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Die Tür
Ich musste die Stahltür in dem Augenblick, wenn er sie öffnete, gegen seinen Schädel schmettern! Das müsste ihn wenigstens für einige Augenblicke betäuben und... aber ich dachte nicht weiter.
Wenn ich erst über seinen leblosen Körper hinweg diesen schrecklichen, lichtlosen Raum verlassen könnte!
Dieser Gedanke beherrschte mich und jede Sekunde vom ersten Schlüsselrasseln bis zu dem Augenblick, in dem ich ihm die Tür mit grausamer Härte gegen den Kopf schlagen konnte, stellte ich mir genau vor. Immer und immer wieder.
Der sich seit Tagen in mir aufgestaute Hass würde sich dann explosionsartig entladen; aber es durfte keinen Bruchteil einer Sekunde zu früh oder zu spät passieren, sonst wäre alles umsonst. Einen kräftezehrenden Kampf konnte ich nicht gewinnen, dazu war ich durch drei Tage und zwei Nächte ohne Nahrung zu sehr geschwächt. Nur Wasser stand hier ausreichend in stinkenden Pfützen. Ich schmeckte darin den schmierigen Dreck.
Ich tastete mich zur Tür, die durch eine feinen Zeichnung aus Tageslicht, das durch die Ritzen drang, erkennbar war: Ein Rechteck und in der Mitte ein Kreis.
Was wäre, wenn Mario, bevor er die Tür öffnen würde, hier drin Licht anmachen könnte und mich durch den Türgucker beobachtend, befehlen würde, mich in eine Ecke des Raumes zu begeben, während er jede meiner Bewegungen kontrollierte.
Verzweiflung beschlich mich; doch der Gedanke an Gesellschaft, auch wenn es nur die Stimme von Mario oder die des anderen sein sollte, ließ eine feige Hoffnung auf menschliche Gegenwart in mir aufkommen. Angst und der Hunger griffen meinen Verstand an.
Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren: die Überwältigung des Schließers und die Flucht. Ich musste in jedem Augenblick reaktionsbereit sein. Ich durfte nicht einschlafen und die Chance meiner Flucht versäumen.
Wie eine asiatische Meditationsübung vollführte ich diesen gespenstischen Tanz in völliger Dunkelheit unzählige Male. Er schien mir durch seine gleichförmigen, immer perfekter werdenden Bewegungen Sicherheit und eine seltsame Kraft zu geben: Ich positionierte mich in Ausgangsstellung hinter die geschlossene Tür, glitt dann hinter die in meiner Vorstellung sich nun öffnende Tür, um dann in einer Position zu verharren, von der aus ich dann gegen die Tür springen könnte, um sie Mario an den Schädel zu schmettern. Es kostete mich einige Male große Kraft, nicht wirklich ins Leere loszuspringen.
Die Konzentration auf meine Bewegungen und die Arbeit meiner Muskeln rissen mich aus der bisherigen Starre und machten meinen Körper geschmeidig.
Und wieder marterten mich Zweifel: Der Schließer, wenn er nur halbwegs bei Verstand war, setzte natürlich zuerst den Fuß in die Tür, bevor er sich in mein Gefängnis begeben würde.Ich würde dann gegen eine nicht nachgebende Stahltür prallen.
Ich sehnte mich nach Katrin, meiner Freundin. Ich brauchte sie hier in der Finsternis mit meinen verzweifelten, wunden Gedanken und der Angst.
Vor allem der Gedanke, was mit ihr geschehen war, machte mich krank. Es ergaben sich zwei Möglichkeiten, deren jeweiligen Konsequenzen für mich schwer zu ertragen waren: die erste Möglichkeit war, dass Katrin gefangen gehalten wurde, hier in diesem Haus oder woanders.
Die zweite, für mich noch viel schrecklichere Möglichkeit waberte erst nur als formloses, unartikuliertes Etwas in meinem Kopf.
Der Gedanke der Absurdität war es, der meinen Verstand in trügerischer Sicherheit wiegte, und ihn dazu verführte, dem Grauen, wie ich diese formlose Etwas jetzt nennen würde, zu gestatten, sich in meinem Kopf zu formulieren.
