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Die Welt des Hern Wu
Die Welt des Herrn Wu
Der Meister hatte mich getadelt. Mich, den Schüler zweiten Grades, der ein Vorbild für alle niedrigeren Grade sein sollte.
„Zweifel“, hatte er gesagt. „Zweifel.“ Er hatte das Wort gezischt, als wollte er mich damit auspeitschen.
„Zweifel wird dich noch einsam machen. So einsam und verlassen vom Meister, wie du es dir nicht vorstellen kannst.“
Zutiefst beschämt hatte ich bekannt, unaufmerksam gewesen zu sein. Zweifel, nein Zweifel gäbe es keine an der Wahrheit.
Mit weicher Stimme sprach er seinen Namen, betonte melodisch jede der 23 Silben, und deutete mir an, wieder zurück auf meinen Platz zu gehen und dort in das Mantra einzustimmen.
Mit gesenktem Kopf nahm ich an der, fast hätte ich gesagt, sinnlosen, Prozedur teil, bis ich schließlich in Trance versank. Der Name musste gesungen werden, um seine Kraft zu entfalten. Eine kleine Abschweifung im Gedanken, schon war die Harmonie, wenn nicht beim Teufel, so zumindest in der falschen Tonlage.
Am Ende der Mediation verabschiedete ich mich hastig, dachte nur mehr daran, schnell ins Bett zu kommen, um die letzten durchwachten Nächte aufzuholen.
Es war mittlerweile neun Uhr abends, als ich in meiner Wohnung im dritten Stock des Gemeindebaus ankam. Erst im Vorraum bemerkte ich, dass etwas anders war: Das Licht brannte und aus der Küche drangen Geräusche.
Ein Einbrecher, war mein erster Gedanke. Tatsächlich vernahm ich leises Klirren. Dort machte sich jemand zu schaffen.
Heute nicht! Das lasse ich mir nicht gefallen, dachte ich. Dann dachte ich noch kurz an meinen schwarzen Karategurt. Ich hatte dieser Kunst beim Eintritt in die Gemeinschaft abgeschworen. Darum sah ich mich nach einer Waffe um. Das hatte mir nie jemand verboten.
In meinem kleinen Vorraum gab es gerade genug Platz für einen überfüllten Kleiderständer, einen Wandschrank und einen Schirmständer. Zuerst erblickte ich die beiden Schirme. Sie erwiesen sich aber als so zerfetzt, dass sie Mitleid hervorrufen würden, aber keinerlei Respekt. Im Wandschrank standen noch meine Schuhe und eine große Werkzeugkiste.
Ja!
Leise öffnete ich die abgeschabte Kastentür, hob die Turnschuhe von der Kiste, schob den Deckel zurück, und nahm den Hammer heraus. Beruhigend lag sein schweres Gewicht in meiner Hand.
Es duftete nach Braten. Voller Wut tat ich es als Einbildung ab und stapfte vorwärts.
Ich stieß die Tür auf, bereit sofort zuzuschlagen:
Oh Schreck.
Sie waren zu viert. Am Ende des Tisches stand ein beleibter Mann mit ergrautem Vollbart über einem riesigen Truthahn und wollte ihn tranchieren. Er trug eine goldene Brille, über deren Rand er mich anstarrte. Seine Krawatte war nach hinten geworfen, offensichtlich um zu verhindern, dass sie mit der Sauce in Berührung kam. An der rechten Seite des Tisches sah ihm ein dunkelhäutiger Mann mit dichten schwarzen Locken zu. Ihm gegenüber saß ein großer strohblonder Mensch mit kantigen Gesichtszügen, an dessen Finger ein großer goldener Ring aufblitzte. Der vierte Mann saß mit dem Rücken zu mir. Genauso wie die anderen drei trug er feine Kleidung. Weingläser standen am festlich gedeckten Tisch, und dazwischen eine offene Flasche meines besten Weins.
„Guten Abend der Herr. Arbeiten hier die Handwerker immer so lange?“ Der Beleibte fragte mich beiläufig, als wäre ich schon ewig hier. Seine Stimme war tief und angenehm, wie die vom Weihnachtsmann.
Ich ließ meinen Hammer sinken.
„Was machen Sie in meiner Küche? Ich kann mich nicht erinnern, Sie zum Essen eingeladen zu haben. Hätten Sie die Güte haben, jetzt zu gehen?“ Ich versuchte möglichst kompromisslos zu klingen.
Der mit dem Rücken zu mir Sitzende drehte sich blitzartig um. Es war ein missmutig dreinblickender Chinese.
