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Die Totenglocke
Kürzlich war seine Frau Lisbeth verstorben, und obwohl sie sich weder besonders nahe gestanden noch im Verlauf ihrer turbulenten Ehe allzu viel zu sagen gehabt hätten, vermisste Huber sie irgendwie. Zugegeben, sie war wirklich nicht einfach gewesen, und ihre unnachgiebige Art, besonders in letzter Zeit, stand in einem kaum zu leugnenden Zusammenhang mit diversen Altersschüben seinerseits. Aber dennoch, es war einfach nicht mehr dasselbe. Vor drei Tagen hatte er sie höchstselbst in ihr schmales Grab befördert. Da sich ihr kleines Haus auf dem Friedhof befand, hatte er Lisbeth immerhin nicht allzu weit tragen müssen. Trotzdem war es ein durch und durch unschönes Gefühl gewesen, berufliches und privates derart zu vermengen. Davon abgesehen war ansonsten zum Glück aber alles recht routiniert abgelaufen. Bis auf den starken Regen vielleicht, der ihn völlig durchnässt und den Friedhof in eine Schlammgrube verwandelt hatte. Aber Huber verstand, dass man im Leben manchmal gewisse Abstriche machen musste. Strömender Regen auf der Beerdigung seiner Frau erschien ihm daher sogar einigermaßen angemessen.
Anschließend hatte er sich aufgemacht, um sich nach allen Regeln der Kunst zu besaufen. Denn das, so vermutete er, entsprach dem allgemein anerkannten Trauerstandard frisch verwitweter Ehemänner. Nachdem sein alter Körper schließlich tief in der Nacht irgendwann die Reißleine in Form einer gnädigen Ohnmacht gezogen hatte, erwachte er am nächsten Morgen auf dem Boden vor seinem Bett. Ihm war, als wäre etwas sehr Schweres über seinen Kopf gefahren, und zu allem Überfluss kündigte sich bereits besagter Schnupfen an.
Zwei Tage waren seither vergangen, und Huber saß mit unvermindert schlechter Laune in der Küche, rauchte Pfeife, spuckte Schleim und war dazu übergegangen, sich selbst leidzutun. Das erschien ihm in Anbetracht der Umstände angemessen. Am heutigen Abend störte allerdings etwas ganz empfindlich Hubers sonstige Routine des allgemeinen Trübsinns. Schlimmer noch, das unaufhörliche Klingeln einer kleinen Glocke jagte ihm Schauer über den Rücken.
Der Tod ist an und für sich nichts Erstrebenswertes, gehört aber in der Regel dazu. Wirklich unschön wird es allerdings, wenn man sich in einem Sarg wiederfindet, bevor man das Zeitliche gesegnet hat. Leider kommt genau das in seltenen Fällen vor. Insbesondere Menschen mit geradezu erstaunlich ausufernden Schlafgewohnheiten werden, wenn sie Pech haben, vorschnell für tot erklärt, im Schnellverfahren betrauert und anschließend fachgerecht verscharrt. Es braucht schon starke Nerven, sich vorzustellen, was es heißt, völlig unverhofft im eigenen Sarg aufzuwachen und festzustellen, dass da vermutlich irgendwas grundsätzlich schief gelaufen ist. Nach einigen äußerst unschönen Vorfällen, aufsehenerregenden Gerichtsprozessen und nachdem ein panischer Totengräber in bester Absicht die örtliche Kirche niedergebrannt hatte, kam man überein, ähnliche Vorfälle in Zukunft tunlichst vermeiden zu wollen.
Abhilfe versprach die sogenannte Totenglocke. Wobei der Begriff Totenglocke im Grunde genommen das Thema verfehlt. Denn eigentlich ging es ja gerade darum, dass zu Unrecht Bestattete die Möglichkeit bekamen, im Zweifelsfall nach irgendwem zu läuten, um mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass sie eben nicht tot waren. Es hätte also vermutlich Rettungsglocke oder präziser noch, Hinweisglocke einer zu Unrecht für tot erklärt und allzu vorschnell begrabenen Person heißen müssen. Aus Gründen der Einfachheit einigte man sich aber recht schnell auf den deutlich schmissigeren Begriff der Totenglocke.
An und für sich stellte sich diese Glocke als eine sinnvolle Ergänzung im Bestattungshandwerk heraus. Erwin Huber war in seiner jahrzehntelangen Karriere als Bestatter zudem bisher auch noch nie in die Verlegenheit geraten, auf ein verzweifeltes Läuten reagieren zu müssen. Heute Abend aber, seit etwa zwei Stunden, klingelte es beinahe ununterbrochen. Und da er nun mal der Einzige war, der auf diesem Friedhof die Berechtigung besaß, Menschen zu vergraben und ergo auch derjenige, der das letzte Grab ausgehoben hatte, brauchte es nicht allzu viel Denkleistung zu erahnen, wer da nach ihm klingelte.