Wie Blitzlichter leuchteten verdrängte Situationen in meinem Verstand auf und ließen ihn sich wie irre in Schmerzen winden und drohten ihn wahnsinnig zu machen.
Unsere neueste Bekanntschaft, zwei Anhalter, Mario und ein weiterer Mann, der sich nicht vorstellte, saßen mit uns im Auto.
Ohne ein bestimmtes Ziel; Katrin wollte sich einfach mal überraschen lassen, wie sie es ausgedrückte, waren wir an diesem Sommermorgen ins Grüne gefahren. Sie hatte gesagt, dass es ihr schon als Kind immer als Verschwendung so vieler schöner Momente vorgekommen wäre, wenn sie mit ihrer Familie auf dem Weg zu einem bestimmten Ausflugsziel, das sich in aller Regel als enttäuschend herausstellte, auf der Landstraße an so vielen verlockenden, abenteuerlichen Gelegenheiten: leer stehenden Häusern; plötzlich auftauchenden und ebenso schnell wieder verschwindenden malerischen Landschaftsperspektiven; geheimnisvollen durch tiefen Wald fern durchschimmernden Seen und anderen, ihre kindliche Phantasie entzündenden Verlockungen ohne Halt vorbeichauffiert wurde.
Aber wieso hatte sie mir niemals zuvor von ihrer heimlichen Leidenschaft erzählt, stundenlang ohne Ziel durch die Gegend zu fahren?
Wieso bestand Katrin darauf, diese beiden Anhalter mitzunehmen, wo wir doch ungestört einen Nachmittag im Grünen verbringen wollten und warum ging Katrin ohne zu Zögern auf den Vorschlag der beiden Männer ein, dass wir mit ihnen zu ihrem kleinen Wochenendhäuschen mitkommen sollten um etwas zu trinken.
Schien Katrin diese Situation nur als eine der vielen imaginären abenteuerlichen und spannenden Momente, die ihr der Vater durch unbeirrtes Beibehalten des Ausflugszieles in ihrer Kindheit vor enthielt und den sie jetzt auskosten wollte, um endlich Abenteuer zu erleben? Wurden wir nur Opfer ihres Übermuts?
Meine Finger glitten über die Stahltür. Jede Berührung mit der Außenwelt, auch wenn es nur die kalte, zu ertastende metallene Fläche des Türblattes war, lenkten den Fokus meines unerbittlich, krankhaft, forschenden Verstandes von meinem Inneren ab.
Der Gedanke, dass Katrin diese beiden Männer gekannt haben könnte, traf mich wie Messerstiche. War alles ihr Plan gewesen?
Aber die Vorstellung, dass diese beiden Männer heimliche Verbündete von Katrin sein könnten, kam mir absurd vor. Doch wenn „absurd“ etwas so Abartiges war, dass es sich kein Mensch vorstellen konnte, musste es dann nicht real sein?
An dieser Stelle stoppte mein Denken. Meine Finger hatten im Putz neben der stählernen Türzarge einen Riss ertastet und mein Unterbewusstsein hatte meinen krankhaft arbeitenden Verstand in seinem Gedankenfluss unterbrochen. Ich befingerte in zunehmender Erregung den Putz neben der Zarge in Höhe des Türschlosses. Konstruktive Denkansätze überschlugen sich nun in meinem Hirn. Ich musste das Mauerwerk neben dem Türschloss freilegen, um dann, nachdem ich die Mauersteine herausgekratzt hätte, das Türschloss aufzubrechen.
Alles hing davon ab, ein geeignetes Werkzeug zu finden. Ich musste den Kellerboden systematisch nach alten Nägeln oder ähnlichem absuchen.
Katrin war mit Mario fröhlich schwatzend ein Stück vor mir her gelaufen.
