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Die Umrisse eines Dampfers
Ich buchte die Dampferfahrt spontan bei einem der Dampfschiffkartenverkäufer an den Ufern der Moldau in Prag. Das Schiff hieß Kinatit. Mit blumigen Worten erläuterte ich meinen beiden Begleitern die Idee. Was konnte den Urlaub in der goldenen Stadt, mit Besuch des Schlosses, der Karlsbrücke und den Kafkagassen krönen? Eine Dampferfahrt! Ich sah es schon vor mir: Ein festlich beleuchtetes Schiff, das an einem festlich beleuchteten Ufer vorbeigleitet. An Bord: festliches Essen, von gut gekleideten Obern serviert. Im Saal: schöne Frauen und klassische Musik. Vielleicht Smetanas Moldaumelodie. Tanz und Wein und gute Stimmung.
Zwar war Börni eigentlich nur nach Prag mitgekommen, weil ich ihm erzählt hatte, dass es dort billig Schachliteratur zu kaufen gibt (Börni spielte Schach, sonst nichts), und Michel hatte Angst vor Wasser, aber ich hatte gebucht, bevor sich Widerstand entwickeln konnte. Ich hatte schließlich vier Semester Politik studiert, da lernt man, wie man rechtzeitig irreversible Realitäten schafft.
Am Mittag des nächsten Tages trennten wir uns. Börni suchte nach Schachbüchern, Michel nach Kafkas Grab, und ich wollte mir die Stadt ansehen. Der Treffpunkt zur Dampferfahrt war vereinbart, es war die Kneipe in dem Brückenpfeiler, ganz in der Nähe des Uferabschnitts, an dem die Kinatit laut Buchungsticket liegen sollte. Michel kam als erster (was selten vorkam). Er wollte wissen, ob ich sicher sei, dass man bei einer Dampferfahrt nicht ertrinken konnte. Noch bevor ich antwortete, begann der Wolkenbruch. Von Börni noch keine Spur, aber draußen sah es so aus, als hätte man die Niagarafälle über Prag installiert. Die Sichtweite durch das herabstürzende Wasser betrug zehn Meter. Und es sah nicht so aus, als würde es demnächst aufhören.
„Wir müssen zum Schiff“, sagte ich.
„Wir haben nur einen Regenschirm“, sagte Michel. Er sah so besorgt aus wie damals der Golem, der sich, zum Leben erwacht, zum ersten Mal dort umsah, wo er sich befand.
„Wir müssen trotzdem zum Schiff“, sagte ich.
Wir öffneten die Tür und gingen nach draußen. Der Regenschirm sah nach zehn Sekunden aus wie ein Huhn nach Blitzeinschlag. Wir irrten am Ufer entlang. Einige Schiffe lagen am Kai. Keins der Schiffe hieß auch nur annähernd Kinatit.
Von Börni noch keine Spur.
Ich lief an Bord des erstbesten Kahns und fragte: „Kinatit? Wo ist die Kinatit? “
„Die Kinatit?“, sagte der Matrose. Er blickte mich interessiert an. Er zeigte eine Richtung entlang des Ufers an, eine weitausholende Armbewegung, weit, weit ausholend.
„Wie weit?“, rief ich.
„Ein Kilometer?“, sagte der Matrose und lachte schallend.
Ich schwamm zu Michel zurück. Von Börni noch keine Spur. Ich erklärte kurz die Lage. „Glaubst du, Börni ist in der Lage, die Kinatit allein zu finden?“, fragte ich Michel.
„Börni weiß noch nicht mal, in welcher Stadt wir sind – oder auf welchem Kontinent“, sagte Michel. Mir war klar, dass Michel recht hatte. Wenn Börni nicht am Schachbrett saß, war er ein Fremder auf dieser Welt. Wir hätten ihn nicht allein loslaufen lassen dürfen.
„Dann müssen wir uns trennen“, sagte ich. „Du wartest hier, bis Börni da ist, dann kommt ihr nach. Ich laufe los und halte das Schiff auf!“
Michel nickte, sein Gesicht deutete jedoch an, dass er mit gar nichts mehr einverstanden war. Ich verließ den nicht vorhandenen Schutz des ehemaligen Regenschirms, den Michel immer noch eisern hochhielt, und lief los.
Es war, als hätte man mich in den Fluss geworfen. Ich war sofort patschnass. Das Wasser am Ufer reichte bis zu den Knöcheln, ich kam kaum vorwärts. Es schüttete, dass mir die Kiemen wuchsen. Schemenhaft sah ich nach einer knappen halben Stunde die Umrisse eines Dampfers vor mir. Die Kinatit. Sie lag einsam im Unwetter.
Ich watete an Bord und traf auf den Käptn. Er blickte düster über sein menschenleeres Schiff.