„Ihre Küche?“, feixte er. Ich fand ihn sofort unsympathisch. Wenn einer Schuld an dieser Situation war, dann er. Noch dazu sprach er in einer komisch singenden Sprechweise zu mir:
„Mein lieber Herr. Sie benötigen einen guten Arzt. Ich wohne hier seit vier Jahren, und noch nie sind Sie mir aufgefallen. Sicherlich haben Sie sich in der Tür geirrt.“
Für einen Augenblick wurde ich unsicher. Ich blickte mich in der Küche um. Der Tisch bot genau vier Personen Platz und ringsum drängten sich Spüle, Anrichte, Kühlschrank und Herd. Über dem Tisch mein Lampenschirm. Deutlich sah ich Staubflusen, die abzuwischen ich mir schon seit drei Wochen vorgenommen hatte. Der Wasserhahn stand leicht schief, weil der Installateur billig, dafür aber schlampig gewesen war. Schön, wenn es anders gewesen wäre. Aber das war meine alte Küche.
„Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Ich kann Ihnen beweisen, dass es meine Wohnung ist.“ Ich deutete auf das blaue Kästchen über dem Abwaschbecken. "Dort liegt ganz oben das Buch: Kochen für intelligente faule Singles. Darunter das dicke Buch mit dem Titel: Omas Küche. Die Seite vierzehn ist markiert, weil ich versucht habe, Hasenrücken in Wildbeerensauce zu machen. Ein Teil der Sauce ist auf der Überschrift gelandet. Sehen Sie nach und erklären Sie mir das!“
Die drei sahen den Chinesen an.
„Wu, lass den Herrn einen Blick in dein Küchenkästchen machen, damit er merkt, dass er sich irrt", forderte ihn der Beleibte auf.
„Das wäre ja noch schöner. Ihr kennt doch alle meine Adresse. Ist sie das oder nicht?“
„Suchen Sie keine faulen Ausreden. Verlassen Sie unverzüglich meine Küche. Ihren Truthahn können Sie von mir aus mitnehmen!", rief ich.
„Gar nichts werde ich machen. Sie gehen jetzt, oder ich rufe die Polizei und lasse Sie rauswerfen!", schrie Wu zurück und sprang auf.
Der Beleibte steckte erbost Messer und Gabel in den Truthahn und rief mit donnernder Stimme:
„Meine Herren, wir sind ein zivilisiertes Volk. Das werden wir doch unter uns regeln können. Er kam auf mich zu und streckte mir seine kräftige Hand entgegen.
„Darf ich mich vorstellen: Ich bin Professor Van Dyck. Leiter des Institutes für Völkerkunde an der hiesigen Universität. Die drei Herren hier, Monghwa Tarreng, Lars Skövensten und Wu Chang, sind seit vielen Jahren meine Assistenten und jedes Jahr feiern wir Halloween bei einem von uns. Heuer ist Herr Wu dran, und ich muss sagen, er hat einen fantastischen Truthahn zubereitet. Setzen Sie sich zu uns und kosten Sie. Ich bin überzeugt, dass hier eine unglückliche Verwechslung vorliegt. Bei einem Glas Wein werden wir der Sache doch auf den Grund gehen können.“
Wu sah mich böse an, doch Lars sprang gleich auf und brachte einen Teller sowie ein weiteres Rotweinglas.
Der goldbraune Truthahn sah verführerisch aus. Ich legte unschlüssig den Hammer auf die Anrichte.
"Nein", sagte Wu, „das ist doch alles ein fauler Trick. Er kommt hier herein, hat sich wahrscheinlich vorher einmal hereingeschlichen um alles zu durchstöbern, und will uns für dumm verkaufen. Ich werde meinen Mietvertrag holen. Damit löst sich diese Farce ganz schnell auf!"
„Der Vertrag wird eine offensichtliche Fälschung sein, Herr Wu. Geben Sie zu, dass Sie gehofft hatten, ich würde die heutige Nacht bei meiner Freundin verbringen. Sie wollten sich meiner Wohnung bemächtigen, um bei Ihren Freunden Eindruck zu schinden.“
„Eindruck schinden! Warum sollte ich mit der alten Küche Eindruck schinden? Die Arbeitsplatte ist völlig zerkratzt.“
„Ja, und das Wasser tropft in der Dusche und durch die Fenster zieht es. Warum sollten Sie damit Eindruck schinden?“ Ich drohte den Faden zu verlieren. „Ha, weil Sie in der Eile nichts Besseres gefunden haben?“ Grimmig griff ich wieder nach dem Hammer.
"Sie wollten mich überfallen. Hofften, mich alleine anzutreffen und auszurauben!"