Der Weg zum Grundstück der beiden Anhalter verlief erst quer durch einen Waldstreifen und stieß dann auf eine große Wiese, auf der landwirtschaftliche Geräte und Fahrzeuge abgestellt waren. Dahinter stand das leuchtend gelbe Getreide. Der Waldstreifen ging nun rechts in einen tiefen Forst über und säumte das Feld auf leicht ansteigendem Gelände bis zum Horizont.
Der andere war schweigend neben mir hergelaufen und erklärte mir den weiteren Weg. Wir würden uns rechts am Wald halten und dann begänne schon bald das Grundstück, an dessen Ende das Häuschen stünde. Für gekühlte Getränke und Grillgut wären gesorgt. Seine Gastfreundschaft beschämte mich und ich konnte mir gut vorstellen, dass diese beiden Männer gerne Gesellschaft hatten hier draußen, nur dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, wozu.
Die zweite Möglichkeit drängte sich mir immer stärker in den Vordergrund.
Warum hatte sie während unserer Irrfahrt so konzentriert nach rechts und links Ausschau gehalten? Sonst genoss Katrin während unserer Ausflüge das Autofahren, indem sie sich tief in den Sitz zurück sinken ließ und nach einiger Zeit für gewöhnlich wegdöste. Sie musste nach den beiden gesucht haben, weil sie sich mit ihnen verabredet hatte.
Und aus welchem Grund hätten diese beiden Männer mich, einen ihnen völlig Unbekannten, in ein Kellerloch sperren sollen?
Der Freund Marios erzählte mir gelangweilt von den Vorzügen ihres Anwesens, einem ungefähr fünfhundert Meter weiter im Wald versteckten kühlen See mit außergewöhnlich klarem Wasser und der absoluten Stille, der man hier begegnete.
Er blickte, während er zu mir sprach, nach vorn zu Katrin und Mario. Er sah mich nur manchmal kurz prüfend an, als wenn er sehen wollte, wie ich darauf reagierte, dass meine Freundin sich von mir abgewandt hatte und sich leidenschaftlich mit einem Unbekannten unterhielt. Jedenfalls musste es mir ja so vorkommen, dass Mario für Katrin ein bis vor kurzem völlig Unbekannter war und der Freund schien sich davon überzeugen zu wollen, dass ich es auch weiterhin glaubte.
Wir erreichten das Grundstück. Es war ein schadhaft eingezäunter Bereich inmitten einer großen Brachfläche zwischen Wald und Feld, der sich als breiter Streifen bis zum ungefähr zweihundert Meter entfernt scheinenden Horizont hinzog wegen des ansteigenden Geländes. Dort konnte ich schon das graue, kleine, flache Häuschen sehen. Es war anscheinend Bestandteil dieses verlassenen, landwirtschaftlichen Betriebsgeländes.
Obwohl das Tor zum Grundstück offen stand, blieben Katrin und Mario davor stehen und warteten, dass ich und der andere sie einholten.
Katrin schaute mich peinlich berührt an, als wenn mein Unbehagen darüber, dass Katrin nicht mit mir, sondern mit Mario den langen Weg von der Straße bis hierher gegangen war, auf meinem Gesicht abzulesen gewesen wären. Dabei blickte ich ihr bewusst unbefangen und offen in die Augen. Den Hinweis für den idyllischen und leicht erreichbaren Waldsee mit dem klarem Wasser repetierend, schlug ich vor, dass wir jetzt ein erfrischendes Bad nehmen würden, um dann, mit Nachdruck in der Stimme, festzulegen; ich fühlte, dass ich jetzt, wo ich das Heft in die Hand genommen hatte, keinesfalls nachlassen durfte, dass Katrin und ich dann wieder zurück zum Auto gingen. Ich bedankte mich herzlich bei den beiden Männern für die Einladung, bedauernd, dass wir sie nicht annehmen konnten, da wir schon seit langem für heute einen gemeinsamen, ungestörten Ausflug geplant hatten und streckte Mario die Hand entgegen.
Mario ignorierte sie und schaute Katrin in die Augen, die auf den Boden blickte.
Ich trat zu Katrin und legte meinen Arm um ihre Schultern. Wir würden natürlich gerne ein anderes Mal vorbeischauen, log ich, als Katrin sich plötzlich von mir los riss und auf das Grundstück lief.