„Ich habe gebucht“, sagte ich ihm. „Für heute. Mit Abendessen. Und Musik.“
Er schaute an mir hoch und runter. Er sah aus wie Raimund Harmsdorf im letzten Teil des Seewolfs.
„Bist du der Einzige?“, herrschte er mich an.
„Nein“, sagte ich. „Es kommen noch zwei.“
„Dann fahre ich nicht“, sagte Harmsdorf. „Ich kann nicht fahren mit so wenig Kundschaft.“
Ich bestand darauf und wir verhandelten. Das Verhandlungsergebnis sah so aus: Wir würden fahren, aber nicht die drei Stunden, die ich gebucht hatte, sondern nur eineinhalb. Ich ging auf die Toilette und entwässerte meine Unterwäsche, wobei ich die Moldaumelodie summte. Als ich nach draußen blickte, sah ich Börni und Michel, wie sie an der Kinatit vorbei ins tschechische Nirwana irrten. Ich rief ihnen zu und winkte. Wir begaben uns ins Bordrestaurant. Wir waren die einzigen Gäste; der Raum war kaum beleuchtet, wie in einer Gruft; der Kellner kam misslaunig herangeschlurft, und wir bestellten belegte Brote, denn warme Küche hätte sich kaum gelohnt. Der Dampfer legte ab und begann, einen wirren Kurs auf dem regengepeitschten Fluss zu fahren.
Börni war unzufrieden mit der Situation. Während wir aßen, begann er zu nörgeln.
Für die halbe Fahrt wollte er auch nur die Hälfte seines Beitrags zahlen. Ich sagte ihm, er solle die Fresse halten, während ich meine Dampferfahrt genoss. Wenn er wolle, könne er ja selbst die Verhandlungen mit dem Seewolf wiederaufnehmen. Börni war beleidigt und sprach nie wieder ein Wort. Michel hielt den Stress nicht aus und zündete sich eine Kippe an. Sein Blick durchs Fenster, besorgt.
Wir beobachten draußen zahlreiche festliche Dampfer, die Steuerbord und Backbord an uns vorbeifuhren. Sie waren hell beleuchtet, wir sahen durch die Fenster gutgekleidete Frauen und Männer, die aßen oder tanzten oder uns zuwinkten. Es schien auch auf den anderen Schiffen nicht zu regnen ... aber ich versuchte, diesen Eindruck zu verdrängen. Dann durchlief ein Stoß unser geliebtes Dampferschiff. Börnis Kopf knallte gegen die Scheibe. Michel krallte sich am Tisch fest.
„Was war das?“, fragte er.
Ich wusste es auch nicht, stellte aber fest, dass der Kellner sich eilig eine Schwimmweste anlegte. Gleich darauf begann irgendein alarmierendes Bimmeln durch’s Schiff zu dringen. Dann stürzte der Käpt’n polternd herein und rief: „Alle Mann an Deck! Wir sinken!“
„Was?“, rief ich. „Wie kann das sein? Wie können wir auf der Moldau sinken?“
„Ein Eisberg hat uns gerammt“, rief der Käpt’n.
Michel sprang auf: „Was? Was hat er gesagt? Was hat er da gesagt?“
„Ein Eisberg?“, rief ich.
„Das ist uns schon öfter passiert!“, mischte sich der Kellner ein. „Obwohl es hier Eisberge noch nicht einmal gibt! Deshalb fährt auch keiner mehr mit uns.“
„Wir müssen Schwimmwesten für sie finden“, sagte der Käpt’n zum Kellner. „Wir haben zu wenig Rettungsboote!“
„Was hat er gesagt?“, fragte Michel.
„Zu wenig Rettungsboote?“, rief ich. „Aber wir sind doch nur zu fünft!“
„Und wir haben kein einziges Rettungsboot“, antwortete der Käpt’n.
„Was? Was hat er gesagt?“, rief Michel.
„Wir haben keine zusätzlichen Schwimmwesten, Käpt’n“, sagte der Kellner.
Das Boot neigte sich, das Geschirr begann sich auf den Tischen zu bewegen und über die Kanten zu gleiten. Der Käpt’n schnürte an seinen Schwimmflügeln. Er reichte uns drei Bücher und nickte mir zu.
„Seite 63“, sagte er. Dann wandte er sich an den Kellner: „Wir müssen von Bord!“
„Halt!“, schrie ich. „Was ist auf Seite 63?“
„Das Lied!“, rief der Käptn, lief nach draußen und sprang zusammen mit seinem Mannschaftskollegen über Bord. Blitze durchzuckten den Nachthimmel.
Das Boot hatte schon stark Schlagseite. Ich reichte Michl ein Buch, und auch Börni. Ich schlug auf, Seite 63. Das war es. Ich wusste, dass es richtig war. Ich dachte an schöne Frauen und klassische Musik. Während die Kinatit in den Fluten sank, sangen wir, die Gesangbücher in der Hand. Wir sangen: ‚Näher, näher mein Gott zu dir’.