Nachdem Huber seinen ersten Schrecken einigermaßen überwunden hatte, beschloss er, es dem Hund gleichzutun und die Ereignisse mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit zu strafen. Abwarten, rauchen und bloß nicht in Panik geraten, war die Devise. Mit zittrigen Händen machte er sich also daran, eine weitere Pfeife zu stopfen und bemühte sich ansonsten, das enervierende Läuten zu überhören. Nach einer weiteren geschlagenen Stunde musste er sich allerdings eingestehen, dass diese Taktik so nicht aufzugehen schien. Stattdessen klingelte es unvermindert weiter und Huber verlor zunehmend die Nerven. Sogar der Hund, der ansonsten durch eine bemerkenswerte Passivität im Alltag glänzte, hatte sich mittlerweile emporgehievt und demonstrativ aus der Küche zurückgezogen.
Huber zwang sich, die Situation, gedanklich zu erfassen. Da draußen läutete die Totenglocke an Lisbeths Grab. Insofern schwer nachvollziehbar, als dass seine Frau mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mausetot war. Sein musste! Das hatte er schließlich höchstselbst zu Genüge überprüft. Möglich war natürlich, dass der Wind die Glocke zum Klingeln brachte oder aber sich irgendein neugieriges Tier in der Schnur verfangen hatte. Andererseits war es draußen nicht windig und kein Tier das er sich vorstellen konnte, war dermaßen ungeschickt, stundenlang mit einer Kordel herumzuringen.
Es half nichts. Er würde nachschauen müssen. Huber spie einen großen Schleimklumpen aus und erhob sich ächzend von seinem Platz. Nachdem er die Stiefel angezogen und einen schweren Ölmantel übergeworfen hatte, pfiff er nach dem Hund. Er wartete vergeblich auf eine Reaktion, denn der hatte offensichtlich beschlossen, dass ihn das alles nichts anging. Leise über diese unverhohlene Art der Meuterei fluchend, und mit einem Spaten in der Hand, stapfte Huber schlecht gelaunt hinaus in den Regen.
Huber war kein abergläubischer Mensch. Das konnte er sich ja alleine schon aus beruflichen Gründen nicht erlauben. Aber, als er jetzt mit langsamen Schritten über den nassen Rasen stapfte, verspürte er starkes Unwohlsein. Der Versuch, die eigene Angst mit grimmiger Entschlossenheit zu übertünchen, scheiterte. Sein zögerlich gemurmeltes, „Das wollen wir doch mal sehen“, kam reichlich zittrig über die Lippen und Huber beschloss, besser zu schweigen. Schließlich stand er vor dem Grab seiner kürzlich verstorbenen Ehefrau. Abgesehen vom Prasseln der Regentropfen und seinem rasselnden Atem war alles ruhig.
Misstrauisch beobachtete er die Glocke, die provozierend unschuldig an einer Kordel hing. Hatte er sich die ganze Sache womöglich doch nur eingebildet? Hatten ihm seine angestrengten Nerven einen Streich gespielt? Zugegeben, in den letzten Tagen stand er gewissermaßen etwas neben sich. Oder doch der Wind? Just in dem Moment, in dem sich Hubers Verstand und eine vage Hoffnung auf einen vorsichtigen Kompromiss geeinigt hatten, erklang die Glocke von Neuem. Vor Schreck machte er einen beachtlichen Satz rückwärts, rutschte dabei im nassen Gras aus und setzte sich mit einem lauten Platschen auf den Friedhofsboden. Was vielleicht witzig ausgesehen hätte, wurde durch die Tatsache geschmälert, dass sich hier soeben wahrlich Unerhörtes zutrug. Denn das Klingeln konnte ja nur eines bedeuten. Dort unten war jemand lebendig und weigerte sich, dem Beispiel seiner klaglos ruhenden Nachbarn zu folgen und zu schweigen wie ein Grab.
An etwas wie eine unsterbliche Seele, ein Leben nach dem Tod oder ähnlichen Schnickschnack verschwendete Huber unter normalen Umständen keinen Gedanken. Zudem wusste er, dass die Verabreichung größerer Mengen Arsen in der Regel unweigerlich zum Tode führt. Umso empörter war er daher, sich nun im nassen Gras mit dem absurden Gedanken herumschlagen zu müssen, dass Lisbeth nach ihm klingelte und ergo nicht so tot war, wie es angemessen gewesen wäre. Huber versicherte sich erneut, dass er ganz ohne Zweifel ein Mann war, den das Schicksal unbarmherzig prüfte.