„Na, dann geh' doch!“ rief sie und ging aufs Grundstück. Mario und sein Freund folgten ihr und taten so, als wenn nichts geschehen wäre.
Was war mit Katrin plötzlich los? Wieso demütigte sie mich so? Wäre ich doch einfach davongerannt!
Natürlich wusste Katrin, dass ich das nicht tun würde. In den Augen der Männer war ich nun ein Mann ohne Ehre. Keinen Funken Respekt konnte ich mehr von ihnen erwarten. War es das, was Katrin erreichen wollte?
Ich stieß an der hinteren Stirnwand meines Verlieses gegen einen leicht nachgebenden Widerstand. In einem Haufen Dreck war ich gegen einen flachen, harten Gegenstand gestoßen. Zitternd griff ich nach diesem Ding. Es war ein länglicher, robuster Metallriegel. Sofort umklammerte ich das Metallstück wie den Griff eines Messers und fuchtelte damit triumphierend in der Finsternis herum. Ein heißes Glücksgefühl durchströmte mich. Ich stolperte blind zurück zur Tür. Es musste Nacht geworden sein; die schwache Zeichnung aus Licht war verschwunden.
Zitternd setze ich das Gerät auf den Putz neben dem Türschloss und begann vorsichtig zu schaben. Was wäre, wenn Mario und der andere, auch Katrin?, abends in das Häuschen zurückgekehrt, auf mich lauschten, ob ich noch Lebenszeichen von mir gäbe?
Plötzlich nahm mich eine lähmende Angst gefangen, dass mein Plan misslingen könnte. Hatten sie diesen Metallriegel mit Absicht hier deponiert und bereits eine Wette darüber abgeschlossen, ob ich es schaffen würde, mich zu befreien?
Unbeirrt schabte ich leise weiter. Ich zwang meinen Verstand, sich auf die technischen Probleme zu konzentrieren. Die Putzschicht begann bereits zu brechen. Ein daumengroßes Stück zwischen der eingeritzten Kerbe und der Zarge löste sich und ich legte es vorsichtig auf den Boden. In kürzester Zeit hatte ich den Putz an der Wand in Höhe des Türschlosses entfernt und ich setzte den Metallriegel in die Mörtelfugen und begann zwischen den Steinen zu schaben.
Die Arbeit begann sich mühselig hinzuziehen. Der Mörtel in den Fugen brach nicht ab wie der oberflächlich aufliegende Putz, sondern musste in den schmalen, immer tiefer werdenden Fugen zu Staub zermahlen und herausgekratzt werden.
Immer tiefer versank der stetig hin- und herschabende Metallriegel zwischen den Ziegeln. Die Arbeit ging immer schneller voran. Bald hatte ich es geschafft einen Stein freizulegen. Fieberhaft setzte ich den Metallriegel als Brecheisen in eine Fuge und versuchte, den Stein herauszuhebeln. Es splitterten nur unwesentlich die steinernen Hebelkanten. Der freigeschabte Stein blieb fest. Zitternd vor Ungeduld und in Wut über den unbeweglichen Stein vergaß ich jede Vorsicht, setzte den Riegel erneut an und stemmte mich mit meinem ganzen Körpergewicht auf den Hebel. Ich spürte erst das langsame Nachgeben des Metalls und dann rutschte der Riegel aus der Fuge. Ich stürzte hinterher und mein Kopf traf mit dem linken Jochbein hart auf die raue, putzlose Wand und schleifte an ihr entlang.
Mein linker Wangenknochen war erst wie betäubt, dann spürte ich das viele warme Blut, das mir über die Wangen und Kinn den Hals entlang floss. Ich schrie auf vor Schmerzen, als ich die kleine hautlose Stelle meines Jochbeins berührte.
Mit zitternden Händen versuchte ich den Stein herauszuschlagen. Doch das durch das viele Blut glitschig gewordene Werkzeug glitt mir aus den Händen und schlug gegen die Tür. Der Schlag des Metalls gegen die Blechtür gab einen dröhnenden Knall, der mich erschrocken innehalten ließ. Erstarrt stand ich in halbgebückter Stellung an der Tür und lauschte dem Knall hinterher.
