Die Taube
Die Taube
Am 26. Oktober wurde ich endgültig wahnsinnig. Ich zog mir die straffe Gummihose an, nahm die alte faserige Jutetasche in die Hand und zog nun fortan von Haustür zu Haustür. Als man mir eindringlich zu verstehen gab das ich auf keinen Fall, schon gar nicht ohne jegliche Referenzen einfach so betteln könnte, versuchte ich mich erst einmal ein paar Tage im Obdachlosen-Milieu.
Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen schließlich Jahre.
Mein Bart war sehr lang geworden und die Gummihose spröde und rissig von Sonne und Kälte. Meine Haare waren zu einem verflitzten Wirrwarr, und meine Zähne zu fauligen Pflöcken geworden. Ich nahm erneut meinen alten faserigen Jutebeutel und zog nun fortan von Haustür zu Haustür. Als man mir eindringlich zu verstehen gab dass ich viel zu ungepflegt sei und was ich mir vor allem dabei denken würde so eine zerschlissene Gummihose zu tragen, wanderte ich weiter desillusioniert durch die Straßen.
Ich bog in einen Hauseingang und stieg die Treppen bis zum Dach hinauf. Oben angelangt war ich noch verwirrter. Dort war ein wunderschön dekoriertes Flachdach mit Swimmingpool und Palmen und exotische Musik drang von der Bar, wo ein leicht übergewichtig erscheinender Asiate Cocktails zubereitete..
Alles war vom Feinsten.
Braungebrannte vergilbte Weiber so ende fünfzig boten ihre vertrockneten Brüste feil. Ihre sich windenden Körper sehnten sich nach Jungfräulichkeit.
Auf dem Schornstein, der wie ein Obelisk das Dach dominierte, saß ein kleiner Junge. Rote Haare, rote Backen und mit einer rauchenden Pfeife in der Hand.
Nachdem ich in dieser grotesken Gesellschaft nicht weiter zur Kenntnis genommen wurde, bequemte ich mich an die Bar und verpasste mir diverse Schnäpse. Die Euphorie in mir, wuchs wie ein Atompilz und ich beschloss die Gummihose abzustreifen. Sie blätterte fast wie von selbst ab. Ich zog auch meinen Pullover aus Schurwolle aus und warf damit nach dem garstigen kleinen Jungen, der die ganze Szenerie mit seinen stechenden Augen argwöhnisch betrachtet hatte. Er ließ sich aber nicht beirren, zog weiterhin genüsslich an seiner Pfeife und schaute mir stumpf in die Augen.
So nackt wie ich nun dastand, fühlte ich mich frei.
Auch wenn keine dieser dekadenten Nobel-Weiber Anstoß an mir nahm. Eine der vergilbten Weiber fasste sich sogar unverblümt in den Schritt und kratzte sich in den Schamhaaren, die meterlang ( so schien es mir) aus ihrem String-Tanga hingen.
Langsam ging ich auf den Rand des Daches zu. Angelangt stellte ich mich mit Zehenspitzen genau auf den selbigen.
Noch einmal blickte ich zu dem kleinen Jungen mit seiner Pfeife und sagte: „ Junge... lass doch das rauchen sein!“
Dann sprang ich.
Das letzte woran ich mich erinnere ist eine kleine weiße Taube, die über mich hinweg flog und ein bittersüßes Liedchen gurrte.
Dann bin ich wohl gestorben. Es war ja auch wirklich sehr hoch.