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Die Uhr
Er bummelte unschlüssig an diesem Stand mit all dem Gerümpel aus längst vergangenen Tagen herum. Die Menschen bahnten sich ihren Weg durch die engen Gassen des Flohmarktes. Wie Ameisen bahnten sie sich einen Weg. Man wühlte sich durch, hie und da bekam er einen unbeabsichtigten Rempler. Und er dachte genervt daran, dass es den Menschen wohl nicht reiche, unter der Woche die Fußgängerzonen zu überfüllen, nein, sie mussten auch noch sonntags hinausströmen, um ihr sauer verdientes Geld loszuwerden.Er betrachtete ein altes Nudelsieb aus Emaille und fand, dass es irgendwie Charme besaß. Dann nahm er einen alten Fotoapparat auf und stellte ihn sich gedanklich auf seiner Fensterbank im Wohnzimmer vor. Na ja, Wohnzimmer war zu viel des Guten, eher eine kleine Wohnküche. Er überlegte, ob er sich das Ding kaufen solle, als sein Blick auf einen goldglänzenden Gegenstand fiel. Was war das? Eine Taschenuhr! Sie besaß einen Deckel, auf dem eine Jagdszene eingraviert war. Ein Hirsch verfolgt von einer Meute Dackel und zwei Jäger zu Pferd. Dazu kam noch eine hübsch gearbeitete goldene Kette.
Er ließ sie aufspringen und blickte auf ein eigenartig bläulich schimmerndes Zifferblatt und römische Ziffern. Richtig schön, dachte er und erkundigte sich zum Preis. Der Verkäufer, ein alter ungepflegter Mann ohne Zähne – dafür mit vielen Pockennarben im Gesicht, nannte ihm den Preis und der löste Freude in seinem Herzen aus. Fantastisch, die Uhr war spottbillig und er schlug ein. Fast andächtig steckte er sie in seine Jackentasche und eilte nach Hause.
Er lebte in einer dunklen, kleinen Kellerwohnung mit Gittern vor den Fenstern. Was ihn nicht weiter störte, denn er hatte jahrelang auf der Straße gelebt. Viel Elend hatte er gesehen und so kam ihm die Wohnung wie eine Luxusbude vor. Er schloss die Haustür auf, durchquerte den Flur und zog seine schäbige Jacke aus, um sie wieder in den Flur zu bringen. Hansi hängte sie an einen Nagel, der als Garderobe diente, nachlässig auf. Wieder halb in seiner Wohnküche besann er sich, ging zurück und kramte die Uhr aus seiner Jackentasche, die nebenbei noch ein Päckchen Tabak, Feuerzeug und viele abgelaufene Fahrscheine enthielt. Der Mann legte sie auf den kleinen hellen Wohnzimmertisch und kochte sich in der kleinen Küchennische einen Kaffee. Dann ließ er sich auf das abgenutzte Sofa, das eine Spende der Caritas war, plumpsen und drehte sich eine Zigarette. Er nahm die Uhr hoch und betrachtete sie genauer. Die Jagdszene auf dem runden Deckel war eigentlich nicht so sein Ding. Ihn faszinierte das Zifferblatt, denn er konnte sich keinen Reim auf das Material machen, aus dem es gearbeitet war.
Einem Opal ähnlich, irisierend wechselte es mal in hellblau, dann wieder in rosa – je nachdem wie man sie ins Licht hielt und … Halt! Da war noch etwas eingraviert, und zwar im Deckel. Zwei Buchstaben. Altdeutsch. Ein S und P.
War wohl derjenige, dem die Uhr als erstes gehörte, schlussfolgerte er. Er stellte sich diesen Besitzer vor. Er trug bestimmt einen Zylinder und ein Monokel. Vielleicht war er einmal ein Banker gewesen? Wie dem auch sei, dachte er, auf jeden Fall konnte er dieses Kleinod weiter veräußern und er dankte dem Flohmarkthändler, dass jener so bescheuert war und nicht erkannte, dass das Gold der Uhr, das so wunderbar glänzte … echt war. Der verschlagene, heimtückische Blick desselben aber ist an ihm vorbeigegangen.
Die Turmuhr der nervigen Kirche gleich nebenan schlug fünf. Heute Morgen hatte der Kirchturm, der mit lautem und grellem Gebimmel die Scheinheiligen zum Gottesdienst rief, ihn um acht aus dem Bett geschmissen, wie jedes Wochenende. Aber es war ihm aber egal. Er war arbeitslos und hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Für ihn war der Staat ein reiner Ausbeuter und die Sozialhilfe, die er bezog, sah er als Schadensersatz. Hansi legte sein erworbenes Kleinod wieder auf den wackeligen Tisch, erhob sich und schaltete den alten Röhrenfernseher an, auch ein Geschenk der Caritas. Dann dachte er an die Dose Fisch in Tomatensoße und als er sie mit zwei Scheiben Toastbrot gegessen hatte, fühlte er sich rundum zufrieden. Zu seinem Glück fehlte ihm nur noch Bier, aber das durfte er nicht trinken, er war ein halbes Jahr trocken. Seitdem er hier in der Bude lebte und er wusste, sollte er wieder mit dem Saufen anfangen, hätte sich die Wohnung bald erledigt und die Straße wäre erneut sein Zuhause und davor hatte er Panik. Der Alkoholiker hatte Angst davor, wie Horst zu enden. Sein Schicksalsgefährte. Horst war verbrannt. Erst haben sie ihm den Schädel gespalten und dann in Brand gesteckt. Mit einem halben Liter Spiritus. Schnell dachte er an etwas Anderes. Im Fernsehen lief grade eine langweilige Doku und seine Augen wurde schwerer und schwerer und schließlich schlief er tief und fest.