„Wu, so lass den Herrn doch in deinen Küchenkasten sehen. Wenn er das was dort ist nicht findet, dann ist das Ganze sofort erledigt“, bat ihn Lars.
Wu schien sich auf mich stürzen zu wollen. Sicher hinderte ihn nur mein schwerer Hammer daran. Schließlich trat er einen Schritt zurück und gestand. Zumindest beinahe.
„Er hat Recht. Das oberste Buch und das darunter hat er richtig gesagt."
Er überlegte angestrengt. Alle sahen ihn an. Ich grinste und rief:
„Geben Sie´s jetzt zu?“
Er konterte:
„Weiß er aber auch, was darunter liegt? Er hat sich die obersten zwei Bücher gemerkt. Unter ihnen liegen noch die Müllermehl Backfibel und darunter Italienisch Kochen für romantische Abende. Ich weiß schließlich, was in meiner Küche ist!" Er riss das Kästchen auf.
"Vorsichtig", rief ich, doch er achtete nicht auf darauf und warf schwungvoll ein Buch nach dem anderen in der angegebenen Reihenfolge auf die Anrichte.
„Jetzt sagen Sie mir, was im Wohnzimmer in der dritten Schreibtischlade ganz unten liegt. Dass haben Sie sich nicht gemerkt!“, rief Wu triumphierend.
„Und ob ich das habe! Da liegt die Videokassette mit dem Video zu meiner ersten Himalayareise. Ich habe dort den Meister kennen gelernt. Aber Sie haben sie sicher ausgetauscht! Sagen Sie mir lieber, welches Buch sich hinter den anderen im Bücherregal befindet?“
„Nichts sage ich Ihnen, bevor Sie mir nicht gesagt haben, welche Muster auf den Untertassen im Geschirrschrank sind!“, rief Wu.
„Rosa Blümchen, und sie sehen hässlich aus, aber sie sind ein Erbstück von meiner Urgroßmutter, und das haben Sie sicher vorher angesehen“, antwortete ich erbost.
„Sagen Sie mir doch, welcher Farbe der Mantel in meinen Schrank hat.“
"Und jetzt sagen Sie mir, welches Putzmittel unter der Spüle steht!"
Wir schrien uns gegenseitig an, und zu meinem Ärger beantwortete er alle meine Fragen richtig. Schließlich bemerkte ich, was mich von Anfang an ihm gestört hatte. Er trug meine Kleidung!
„Ziehen Sie meine Sachen aus!“
„Nichts da, raus aus meiner Wohnung!“ Wu lief, ehe ich es verhindern konnte, ins Wohnzimmer. Wir rannten hinterher, und sahen ihn mit einer Dokumentenmappe fuchteln, natürlich war es meine. Er öffnete sie und zog einen Mietvertrag heraus.
„Lesen Sie. Sehen Sie das Datum? Und hier ist meine Unterschrift. Wie heißen Sie überhaupt, Sie widerwärtiger Einbrecher?“
„Wu, so beruhigen Sie sich doch. Der junge Mann macht einen erschöpften Eindruck und sicher gibt es einen Grund für die Verwechslung. Vielleicht kommt er gerade aus dem Krankenhaus.“
„Das täte ihnen so passen. Lassen Sie mich mein Fotoalbum suchen. Drinnen sind sicher nicht die Bilder von ihrem Herr Wu!“
„Wichtig ist, doch“, sagte Van Dyck, „dass der Truthahn inzwischen kalt wird, und ich würde es vorziehen, nach dem Essen weiter zu diskutieren.“
„Ja, ich denke auch, dass der Truthahn jetzt Vorrang hat“, pflichtete Lars bei. Herr, wie war noch einmal ihr Name?“
Wu setzte zu einer Erwiderung an, doch ein Blick von Van Dyck brachte ihn zum Schweigen.
„Mein Name ist Tobias Gruber. Ich bin Student der Geografie und komme gerade von meiner Hamashi Yogastunde. In der Schublade meines Nachtkästchens werden Sie ...“
„Zuerst der Truthahn, und dann versichere ich den Herren, dann werden Sie alle ihre Beweise vorbringen können. Wir sind hier ja zivilisierte Menschen und wenn Sie sich dann immer noch nicht geeinigt haben, dann rufen wir meinetwegen die Polizei. Können wir jetzt wieder zum Truthahn zurückkehren?“
Ich setzte mich hin, und Monghwa schenkte mir Wein ein. Ausgerechnet meine beste Flasche.
„Sie ...“
Ein zorniger Blick Van Dycks brachte mich zum Schweigen.
Wir prosteten uns zu, und alle machten sich sofort über den leicht erkalteten Truthahn her.
„Sie praktizieren Yoga“, begann Van Dyck zwischen zwei Bissen in meine Richtung gewandt.
