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Die Uniform
Die Uniform
Er war fort. Fassungslos starrte Paul durch die aufgebrochene Wohnungstür in das Wohnzimmer seines besten Freundes. Er hatte es bereits geahnt, als David am Morgen nicht in der Schule aufgetaucht war; er hatte geahnt, dass sie ihn abgeholt hatten, aber er hatte es nicht wahr haben wollen. Nach der Schule war er den ganzen Nachmittag durch die Stadt gelaufen, hatte an all ihren Lieblingsplätzen am Flussufer gesucht – erst ganz zum Schluss, als ihm kein anderer Ort mehr einfiel an dem er suchen könnte, kam er hier her, in seine Wohnung. Und jetzt konnte er die furchtbare Wahrheit nicht mehr leugnen. Auf dem Tisch standen noch halbvolle Kaffeetassen; eine weitere lag zerbrochen am Boden. Eine dunkle Lache saugte sich durch den hellblauen Teppich. Aus dem Volksempfänger ächzte und knarrte Propaganda. Paul schaltete ihn aus.
Als er wenig später durch die dunklen, menschenleeren Straßen nach Hause lief, kämpfte Paul verbissen gegen die Tränen. Ein Junge weint schließlich nicht; zumindest sagte das sein Vater immer.
Verzweifelt fragte er sich, ob er David wohl jemals wiedersehen würde. Er hatte nie daran gedacht, dass es auch einmal einen seiner Freunde treffen könnte. Und dabei war David doch erst fünfzehn! Wie konnte man ihn bloß als Gefahr oder Verbrecher ansehen?!
Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, schallte ihm die Stimme seines Vaters entgegen.
„Wo bist du gewesen? Was fällt dir ein, dich den ganzen Tag draußen rumzutreiben! Los, geh gefälligst auf dein Zimmer!“
Pauls Blick fiel auf das Portrait des Führers, das über dem Sofa hing. Wortlos wandte er sich ab und ging in sein Zimmer. Draußen war es still und dunkel. In seinem Inneren fühlte er sich taub und leer. Unbeweglich saß er auf dem Bett und starrte auf die oberste Schublade der Holzkommode, die unter dem Fenster stand. Nach einer Weile stand er auf und öffnete sie.
Die Uniform war wie immer perfekt gebügelt und gefaltet. Daneben lag das Fahrtenmesser, in das das Emblem der Hitlerjugend eingraviert war. Paul nahm die Uniform aus der Schublade und setzte sich wieder auf sein Bett. Lange saß er da und betrachtete den khakifarbenen Stoff. Auf der Armbinde am linken Ärmel leuchtete das Hakenkreuz. Wie oft hatte er sie getragen und war sogar noch stolz darauf gewesen! War er nicht letztendlich mit schuld an Davids Schicksal? Paul fühlte sich mies. Wie hatte er nur so blind sein können? Mit beiden Händen packte er den Stoff um ihn zu zerreißen. Er würde diese Uniform nie wieder tragen, nie wieder wollte er einer von ihnen sein! Mit aller Kraft zerrte er an dem Stoff, der jedoch nicht so leicht nachgab. Seine Gedanken waren bei David - aber auch bei seinem Vater, seinen Freunden aus der Hitlerjugend und allen Leuten aus seinem Bekanntenkreis, die mit den Nazis sympathisierten... und das war im Grunde jeder, den er kannte. Welche Folgen würde sein Vorhaben wohl mit sich bringen? Was würden sie über ihn denken und sagen, wenn sie davon erfuhren? Die Angst, die schon die ganze Zeit in seinem Bauch gebrannt hatte, schon lange vor Davids Verschwinden, wuchs und wuchs. Ob sie wohl auch ihn verhaften würden, wenn er sich als ihr Gegner zu erkennen gab?
Irgendwo in der Ferne hallten Schüsse durch die Nacht. Paul legte die Uniform sorgfältig zurück an ihren Platz und ging zu Bett.