Es war unwahrscheinlich, dass jemand die Nacht im muffigen Haus ohne entsprechende Einrichtung verbringen würde und mich deshalb hier unten hören konnte. Die Luft war mit einer unnatürlichen und unangenehmen Luftfeuchtigkeit gesättigt.
Katrin hatte das offensichtlich nicht gestört. Auf eine einladende Geste Marios hin ging sie ihm voraus in das niedrige, kaum mehr als zwanzig Quadratmeter Grundfläche einnehmende Haus.
Als ich eintrat, sah Katrin mir nicht in die Augen und unterdrückte ein albernes Kichern. Mario trat auf mich zu, bezeichnete mich launig als seinen „Freund“ und bot sich an, mir den Weinkeller zu zeigen. Katrin fing wieder etwas an zu kichern.
Ich hörte mich ungläubig das Wort „Weinkeller“ gedehnt und merkwürdig betont wiederholen. Doch Mario lachte nur und versicherte mir, dass ich begeistert sein würde. Der mich noch betäubende Schock durch Katrins abweisendes und mich unverhohlen demütigenden Verhaltens nahm mir die Kraft zu widersprechen. Mein Einwand, dass Katrin und ich garnicht so lange bleiben wollten und ich keinen Alkohol trinken konnte, da ich, wie er ja wissen musste, mit dem Auto gekommen war, blieb unausgesprochen und widerwillig folgte ich Mario. Er öffnete im hinteren Teil des einzigen Raumes in diesem Haus eine Falltür. Mario stützte sich an der aufgeklappten, an der Wand lehnenden Falltür und der Fußbodenkante ab und schwang sich polternd in einem Satz eine Treppe hinunter. Jede Stufe einzeln nehmend, folgte ich Mario in einen kleinen Vorraum mit einer Stahltür, die er aufschloss und knirschend aufschob.
Mit einer einladenden Geste, mit der er auch Katrin in das Haus gebeten hatte, lud er nun mich ein, ihm voran, den Weinkeller zu betreten. Mechanisch trat ich in die Dunkelheit des Kellers. Dann knallte die Tür hinter mir zu und ich befand mich in vollkommener Finsternis. Ich hörte das hastige Gekratze des Schlüssels an der Tür und das metallische Schnappen des einrastenden Türriegels.
Mario hätte sich nicht zu beeilen brauchen. Ich stand wie gelähmt in der mich wie Tinte umgebenden Schwärze. Mit dem plötzlichen Verschwinden der Sinneseindrücke schwand auch mein Gefühl für die Realität. Ich verharrte scheinbar eine Ewigkeit, bis ich zurückstolperte und begann, wie wahnsinnig gegen die dröhnende Stahltür zu schlagen. Als Echo erklang von oben höhnisches Lachen.
Ich hatte mein Hemd in Streifen gerissen, um meine linke Gesichtshälfte zu verbinden. Ich schlug nun ungehemmt den Stahlriegel in den Ziegel, so dass ich meine Augen schließen musste wegen der umherfliegenden kleinen Gesteinssplitter. Meine starken und zerstörerischen Schläge mussten oben deutlich als dumpfes Wummern zu hören sein. Rücksichtslos, wie ein Raubtier, das sich in sein Opfer verbissen hatte, konnte ich nicht ablassen, auch wenn es mein Leben kosten sollte. Mit jedem Schlag wuchs mein Mut und ich zertrümmerte den Stein mit der Kraft der Verzweiflung.
Ich begann nun den nächsten, darüber sitzenden Stein von oben herauszukeilen. Spritzend schlug ich den Mörtel aus den Fugen, um darin den Hebel ansetzen zu können.
Mit derselben Kraft, stellte ich mir vor, würde ich auf den verdutzten Mario einschlagen, wenn er angelockt durch den Lärm, die Tür öffnen würde.