Ein schrilles Piepen weckte ihn. Wie? Hatte er so lange geschlafen, dass bereits das Testbild im ZDF lief? Nee, er hörte irgendjemanden aus dem TV heraus quasseln. Trotzdem piepte es so eindringlich, dass ihm die Ohren klingelte. Nicht laut, aber kontinuierlich. Der Feuermelder? Quatsch, den hatte er ja abgebaut, als das Gerät anfing, mit seinem Alarm, selbst wenn er nur Spaghetti kochte, das alte Scheißding.
Die Nachbarn kamen runter und hatten Sturm geklingelt. Was hatte der Penner von unten jetzt schon wieder angestellt, fragten sie sich und waren sich über den Asozialen im Keller einig. Er hatte es mitangehört, durch die verschlossene Tür und war sehr betroffen darüber, dass sie wussten, wer er war.
Welches Labermaul hatte da wieder seine dumme Fresse nicht halten können, fragte er sich damals und fühlte sich irgendwie ertappt. Stöhnend richtete er sich auf und fuhr sich mit seinen Händen durch das schütter werdende Haar. Er war noch nicht so alt, aber sein Vater hatte bereits mit Ende dreißig eine ordentliche Platte auf dem Kopf. Hatte er wohl geerbt. Er richtete sich auf, um die Quelle des Piepsen zu suchen und stellte auch fest, dass die Luft rosa flimmerte. Was, zum Henker?! Nachdem er den Fernseher ausgeschaltet hatte, weil er sehen wollte, woher das Licht kam, sah er auf den Tisch. Das rosa Licht kam eindeutig vom Tisch und das Piepsen auch, und zwar … von der Taschenuhr. So alt konnte die doch dann nicht sein, wenn die so einen bescheuerten Weckruf hatte und er war sofort derbe enttäuscht. Alt und echt Gold … Das hätte ihm eine Stange Geld eingebracht, jetzt konnte er nur noch auf das Gold setzen. Vielleicht war der Stempel, der das Material als Gold auswies, auch nicht echt? Vielleicht war er, Hansi, der Depp und nicht der Verkäufer vom Trödelmarkt? Er nahm die Uhr vom Tisch auf und öffnete sie. Was er dann sah, veranlasste ihn, das Schmuckstück auf die Couch zu werfen. Wie vom Donner gerührt stand er zunächst da und schüttelte ungläubig den Kopf, nein, das kann nicht sein, schlief er noch und träumte? Er schlug sich auf die Wange und spürte den Schmerz. Nee, er war wach. Langsam und zögernd begab er sich zum Sofa und nahm den Zeitmesser vorsichtig hoch, so, als wäre er heiß und er könne sich die Finger daran verbrennen.
In Zeitlupe öffnete er den Deckel und schaute ängstlich noch einmal genauer hin. Und tatsächlich! Hinter dem Ziffernblatt, das jetzt die Struktur eines Fensters hatte, sah er einen Menschen. Ein kleiner Mann in Miniaturformat, der verzweifelt gegen das Ziffernblatt trommelte und irgendwas schrie. Der eindringliche Piepton war verstummt, sobald er den Deckel hatte hochspringen lassen. Oh mein Gott, was soll die Scheiße? Dachte er entsetzt und zweifelte an seinem Verstand. Er fragte mit rauer Stimme in die Uhr, wer der Mann sei. Dieser schrie nur in einer unverständlichen Sprache irgendetwas. Dann erinnerte sich der ehemalige Obdachlose an eine Lupe, die er irgendwann einmal im Herbst auf einem Sperrmüllhaufen gefunden hatte und rannte in die Küche, um sie zu holen. Damit bewaffnet sah er wieder auf das Ziffernblatt und konnte mithilfe der Vergrößerung sogar die Gesichtszüge des Unglücklichen erkennen, der voller Verzweiflung jetzt weinte. Der neue Besitzer schrie in die Uhr, was er denn tun solle und während er das schrie, begannen zarte Töne zu erklingen.
Eine wunderschöne Musik formte sich aus den Klängen und durchdrang das ganze schäbige Apartment. Der junge Mann beruhigte sich zunehmend und lauschte nur dieser Musik, die an Klassik erinnerte, aber fremd klang und schön … atemberaubend schön. Und plötzlich fand er das gar nicht mehr so ungewöhnlich, dass ein kleiner Mensch hinter dem Ziffernblatt seines Kleinodes verzweifelt schrie. Mehr noch, er spürte einen unwiderstehlichen Drang, ihm Gesellschaft zu leisten. Was gäbe es schöneres, als in der Uhr zu leben? Für immer. Er kicherte ausgelassen. Und während er kicherte, färbte sich der rosa Glanz im Zimmer blau und er bekam das Gefühl als schrumpfe er. Er wurde kleiner und kleiner und während seine Größe sich verringerte, zog es ihn in die Uhr hinein. Jetzt lachte er irre. Sein neues Leben konnte beginnen.
Die Möbelpacker holten die letzten Kisten aus der Kellerwohnung und der Gerichtsvollzieher zusammen mit dem Vermieter beobachteten den Schlüsseldienst, der ein neues Schloss in die Haustür einbaute. Ich vermiete nie wieder an ehemalige Obdachlose, erklärte der Hausbesitzer, einfach nicht zahlen und dann abhauen.
Die junge Frau stand unentschlossen an der Theke des Trödelhändlers und wog die Taschenuhr abschätzend in der Hand hoch und runter. Dabei hatte sie ihr hübsches Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt. Der alte, ungepflegte Mann betrachtete sie mit halb geschlossenen Augen heimtückisch. Eine Frau. Eine Frau fehlte ihm noch in seiner Sammlung. In der Tat. Samuel Pillerstone lächelte zahnlos in sich hinein.