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Die Trinker!
Direkt am Ausgang meiner Wohnsiedlung befindet sich praktischerweise ein Supermarkt. Um die Ecke vom Supermarkt, dort wo ich Tag für Tag auf meinem Weg in die Arbeit vorbeikomme, befinden sich zum Supermarkt gehörige Container für Glas, Dosen und Altpapier. Genau dort, direkt neben dem Dosencontainer, stehen sie seit einigen Monaten. Der Kleinere mit dem stark ausgeprägten Bierbauch und den schütter werdenden grauen Haaren, er dürfte Mitte 40 sein, steht jeden Tag dort. Den Größeren, ein dunkler sportlicher wirkender Typ Ende 30, sehe ich zwei bis dreimal die Woche dort. Sie stehen schon dort wenn ich zur Arbeit gehe und sind immer noch am selben Platz wenn ich von der Arbeit zurückkomme. In ihren Händen oder temporär auf dem Dosencontainer abgestellt finden sich immer zwei Dosen des billigsten Bieres aus dem Supermarkt.
Eigentlich sollte man meinen, die beiden sind zwei ganz gewöhnliche arbeitslose Alkoholiker wie man sie regelmäßig im Park oder im Bahnhof findet. Das sind aber ein paar Details welche die beiden von anderen Alkoholikern unterscheiden. Genau diese Details bringen mich Tag für Tag ins Grübeln und veranlassen mich diese Geschichte niederzuschreiben.
Da ist einmal das Ambiente. Sowohl die Wohnanlage als auch der Supermarkt und sogar der Containerbereich sind sehr modern und sehr gepflegt. In der Wohnanlage wohnen hauptsächlich Familien mit Kindern. Alle kommen fast täglich bei den beiden vorbei. Warum suchten sie sich genau diesen Platz aus? Wollen sie damit öffentlich protestieren? Wollen sie darauf hinweisen, dass auch Trinker einen schönen Platz in der Gesellschaft verdienen? Obwohl der Platz schön und ordentlich ist, ist er nicht unbedingt ideal für die Tätigkeit der beiden. Es ist dort fast den ganzen Tag schattig, was besonders jetzt im Winter bei Minusgraden nicht gerade angenehm sein kann. Man kann sich dort auch nirgends hinsetzten und bis jetzt habe ich die beiden immer nur stehend gesehen. Gerade eben waren ein paar sonnige Wintertage. Im Schatten eiskalt aber in der Sonne sehr angenehm. Sie hätten nur einige Meter um die nächste Ecke gehen müssen, um die warme Wintersonne zu genießen. Sie bleiben aber immer in der eisigen Kälte direkt neben dem Dosencontainer stehen. Obwohl ich keine zufrieden stellende Erklärung dafür finden kann, gibt es einen Grund dass sie beim Dosencontainer bleiben. Die beiden entsorgen die geleerten Dosen jeweils sofort im Dosencontainer. Abwechselnd geht einer der beiden nach dem Entsorgen der Dosen zum Supermarkt und holt die nächsten zwei Dosen. Sie haben nie mehrere Dosen gleichzeitig an ihrem Platz. Es hat fast den Anschein als würden sie ihren Platz auf besondere Weise in Ordnung halten. Und in der Tat ist der Containerplatz nie unordentlich. Warum aber holen sie nicht gleich mehrere Dosen auf Vorrat wie es Trinker für gewöhnlich tun? Warum ist nie auch nur ein einziger Tropfen verschüttetes Bier dort zu sehen, geschweige denn Urinspuren oder Erbrochenes wie es an solchen Plätzen nun mal üblich ist?
Als ob das nicht schon ungewöhnlich genug wäre ist da noch das äußere Erscheinungsbild der Beiden. Bis jetzt könnte man sich die beiden in lumpigen schmutzigen Kleidern vorstellen. Obwohl sie nicht gerade im Markenanzug dort stehen und ihre Kleiderwahl nicht unbedingt häufig variiert, sind beide aber immer ordentlich gekleidet. Durch die geputzten Schuhe, der sauberen Kleidung welche keinerlei Schmutz- oder Beschädigungsspuren aufweist sowie gekämmt und rasiert, sind sie allein durch die beiden Bierdosen als Trinker identifizierbar.
Den Größeren habe ich im Supermarkt einmal dabei beobachtet wie er ein gutes Schampon und einen Orangensaft anstelle der üblichen zwei Dosen Bier gekauft hat. Ohne die Bierdosen war ich fast Erschrocken über seine Ähnlichkeit mit mir zumal ich ebenfalls gerade Orangensaft kaufte.
Es scheint fast so als ob die beiden genau wie ich jeden Tag zur Arbeit gehen. Anstatt aber wie ich an den Containern vorbei zu gehen, bleiben sie dort den ganzen Tag stehen und trinken ein Bier nach dem anderen. Sie stören dabei niemanden. Ich sehe sie nur selten miteinander und nie mit Bewohnern der Wohnanlage reden. Sie grüßen auch nie und werden nicht gegrüßt obwohl jeder oft mehrmals täglich nur fünf Meter entfernt an ihnen vorbeigeht. Sie stehen dort wie Statuen. Wie zwei weitere Container. Sie stören niemanden, da sie weder die Leute unangenehm anstarren noch einem das Gefühl geben nach dem passieren ausgerichtet zu werden. Durch ihr Erscheinungsbild sind sie nicht mal der berühmte Dorn im Auge obwohl in der Wohnanlage genug Spießer wohnen. Ich nehme an deshalb hat bis jetzt noch niemand etwas gesagt. Sie sind einfach nicht das schlechte Vorbild für die Kinder das man nur zu gerne abschieben würde. Sie sind einfach nur da und werden irgendwann wieder verschwinden. Auch ich werde die vielen Fragen langsam vergessen, welche die beiden immer wieder aufwerfen. Aber ihr Sein an diesem Platz soll nicht umsonst gewesen sein. Die Schilderung der beiden soll dazu beitragen, die von Ihnen bewusst oder unbewusst aufgeworfenen Fragen weiterleben zu lassen. Die beiden werden für mich mehr und mehr zum Sinnbild eines stillen Widerstandes gegen eine verschlossene Gesellschaft die für alles immer eine vorgefertigte Antwort parat hält und dabei darauf vergisst, über den Tellerrand hinaus zu sehen und nach neuen Fragen zu suchen.