Die feine Lichtzeichnung der Tür war wie ein siegesverheißendes Zeichen erschienen und kündigte den neuen Tag an.
Meine Angst war verschwunden. Ich machte mir nichts mehr vor: Katrin hatte mich verraten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie reagieren würde, wenn ich bald vor ihr stehen und sie zur Rechenschaft ziehen würde. Dieser Gedanke verdoppelte meine Kräfte und ich schlug auch den nächsten Ziegel in Stücke. Ein weiterer lockerte sich und ich konnte mehrere Steine aus dem Gefüge mit den Händen herausziehen. Ich fühlte mich meinem Ziel unfassbar nahe. Der Weg in die Freiheit war freigeräumt. Ich musste nur noch das Türschloss herausbrechen. Ein Glücksgefühl und unfassbare Erleichterung durchströmten mich und löste meine innere, krampfhafte Spannung. Damit schien auch meine eben noch unbezwingbare Kraft zu schwinden. Erschöpft ließ ich mich an Ort und Stelle nieder, um meinen schmerzenden Rücken, Arme und Hände für einige Augenblicke ausruhen zu lassen. In einem todesähnlichen Zustand lag ich nun ausgestreckt auf dem Rücken in einer der schlammigen Pfützen und kühlte darin meine heißen und zerschundenen Handflächen.
Unwillkürlich blickte ich zur Tür. Ich hörte das Türschloss aufschnappen. Die Tür öffnete sich und obwohl nur indirektes Tageslicht in die Dunkelheit fiel, blendete es meine Augen. Ich konnte eine menschliche Silhouette in der Tür erkennen. Unter Schmerzen richtete ich mich auf und sah, dass es Mario war.
„Was machst du hier für einen Lärm?“ fragte Mario. Ich kroch, ohne zu antworten, dem Licht entgegen, so lange der Ausgang noch offen stand. Mario wich zurück und ging rückwärts die Treppe hoch. Er achtete auf einen respektvollen Abstand zu mir, während ich ihm folgte.
Es war wie vor drei oder vier Tagen, nur umgekehrt. Mario würde sich an die Haustür stellen und mich mit der einladenden Geste bitten, vor ihm das Häuschen zu verlassen. Ich musste kichern bei diesem Gedanken. Auf der Treppe schaffte ich es, mich aufzurichten. Unendlich viel Licht strahlte durch die milchig-verdreckten Fensterscheiben. Ich spürte schon hier drin, in diesem muffigen Haus, die Wärme des heißen Sommertages. Ich eilte wankend zum Ausgang und stürzte hinaus ins Freie. Das Licht blendete mich so stark, dass ich erst nur gleißende Helle und Schatten unterscheiden konnte; die Landschaft glich einem expressionistischem Holzschnitt, in dem unablässig Farbflecken explodierten.
Ich fühlte, wie das Licht durch mich hindurch schien, jede Faser in mir erwärmte und liebkoste.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an das Licht und ich begann Einzelheiten meiner Umgebung wahrzunehmen.
Neben mir stand das Häuschen. In seinem Schatten, einem etwa einen Meter breiten dunklen Streifen, erkannte ich Konturen, die meine Blicke gefangen hielten. Sie beschrieben liegende Beine und die perfekt gerundeten Umrisse eines weiblichen Hinterteils. Der daran ansetzende Oberkörper zerstörte etwas den Eindruck eines schönen, entspannt auf dem Bauch liegenden Frauenkörpers, den ich als den Katrins erkannte.
Der Rücken setzte nicht, wie gewohnt, am reizenden Abschwung des wohlgeformten Hinterns an, sondern wölbte sich unnatürlich, wie gekrümmt nach oben, als wenn sich unter Katrins Bauch irgendein Gegenstand befinden würde, der die untere Wirbelsäule nach oben drückte. Um so flacher pressten sich Schultern und Arme an die Erde und der Kopf lag in einer ungewöhnlichen, verrenkten Seitenlage. Die Haare wirkten wie eine kompakte ausgehärtete und verkrustete, dunkle Masse, die noch flüssig, über ihren Kopf ausgegossen worden war. Nur eine einzige Haarsträhne trudelte etwas im Wind.
