kichern aus meiner Kehle. Es steigert sich zu einem berauschenden Lachen, in das sich, sacht und leise, Tränen mischen. Wie ein Besessener klammere ich mich an den Tisch und mit meinem ganzen Gewicht und mit all meiner Kraft versuche ich ihn von der Stelle zu bewegen.
Und während ich schreie und zerre und lache und weine und verrückt werde, weil ich die Menschen, die dort draußen doch nur auf mich warten, nicht erreichen kann, rutsche ich weg und knalle rückwärts auf den harten Boden.

Keuchend ziehe ich mich am Fensterbrett hoch und blicke hinaus. All die Menschen sind einer einzelnen Person gewichen, die im Garten kniet und Blumen pflückt. Obwohl sie mir den Rücken zugewandt hat, erkenne ich meine Frau sofort. Der Wahnsinn, der mich vor wenigen Sekunden noch zu übermannen drohte, ist von mir gewichen und hat Ruhe und Wärme zurückgelassen.

Eine Stimme hallt durch das Zimmer. Sie ergeht sich in medizinischen Ausdrücken, äußert Floskeln und Beteuerungen, gibt Hoffnungslosigkeiten und Frieden von sich. Sie erklärt Maschinen, Qualen und das Leben. Doch von all den Worten schafft es nur ein einziges in mein Inneres und bleibt dort verborgen.

Ich atme tief durch und mein Blick fällt wieder auf meine Frau. Sie sieht mir nun in die Augen, in der einen Hand die frischen Blumen, deren Duft durch das Fenster bis zu mir hereindringt, die andere zum stummen Gruß erhoben.
Ich lächle, denn ich weiss nun, wo die Tür ist. Ich drehe mich um und gehe hinaus.

 

Hallo Malachy,
Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Gäbe einen guten Kurzfilm in der Serie Twillight Zone ab und man fühlt sich als Leser gleich mit in dem Raum...und beklemmt. Lediglich das Kichern und berauschende Lachen hat mich irritiert, sollte es doch wahrscheinlich eher ein hysterisches sein?! Das Ende hab ich mehrmals gelesen, war mir nicht gleich sicher wie es gemeint ist - vielleicht wäre es eindeutiger besser...oder noch offener?Gruss Micha

 

Hallo Malachy,

eine sehr schöne Geschichte, fand ich.

Ich weiß nicht, ob ich sie richtig verstanden habe. Ich glaube, dein Prot. war auf dem Weg ins Jenseits, konnte aber zunächst die Türe nicht finden.Vielleicht, weil er nicht weg wollte und erst der Anblick seiner Frau ihm die nötige Kraft und Zuversicht gegeben hat.

Hat mir sehr gefallen!

LG
Bella

 
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@ alle - zunächst vielen Dank für eure Kritiken und für das Lob.

@ Zimmerpanther: Ja, das Lachen sollte die Verzweiflung, Panik und Raserei ausdrücken - ich werde die Stelle nochmal überarbeiten, damit es nicht mehr ganz so kitschig klingt und vielleicht ein bisschen klarer wird.

@ Bella: Ja, so ist es. Ich hatte schon befürchtet, die Geschichte ist vielleicht schon zu metaphorisch und man erkennt nicht mehr den Kern des Ganzen.

@ Crazy Janey: Besonderen Dank an dich für die hervorragende Kritik - Viele deiner angesprochenen Punkte habe ich ausgebessert, weil sie wirklich schräg klangen. Einige größere Stellen, wie z.B. die Sache mit dem schlechten Film, konnte ich in der kurzen Zeit erstmal nicht ausbessern, da ich hier länger drüber nachdenken muss :)

Kurz noch ein Wort zum Verständnis: In der handschriftlichen Fassung hatte ich im vorletzten Absatz eine andere Wendung:

"Doch von all den Worten schafft es nur ein einzelnes in mein Inneres: Koma."

Ich habe das dann letztendlich weggelassen, auch auf das Risiko hin, es zu metaphorisch werden zu lassen, denn ich wollte schon darauf hin arbeiten, dass der Leser merkt worum es sich handelt. Deswegen war ich froh über Bellas Kommentar.

Allerdings ist mir beim erneuten Lesen aufgefallen, dass es ja eigentlich auch in die komplett andere Richtung gehen kann. Das "Koma" habe ich bewusst weggelassen, also könnte mein Prot. auch die Tür zurück ins Leben finden und eben nicht sterben.

Aber wahrscheinlich ist das Ansichtssache des jeweiligen Lesers - beinahe so, wie mit dem halbvollen oder halbleeren Glas ... :)

liebe Grüße
Malachy

 

Den zitierten Satz würde ich AUF KEINEN FALL einfügen. Ich finde er verrät viel zu viel. Der Reiz der Geschichte liegt ja unter anderem darauf begründet, dass die Geschichte "seltsam" ist und man nicht genau weiß, worum es geht.

 

Nein, ich hatte auch nicht vor, das umzuschreiben.

Ich habe jetzt einige kleine Stellen noch mal überarbeiten (die Szene mit "dem schlechten" Film und einzelne Adjektive gestrichen etc.) ... vielleicht ist sie jetzt noch ein bisschen "kompakter" geworden.

liebe grüße
Malachy

 

Hallo, Malachy.

Die Geschichte ist dir mehr als nur gelungen - sie ist genial. Du hast mich mitgerissen, obwohl ich lange nicht wusste, was das Ganze sollte. Mach weiter so!

Liebe Grüße, Lejon

 

Vielen Dank für das Lob Lejon - ich werde mich bemühen weitere Geschichten so gut hinzubekommen ^^

liebe Grüße
Malachy

 

Hallo Malachy,
kann mich der positiven Kritik der anderen nur anschließen, ein sehr ausdrucksstarker Text. Ich hatte zuerst auch gedacht, dass du einen Alptraum beschreibst.
Ich für meinen Teil interpretiere die Geschichte mit einem positiven Ende, für mich hat dein Prot die Tür zurück ins Leben gefunden. :)

Ein kleiner Fehler, der mir noch aufgefallen ist:
Im letzten Abschnitt muss es heißen: ...die andere zum stummen Gruß erhoben

LG
Blanca :)

 

Fehler direkt ausgebessert - mit der Groß-und Kleinschreibung komme ich nicht zurecht :)

Danke für das Lob - das versüßt einem das ganze Wochenende :)

Liebe Grüße
Malachy

 
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Hallo Malachy,

ich habe deine Geschichte erst nach deiner Überarbeitung gelesen und kann mich den anderen nur anschließen.
"Mein Ende" ist ebenfalls positiv ausgefallen, gefällt mir gut, dass du das Ende so offen lässt. ;)

Schönes Wochenende
kleine Nacht

PS: Hat mich teilweise an "Die Wand" erinnert. ;)

 

Das ist ein Roman von Marlen Haushofer.
"Eine Frau wacht eines Morgens in einem Jagdhaus in den Bergen auf und findet sich, allein mit ein paar Tieren, in einem Stück Natur eingeschlossen von einer unüberwindbaren gläsernen Wand, hinter der offenbar keine Menschheit mehr existiert."

Sie sucht quasi auch nach einer Tür und findet keine. Aber ansonsten nicht unbedingt mit deiner Geschichte vergleichbar, sie hat mir halt nur teilweise dran erinnert. ;)

Liebe Grüße
kleine Nacht

 

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