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Die Wahrheit ist
Die Wahrheit ist
Heute habe ich etwas Moralisches getan. Ich war ein guter Mensch. Das sollte ich mir vielleicht sagen. Immer und immer wieder, bis ich es selbst glaube. Manchmal funktionieren sie. Diese langatmigen Mantras. Diese selbst zugefügten Gehirnwäschen. Diese paradoxe Manipulation meines Selbst durch mich. Fast könnte ich es glauben. Fast habe ich mich so lange gedrillt, bis ich, mich selbst preisend, in eine Welt taumele, die so viel böser ist als ich. So eine schlechte Welt. Und ich, ich bin so gut. So … moralisch. Mhhh…das hört sich gut an auf der Zunge. Ich sollte mich erzählen, bevor ich die Wahrheit vergesse. Nicht, das ich viel auf die Wahrheit geben würde. Sie ist mir im Grunde genommen recht gleichgültig. Ich weiß genau, dass ich mich selbst verarsche. Ohne mein ganz persönliches, mein exklusives Verdrehen der Wirklichkeit würde ich nicht überleben können.
Ich habe heute etwas Moralisches getan. Wer es glauben möchte, der kann es tun. Vielleicht ist es gut für ihn zu sehen, dass es noch Menschen gibt, denen andere nicht völlig egal sind. Vielleicht gibt es irgendwem Hoffnung. Das kann durchaus sein. Aber ich bezweifle es. Ich bezweifle, dass meine Tat irgendeine Bedeutung hat. Sie wird aufgenommen in die lange Perlenkette meiner zerstörerischen und meiner schaffenden Taten. Sie wird als eine von vielen untergehen.
Ich habe heute etwas Moralisches getan. Nach acht Stunden Unterricht, einer Klausur und einer schwachsinnigen Biologie Stunde, in der unsere Lehrerin naiv motiviert versuchte, an uns Versuchskaninchen ihre frisch erlernten pädagogischen Unterrichtsmethoden auszuprobieren und eher Zeit vertrödelte als tatsächlich Lernstoff zu vermitteln, marschierte ich schnurstracks aus der Schule zur Bushaltestelle. Meine Begleiter waren penetrante Magenkrämpfe. Der Stress und mein Ärger über die verschwendete Zeit rotteten sich in meiner Magengrube zusammen und versuchten mit aller Macht durch die fleischige Magenwand nach außen durchzubrechen. So fühlte es sich jedenfalls an.
Hinzu kam das beschissene Herbstwetter. Es sah um vier Uhr schon so aus als wäre es später Abend. Das löschte in mir jegliches Gefühl von Freiheit aus. Es dämmerte. Es regnete. Es war neblig. Nicht kalt und nicht warm. Herbst eben. Und ich, ich gehe natürlich zur falschen Bushaltestelle. Es gibt zwei Bushaltestellen, an denen mein Bus hält. Es ist immer ein und der selbe Bus, aber manchmal hält er erst an der einen und dann an der anderen und manchmal erst an der anderen und dann an der einen. Na? Interessantes Detail? Kurz um: Ich ging zur falschen Bushaltestelle und der Bus war prall gefüllt mit jugendlichen Fleisch, das kreischte, spielte, schlief und rumpöbelte. Ich hatte das Gefühl in eine nasse toxische Flüssigkeit zu tauchen, die in einem dunklen Ledersack umherwabbert. Dem Platzen gefährlich nahe. Ich und der Bus.
Mit mir stiegen zwei alte Damen in den Bus ein. Sie sahen fast gleich aus. Faltig freundliche Haut, granit graues Haar. Hätten Schwestern sein können. Ich kämpfte mich bis zu einem Stehplatz an der Tür durch und hielt mich mit jeder Hand an einer Stange fest. Die beiden freundlichen grauen Tanten watschelten hinter mir her. Ich hasse es, in einem mit Kindern voll gestopften Bus stehen zu müssen. Sitzen ist auch schon schlimm genug. Ich hasse es einfach.
Da standen die beiden alten Damen hinter mir. Die Betonung liegt auf standen. Niemand, kein einziger Mensch räumte für sich die Möglichkeit ein, aufzustehen und ihnen seinen Sitz zu überlassen. Für einen älteren Menschen im Bus aufstehen. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das ist Moral. Eine vergessene Moral, die, wenn man ehrlich ist, nichts mehr mit der Realität zu tun hat. Niemand in diesem Bus war bereit auf seinen eigenen Komfort zu versichten, um jemand anderem zu helfen. Ich war nicht schockiert. Diese Reaktion, nämlich gar keine, hatte ich erwartet. Ich sah in ihren Gesichtern, dass sie nicht einmal darüber nachdachten. Dass sie es nicht einmal bemerkten. Ich für meinen Teil wusste, was das Protokoll vorgab. Aufstehen, Platz anbieten, warten bis die Frauen sich hingesetzt hatten und den Rest der Fahrt stehen. Aber ich hatte keinen Sitzplatz. Ich stand, hatte Magenschmerzen kombiniert mit Hunger und war dem entsprechend schlecht gelaunt. Und…und, ja…ich musste stehen. Hätte ich einen Sitzplatz gehabt, dann wäre ich nicht direkt aufgestanden. Ich hätte gewartet, ob jemand anderes diesen Schritt macht. Ganz ehrlich, ich hätte eine ganze Weile gewartet, bis ich aufgestanden wäre. Der Unterschied ist, dass ich darüber nachgedacht hätte. Ich hätte das Szenario zumindest im Geiste durchgespielt. Ich kenne das ethische Protokoll. Ich weiß, was uns ohne Erklärungen eingeflösst wurde. Ich sah mich um. Sie alle, die Kreischenden, Schreienden, Pöbelnden, die Stillen, sie alle ignorieren die Gelegenheit die eingetrichterten Werte praktisch anzuwenden. Sie verzichten gut und gerne darauf.