Die Glocke klingelte weiter. Huber hatte sich mittlerweile aufgerappelt und stand zitternd vor dem Grab, unschlüssig, was nun zu tun sei. Den Spaten hielt er zur Verteidigung gegen jene Unsäglichkeit, die gerade dabei war, sein über die Jahre gehegt und gepflegtes Weltbild handstreichartig niederzureißen, fest umklammert. Dass man sich mittlerweile offenbar nicht einmal mehr auf so etwas Unbestreitbares wie den Tod verlassen konnte, war schlecht. Noch schlechter war, dass, sollte dort unten tatsächlich Lisbeth rumoren womöglich einseitiger Klärungsbedarf bestand. Nicht völlig zu Unrecht, wie er zugeben musste. Lisbeth hatte vermutlich das starke Bedürfnis, über die Details ihres Ablebens sprechen zu wollen. Und da er selbst einen gewissen, um nicht zu sagen, ganz entscheidenden Anteil daran hatte, würde die Sache ziemlich sicher in Streit ausarten. Aber es half ja nichts. Mit einem Gesicht weiß wie die Wand in seiner kleinen Küche, machte er sich daran, den ersten Spatenstich zu setzen. Dann hielt er inne, was die Glocke sofort mit einem energischen Klingeln kommentierte.
Was tat er hier eigentlich? War er wirklich im Begriff, den Sarg seiner verstorbenen Frau auszugraben? Mitten in der Nacht? Im strömenden Regen? Und nachdem die Totenglocke ihm immerhin ziemlich eindeutig die Möglichkeit aufzeigte, dass Lisbeth erstens einigermaßen lebendig und zweitens aller Wahrscheinlichkeit nach äußerst ungehalten war? Und ihm fiel daraufhin nichts Besseres ein, als in den Regen zu stapfen und mit dem Graben zu beginnen? Na herzlichen Glückwunsch, Herr Huber. Er setzte den Spaten ab. Die Glocke klingelt noch ein wenig energischer.
Überhaupt, was dachte er sich eigentlich bei der ganzen Sache? In der guten alten Zeit waren er und seine Vorstellungen über die Welt sich doch zumindest darin einig gewesen, alles Metaphysische, Untote oder Geisterhafte als nicht vorhandenen Unfug zu benennen. Und jetzt stand er auf dem Friedhof und verriet, mir nichts, dir nichts, seine eisernen Überzeugungen. Nur weil ein hartnäckiger Wind ihn seit etwas über drei Stunden auf dem falschen Fuß erwischte. Mit einer einzigen wütenden Bewegung riss Huber die Glocke von der Kordel und das Klingeln stoppte abrupt. So! Schluss mit diesem Quatsch! Mit grimmiger Entschlossenheit stapfte er zurück in Richtung Hütte. Allerdings ohne sich noch einmal umzudrehen. Man wusste ja schließlich nie.
Um dem reichlich verkorksten Abend die entscheidende Wendung zu verpassen, hatte Huber beschlossen, die nächsten Stunden dem Vorhaben zu widmen, sich besinnungslos zu trinken. Daher war er schon ziemlich beschwipst, als es klopfte. Huber schaute die Tür an. Huber schaute seinen Hund an. Der wiederum blieb seiner bisherigen neutralen Linie treu und widmete sich mäßig interessiert einigen Staubflusen auf dem Fußboden. Huber schluckte, notierte innerlich ein weiteres unwiderlegbares Indiz für die mannigfaltigen Verfehlungen seines Haustieres und stand schwankend auf. Mit langsamen Schritten und Schmerzen in den Gliedern bewegte er sich in Richtung Tür. Dabei fühlte er sich, als ginge er die letzten Schritte zum Galgen. Er ahnte, dass die Sache womöglich unschön für ihn zu Ende gehen würde.
Für manche der Frauen im Ort lagen die Dinge etwas anders.
Oft waren sie mit Lisbeth zusammen gewesen und hatten über ihre Männer gesprochen. Ach, ihre dummen und brutalen Männer. Die ihrer Überforderung und Angst oft einzig durch körperliche Gewalt Ausdruck zu verleihen wussten. Ob in der Kneipe oder zuhause. Es war stets ein trauriger und erbärmlicher Anblick. Lisbeth war es aber, die nicht bereit gewesen war, die Dinge so hinzunehmen, wie sie eben lagen. Lautstark machte sie sich über die Männer lustig. Und allen voran über Erwin Huber. Die anderen Frauen bewunderten Lisbeth dafür, aber sie bekamen es auch mit der Angst, denn sie kannten den Huber. Und sie kannten auch die Spuren der Gewalt, die er an Lisbeths Körper hinterließ.