Ich sah lange zu ihr hin und wagte nicht, mich zu bewegen, als fürchtete ich, sie könnte plötzlich ihren Oberkörper unter entsetzlichem Knirschen, ohne dass sich ihre Beine auch nur einen Millimeter bewegten, senkrecht aufrichten, mit einem knorpeligen Geräusch mir ihr verzerrtes, von Fliegen umwimmeltes Gesicht zuwenden und mich höhnisch fragen: „Na, da bist du mir also doch noch auf die Schliche gekommen, was?“
Aber Katrin bewegte sich nicht.
Mario war aus dem Haus getreten. Er stand seitlich hinter mir und ich erkannte im Augenwinkel, wie er stumm mit den Händen Zeichen machte. Unwillkürlich wandte ich mich in die Richtung, in die er gestikulierte und sah nicht weit neben mir Marios Freund stehen. Er sah mich ausdruckslos an. Unschlüssig standen er und Mario um mich herum.
Dann verschwand Mario im Haus. Mit irgendetwas länglichem in der Hand kam Mario wieder heraus, lief dann in einem Bogen, mein Blickfeld verlassend, hinter mich und blieb stehen.
Ich rührte mich nicht.
Wenn ich versuchen würde, gegen Mario vorzugehen, würden er und sein Freund mir wahrscheinlich sehr schmerzhafte Verletzungen zufügen, deren Zweck nicht mein schneller Tod, sondern zuerst meine Kampfunfähigkeit wäre.
Schwankend wartete ich auf den Schlag. Schritte knirschten hinter mir und es kostete mich übermenschliche Kräfte, dem Verlangen zu widerstehen, mich umzudrehen. Zu groß war die Angst, dass mich genau in diesem Moment das Stahlrohr, oder was es auch sein mochte, ins Gesicht treffen könnte.
Meinen Schädel schien plötzlich zu explodieren und ich stürzte kopfüber auf den Boden. Ich verspürte seltsame, nie gekannte Schmerzen in meinem Hinterkopf, als wenn spitze Gegenstände, Schädelsplitter!, tief in meine Gehirnmasse eingedrungen wären. Ich musste tot sein. Nur mein wahnsinnig gewordener Verstand war es nicht. Ich fühlte, dass er jeden Einfluss auf den Körper verloren hatte.
Durch meine Augen, zufällig im Augenblick des Todes offen geblieben, sah ich den Boden an mir vorüber gleiten. Ich wurde fortgeschleift. Schwach spürte ich das Reiben des Bodens an meiner Haut und das müde Brechen des Grundstückszauns unter mir.
Es ging hinaus in Richtung des Waldes zu einem riesigen Schüttkegel aus dunkelgrauer Erde.
Wenn mein Verstand, anscheinend nicht gebunden an einen bestimmten Körper, arbeiten konnte, denn ein toter Körper war zweifellos wie ein anderer toter Körper, gab es keinen Grund, dass es Katrin nicht auch konnte.
Ich konzentrierte mich darauf, das von Katrin in mir verbliebene Abbild ihrer Persönlichkeit vor mir erstehen zu lassen und es anzurufen. Aber ich konnte sie nicht spüren. Ihr inzwischen neben mir abgelegter, bestialisch stinkender, verwesender Körper schien meinen Versuchen hohnzusprechen und doch war ich selbst auch nur eine Leiche, die in Kürze verwesen würde.
Mit dem Kopf voran, auf dem Rücken liegend, wurde ich über den Grubenrand geschoben. Mein Hinterkopf klappte an die Grubenwand. Der sich mir nun eröffnende Blick in die Tiefe ließ kein Ende erkennen. Die Grube war sehr schmal und musste sehr tief sein.
Ich wurde weiter geschoben und stürzte in die Grube.
Mein Kopf knickte beim Aufprall auf die Grabsohle nach vorn und mein Körper stürzte auf ihn herab, so dass er auf seiner Nasenspitze zu Ruhe kam.
