Die Verführung der Plakatwand
Manfred Winters Blut pulsierte wie von einer Pumpe getrieben. In seinem Magen kribbelte es aufgebracht, und seine Gedanken schwebten davon wie von Engelshänden getragen.
Er stand mit seinem Auto an der roten Ampel, wie eigentlich jeden Abend, wenn er Feierabend hatte. Bisher war ihm die riesige Plakatwand niemals aufgefallen. Doch seit drei Tagen war das anders. Hatte er früher die rote Ampel gehasst, weil sie ihm die Weiterfahrt verweigerte, so freute er sich nun schon morgens darauf, an ihr stehen zu bleiben. Und das alles nur wegen dieser neuen Werbung auf der Plakatwand.
Dunkle, wallende Haare fielen wie Wasserfälle über nackte Schultern. Große, braune Augen schienen ihn anzuschmunzeln. Dann folgte der perfekteste Körper, den er jemals bei einer Frau gesehen hatte. Sehr weiblich, sehr erotisch, sehr sinnlich. Der Busen war in einen weißen Spitzen-BH gehüllt, und passend dazu trug das Modell einen knappen Slip.
Mann o Mann, wer mochte sie sein? Manfred Winter hatte solche intensiven Gefühle noch nie verspürt. Nicht einmal bei seiner Frau Erika. Diese Frau auf dem Werbeplakat machte ihn ganz verrückt. Er konnte seit Tagen an nichts anderes mehr denken. Auf der Arbeit machte er Fehler, sein Chef rüffelte ihn mehrmals täglich, und seine Erika fragte ihn abends, warum er immer so abwesend sei. Und alles nur wegen dieser Frau mit den schimmernden, roten Lippen und den langen, schwarzen Wimpern.
Winter stand Schweiß auf der Stirn, und erst das wilde Hupen der Autos hinter ihm machte ihn darauf aufmerksam, dass die Ampel auf Grün stand. Er ruckelte mit dem Wagen an und würgte den Motor ab. Beim zweiten Versuch sprang der Wagen an, und Manfred Winter raste mit quietschenden Reifen davon.
Die Nacht war hereingebrochen. Nur Manfred Winter fuhr unauffällig mit dem Auto durch die einsamen Straßen. Niemand durfte ihn sehen, niemand durfte davon erfahren. Es war eine Geheimmission. Dann gelangte er an die Plakatwand. Himmel, die Süße sah noch viel verführerischer aus in dem fahlen Licht des Mondes. Ihr Busen schien praller und ihre Augen schienen zu sagen: „Komm Winter. Ich brauche nur dich.“
Schluss jetzt, Manfred, ermahnte er sich.
Winter parkte das Auto und nahm die lange Leiter vom Dachgepäckträger. Sein Entschluss stand fest: er musste die feurige Frau nach Hause bringen. Sofort. Sie sollte ihm gehören, und kein anderer Mann sollte mehr auf ihren wohl geformten Busen und die zarte Spitzenunterwäsche starren. Nein, dazu hatte nur er das Recht.
Er lehnte die Leiter gegen die Wand und kletterte die ersten Sprossen hinauf. Hektisch schaute er sich um, während seine Gefühle loderten wie Feuer. Es war ein mächtiges Plakat, und noch wusste er nicht, wo er es vor Erika verstecken sollte. Aus der Nähe betrachtete er die Grübchen des Modells auf den Wangen, das Muttermal zwischen ihren Brüsten. Sein Herz raste und schlug von innen gegen den Brustkasten als forderte es Zuflucht in das Dekolletee der Unbekannten.
„Ich brauche dich“, sagte Winter und kletterte entschlossen weiter. Dann kleisterte er das Plakat mit Seifenlauge ein, ähnlich der Vorgehensweise beim Tapetenabziehen. Er kletterte schnell die Leiter hinab, als ein Auto näher kam und schließlich vorbei fuhr. Dann beendete er sein Werk. Nach einer halben Stunde löste er das riesige Plakat ab und verstaute es in seinem Kofferraum.
Winter stieg aufgeregt in seinen Wagen und ließ den Motor zitternd und voller Vorfreude an. Dann rauschte er durch die Nacht nach Hause. Hier versteckte er das Plakat unter der Arbeitsplatte in der Garage. Zufrieden zwinkerte er dem großen Auge zu, welches ihn verführerisch von dem Plakat ansah.
Zunächst ließ er einige Tage Gras über die Sache wachsen. Er wollte Erika keinen Anlass geben, um neugierig zu werden. Er betrat die Garage nur zum Abstellen und Holen des Autos. Doch sein ganzer Körper und Geist wurden von unstillbarem Hunger nach dem hübschen, anziehenden Modell von dem Plakat unter der Arbeitsplatte durchdrungen. Und als am Abend in den Nachrichten Bilder von einer Außenkamera des Wetterdienstes gezeigt wurden, auf denen ein älterer Mann bei Nacht ein Werbeplakat mit einem Unterwäschemodell klaute, da sank er in seinem Sessel zusammen und gab Erika Recht, dass es viel zu viel Sünde auf dieser Welt gab.
Mist, ich bin in den Hauptnachrichten des Tages, dachte er. Schwach stand er auf, seine Beine wackelten wie Pudding. Er konnte nur hoffen, dass Erika ihn nicht erkannte.
„Sieht wie unser Auto aus“, sagte Erika grübelnd.
„Davon gibt es viele“, sagte Winter abwesend und schlenderte aus dem Wohnzimmer.
Am nächsten Tag konnte er sich bei der Arbeit auf nichts konzentrieren. Er musste seine Süße wieder sehen. Und heute wollte er sie unter der Arbeitsplatte hervor holen. Beinahe hätte Erika ihn erkannt. Die Situation spitzte sich zu.
Am Abend parkte er das Auto in der Garage. Dann eilte er zur Arbeitsplatte und zog das große Plakat hervor. Das Auge sah ihn immer noch an, doch irgendetwas hatte sich verändert. Es fehlte das sinnliche Feuer in dem Blick, der Funke, der Winters Gefühle zum Schmelzen brachte. Er faltete es auseinander, und mit jedem Stück mehr von dem Bild runzelte er die Stirn. Das konnte nicht wahr sein. Nein! Nein! Nein!
Dann lag das Plakat in seiner vollen Größe quer über der Arbeitsplatte und der Motorhaube des Autos. Und Manfred Winter trocknete der Mund aus. Sein Herz hämmerte, doch dieses Mal nicht vor Lust. Dieses Mal war es Überraschung.
Auf dem Plakat war seine Frau Erika in voller Größe abgebildet. Sie lächelte, und ihr Körper war in eine ihm bekannte Unterwäsche gekleidet.
„Hast du wirklich gedacht, dass ich dich gestern im Fernsehen nicht erkannt habe“, sagte Erika hinter ihm, und er schreckte herum. „Dazu kenne ich dich zu gut, mein lieber Walter. Ich habe mich fotografieren und vergrößern lassen, um dir diese Überraschung zu zeigen.“
Er zitterte, und sein Gesicht wurde aschfahl.
„Erika, ich . . .“
„Nein, Walter“, sagte sie ruhig und drückte ihn rücklings auf die Motorhaube. „Du hast dich also in dieses junge Ding verliebt. Aber jetzt zeige ich dir, was deine Ehefrau dir für Lust bereiten kann.“
Sie küsste ihn, und dann sanken sie auf den Boden der Garage und liebten sich wie seit Jahren nicht mehr.