Was schreibt das Protokoll der dritten Person vor? Den alten Damen einen Platz zu beschaffen. Natürlich. Ich wartete noch einen Moment. Es war nicht wirklich Hoffnung, die mich dazu bewegte. Es war eher ein anthropologisches Interesse. Sie alle bestätigten meine Erwartungen.
„Möchten Sie sitzen?“, fragte ich eine der Tanten.
„Ja“, antwortete sie sehnsuchtsvoll. Dieses eine Ja sagte so viel. Es sagte so herzerweichend, dass es einem moralischen Menschen das Herz gebrochen hätte, wie sehr sie sich wünschte, ihren müden Knochen, ihre schmerzen Gliedern eine Pause zu gönnen. Es sagte, dass sie nicht mehr erwartet hatte, eine solche Frage gestellt zu bekommen. Dass sie nicht erwartete, dass irgendwer aufstand. Nicht heutzutage. Es sagte so liebenswert wie eine greise geschichtenerzählende Großmutter, dass der ganze Aufwand doch nicht nötig sei, dass sie sich sicher noch etwas zusammenreißen konnte.
Ich sprach die Mädchen an, die mir am nahesten saßen:
„Normalerweise steht man für ältere Mitmenschen auf. Würdet ihr diesen beiden Frauen euren Sitzplatz überlassen?“
Ich glaube, mein Ton war etwas zu höfflich. Ich war auch streng und auch vorwurfvoll. Das war Absicht. Aber ich habe kein Theater gemacht. Ich wollte, dass sie wissen, dass die Sache eigentliche eine Selbstverständlichkeit ist. Ich war die moralische Stimme. Jetzt war ich diejenige, die Werte einflösste, ohne zu erklären. Jetzt war ich die Ältere. Die Moralische.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, hüstelte die andere Tante.
Das Mädchen sah mich unsicher an. Sie war lieb. Sie würde aufstehen. Das sah ich. Sie wollte der Held sein. Fragend blickte sie nach rechts zu ihrer Freundin.
„Für die war der Tag sicher auch anstrengend“, sagte die erste Frau. Sie arbeitete gegen mich. Aus Höfflichkeit. Und, weil sie eigentlich schon akzeptiert hatte, dass es für sie und ihre Begleiterin heute keinen rettenden Sitzplatz geben würde. Wahrscheinlich war sie einfach nur ein sehr lieber Mensch.
Ich ignorierte die Erklärung der Frau und bohrte meinen Blick in die Augen der beiden Mädchen. Das andere Mädchen schien bei weitem nicht begeistert von meinem Vortrag zu sein. Es zögerte lange. Als die Alte ihre Erklärung wiederholte, antwortete ich knapp:
„Die können mit ihren jungen Beinen besser eine halbe Stunde stehen als Sie.“
Sie wurde still.
Es ging hier nicht um sie. Es ging um die Moral. Das Protokoll. Die dreiste Reaktion des zögernden Mädchens. Um mich. Sie hatte meine Antwort gehört. Mein Blick musste nur noch einen Moment bohren, dann stand sie auf.
Sieg.
Aber er befriedigte mich nicht wirklich.
Ich bin nicht alt, noch werttreu, noch moralisch.
Ich habe heute etwas Moralisches getan.
Aber das ist nicht die Wahrheit. Es ist eine schöne Lüge für alle Anwesenden, alle Betrachter, alle die diese Geschichte lesen. Es ist eine Illusion, die ich mir einspeise, um meine Brutalität besser verkraften zu können. Eine Lüge, an die ich mich kuscheln kann. Ein Scheinbild, das vielleicht einen Sinn gibt. Einen Sinn. Aber nicht meinen. Nein, es ist nicht meiner.
Jeder Sinn ist ein Konstrukt.
Die Wahrheit ist, ich habe die Mädchen aufstehen lassen, weil ich wollte, dass ihnen der gleiche Schmerz zugefügt wird, wie mir.
Die Wahrheit ist, ich unterscheide mich nicht von dieser Welt.