Ich musste aus der Perspektive Marios und seines Freundes eine sehr komisch wirkende Position eingenommen haben und lauschte auf ihr Gekicher. Ab ich konnte nichts bemerken.
Dann spürte ich den gewichtigen Aufprall von Katrins Körper auf mich und fühlte, wie meine Brust nun mit doppeltem Gewicht meinen Kopf unter finalem Geknirsche zur Seite drehte und in den Sand presste. Dann vernahm ich nur noch in weiter Ferne das dumpfe Geprassel der Erdbrocken auf unseren Körpern und es trat eine absolute Ruhe ein, wie ich sie selbst aus meinem Verlies in dem unweit stehenden Häuschen nicht kannte.
Tief in der Erde, wie ein einsames Tier, wohnte nun mein Verstand, allein sich selbst und seinem Wahnsinn überlassen.
Dann tauchte ein tiefgoldenes, wogendes Meer vor meinen Augen auf in einem nie gesehenen, phantastischem Licht, dass sich bald in ein sich im Wind wellenförmig bewegendes Weizenfeld verwandelte. Der Blick schwenkte weiter zu einer leichten Anhöhe und einem sich daran anschließenden Wald. Zwischen den knorrigen Stämmen seiner Bäume glitzerte unruhig eine spiegelnde Fläche das Sonnenlicht, der Waldsee!, und weiter hinten am Horizont stand das kleine, ebenerdige Häuschen.
Aus der sich geänderten Perspektive sah ich nun seitwärts neben mir einen wohlgestalteten Mann mit sympathischem Gesicht, dass mich interessiert anblickte und freundlich, oft unterbrochen durch ein einnehmendes Lächeln, auf mich einzureden schien. Seine gebräunten, muskulösen Unterarme und die schönen, feingliedrigen Hände begleiteten seine Rede ausdrucksstark mit geschmeidigen Gesten. Doch der Vision fehlte der Ton. In völliger Lautlosigkeit schritt diese Person, die unzweifelhaft Mario war, mit federnden Schritten neben mir her. Es mussten Katrins Augen sein, durch die ich das alles sah und nun beobachten konnte, wie sich ihr Blick nach hinten wandte und zwei Männer in ihr Blickfeld nahm, die in einigem Abstand hinter ihr herliefen. Der eine blickte gelangweilt ohne ein bestimmtes Ziel an ihr vorbei und der andere Mann blickte zu Boden. Dann hob er seinen Kopf und zeigte ihr sein blasses, hassverzerrtes und vorwurfsvolles Gesicht. Stolpernd, schmollend und widerwillig sah ich mich selbst aus Katrins Augen hinter ihr herlaufen!
Mein Verstand wurde schwächer und die Vision schien sich zu verflüchtigen, doch ich durfte sie nicht verlieren. Sie kam von Katrin, meiner Katrin, die ich so sehr liebte. Ich liebte sie jetzt so stark, wie ich es nie vorher getan hatte.
Langsam kehrten die wunderschönen Bilder in ihren berauschenden, wenn auch etwas dunklen Farben zurück. Die Szene hatte gewechselt und ich sah mich, den blassen, schlaksigen Mann im hinteren Teil des Häuschens langsam, Stufe für Stufe in den Boden versinkend, Mario zur Kellertür folgen. Katrins Blick wandte sich nun dem Ausgang zu. Dort stand der andere. Er näherte sich schnell mit weit geöffnetem Gebiss und blitzartig schlossen sich seine Kiefer über meinem Nasenbein. Trotz der bisher nur optischen Vision konnte ich fühlen, wie er seine Zähne tief in mein Fleisch grub, mit ihnen an meinem Nasenknochen entlang bis zum weichen Nasenknorpel glitt, mit tierischen Kräften zubiss und begann, wie verrückt seinen Kopf hin- und herzuwerfen. Ich konnte einen unerträglichen Schmerz erahnen, doch die Vision entglitt mir wie ein morgendlicher Albtraum und mein Verstand dämmerte weg und schien einzuschlafen. Ich hoffte für immer.