„Irgendwann schlägt er dich tot“, warnten sie.
Lisbeth ließ sich aber nicht einschüchtern. Spöttisch wies sie die anderen darauf hin, dass der Alte jeden Tag noch älter und gebrechlicher wurde und zu Derartigem vermutlich schon überhaupt nicht mehr in der Lage war.
„Der müsste mich schon vergiften um noch eine Chance zu haben. Und das wäre auch nur der letzte erbärmliche Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.“
„Und was ist das Unvermeidliche?“, fragten die anderen.
„Dass die Zeiten sich geändert haben“, schloss Lisbeth mit ernster Miene.
Jedenfalls konnte Ferdinand über Derartiges wirklich gar nicht lachen und machte sich unverzüglich auf, den Huber darum zu bitten, doch für etwas mehr Ordnung zu sorgen. Schließlich war der Friedhof ein Ort der Einkehr und Ruhe und nicht, um nichts ahnend in fahrlässigerweise offenstehende Gräber zu stürzen und sich dabei womöglich noch den Hals zu brechen. Ferdinands Beschwerden, die er in Richtung der offenstehenden Haustür lallte, liefen allerdings ins Leere. Denn im Inneren lag Erwin Huber auf dem Boden, die Kordel der Totenglocke um den Hals und ohne jeden Zweifel nicht mehr in der Lage, Ferdinands Bitte nachzukommen. Ferdinand machte sich stolpernd vom Acker, fiel bei sich zunächst durch die Haustür, anschließend ins Bett und schlief seinen Rausch aus. Am nächsten Tag ging er noch einmal die Ereignisse der letzten Nacht durch. Nachdem die schummrige Erinnerung sich langsam durch den vom Restalkohol immer noch etwas benebelten Geist gekämpft hatte, schlug er Alarm.
Eine tapfere Delegation aus dem Dorf machte sich gegen Mittag auf, um beim Huber mal nach dem Rechten zu sehen. Bei der Hütte angekommen bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. Huber lag mit einer Kordel um den Hals erwürgt im Eingang. Sein Gesicht war bläulich angelaufen, und mit den geplatzten Äderchen in den Augen bot er wirklich keinen sonderlich erbaulichen Anblick. Das Ende der Kordel war um einen der Dachbalken gewickelt worden. Höchstwahrscheinlich also Selbstmord. Warum das Grab von Lisbeth Huber aber völlig zerwühlt und zum großen Schrecken der Anwesenden leer war, blieb unklar. Ebenso unverständlich war den Beteiligten, was Huber dazu veranlasst haben mochte, mit nasser Erde die Worte, „die Zeiten haben sich geändert,“ auf seinen Fußboden zu schmieren, bevor er sich erhängt hatte. Lisbeths Leiche blieb ebenso wie der Hund verschwunden.
Nachdem der Arzt, ein übergewichtiger Zyniker und alles in allem ein schlechter Mensch angerückt war, um den Toten zu untersuchen, berichtete er den Anwesenden anschließend böse grinsend von seinen Erkenntnissen. Huber hatte sich offenbar nicht nur zu Tode stranguliert, sondern vermutlich um ganz sicher zu gehen, auch noch Unmengen von Arsen geschluckt.
„Der hat´s wohl wirklich drauf angelegt, dieses Jammertal ein für alle Mal zu verlassen, was?“, wieherte der Doktor, während es den Dorfbewohnern eiskalt den Rücken herunterlief.
„Na ja man kann für den armen Teufel jedenfalls nur hoffen, dass das Erwürgen nicht zu lange gedauert hat. Das Gift muss in seinen Gedärmen ja ordentlich für Furore gesorgt haben, das ist mal sicher!“
Damit schloss der Arzt wenig fachmännisch und jovial lächelnd seine Ausführungen, spuckte aus und schickte sich an, in die nahe Stadt zurückzukehren.
Selbst Jahre nach den dramatischen Ereignissen waren sich die allermeisten noch immer uneins darüber, was sich im Hause Huber wirklich abgespielt haben mochte. Aber wie sooft war man alleine schon, um die eigenen Nerven zu schonen, stillschweigend zu der Entscheidung gelangt über die ganze Sache, doch besser den gnädigen Mantel des Schweigens zu bereiten. Allerdings hatten sich die Zeiten im Ort ganz eindeutig geändert, und nicht wenige der Frauen trugen kleine Kordeln mit einem Glöckchen am Handgelenk.