„Ja", sagte ich. „Hamashi Yoga. Eine uralte Richtung, die nur von wenigen Eingeweihten ausgeübt wird.“
Wu machte große Augen.
„Irgendwo habe ich schon einmal davon gehört. Was ist das Besondere?", fragte Van Dyck.
„Wir meditieren mit dem Namen des heiligen Meisters. Nur wer seinen Namen …“
„Das stimmt nicht“, rief Wu dazwischen. "Es gibt in dieser Stadt nur 26 Eingeweihte und ich kenne sie alle!“
„Können Sie gar nicht. Sie sind nicht dabei“, rief ich etwas lauter zurück.
„Unwürdiger!“
„Warum schreit ihr so“, schrie Monghwa noch lauter, „ist doch egal, welchem Guru ihr hinterherlauft.“
„Guru?", fragte ich erbost. „Unser Meister ist kein Guru! Und Hamashi Yoga ist mehr als Yoga. Wir glauben, dass die Welt nur aus Gedanken besteht. Unsere Gedanken sind nur Wind. Aber die Gedanken des Meisters sind die Form. Das Wasser, die Luft, die Sterne, das ganze Weltall. In der Meditation unterstützen wir seine Gedanken, damit kein Gedanke von außen eindringen und damit die Welt ungestört dem vom Meister festgelegten Endpunkt zusteuert.“
Lars schüttelte unwillig den Kopf.
„Was ist, wenn der Meister stirbt?“
Wu antwortete statt meiner:
"Unsere Aufgabe ist es, seine Gedanken zu verstärken. Der Meister ist der Gedanke, der alles erhält. Der Gedanke braucht keine Person, aber er zieht es vor, durch den einen Menschen zu sprechen, den wir somit Meister nennen. Zerfällt das Fleisch, so sucht sich der Gedanke ein neues Gefäß. Andere nennen es Wiedergeburt.“
Ich starrte Wu an. Wu starrte zurück.
Die Erinnerung an die Worte des Meisters hallte in meinem Innersten nach. Ich hatte ihnen eher symbolischen Wert beigemessen. Hatte mich damit begnügt, aufzunehmen, aber nicht zu verstehen.
„Was ist mit Ihnen? Sie ..." Wu begann zu stottern, "sie denken doch nicht an die letzte der zehn Weisheiten.“ Wu sah mich entsetzt an.
„Ja.“ Mehr brachte ich nicht hervor.
„Nur wer den Namen des Meisters ganz spricht, wird beim Meister bleiben“, zitierte Wu.
„Wehe dem, der den Namen falsch ausspricht. In der Fremde wird er aufwachen und sein Meister wird ein Fremder sein“, beendete ich stammelnd.
"Sagen Sie ihn", forderte Wu mich auf.
Ich tat es.
"Oh nein. Sie sind falsch", rief er.
„Nicht ich. Sie nuscheln ihn ja. Dieser Platz im Universum gehört mir. Raus aus meinem Hemd.“
Dann sprangen wir auf, hielten inne und riefen:
„Ich muss meditieren!“
„Was ist mit dem Truthahn. Lassen Sie uns doch den Truthahn ...“ beschwor uns Van Dyck.
"Wie konnten Sie nur so unaufmerksam sein?", zischte Wu.
"Warum ich? Sie haben den Fehler gemacht. Das ist meine Wohnung. Sie sind falsch."
In dieser Tonart stritten wir weiter und versuchten uns nebeneinander im Schlafzimmer zur Meditation niederzusetzen.
"So geht das nicht!", riefen wir, und nach einigem hin und her warfen er eine Münze, um zu entscheiden, wer wo meditieren sollte. Er blieb im Schlafzimmer und ich ging ins Wohnzimmer.
Van Dyck diskutierte mit seinen Kollegen darüber, wie gefährlich Yoga für den Verstand sein könne. Ich schloss die Tür und ließ sie mit ihrem Truthahn alleine. Besteck klimperte und Gläser klirrten. Ihr Gemurmel verebbte und ging in die Stille der Trance über. Den Namen des Meisters rezitierend ging mein Geist in die große Leere ein. Ich verlor jegliches Zeitgefühl.
Als ich zurückkehrte, war ich völlig erschöpft und drohte auf der Stelle einzuschlafen. Ich schleppte mich in die Küche. Sie war leer, ohne Truthahn und ohne die vier Fremden. Auch mein Schlafzimmer war frisch aufgebettet und ohne eine Spur von Wu.
In Zukunft, so schwor ich mir, würde ich es nie wieder wagen, den Namen des Meisters zu nuscheln.
Und Zweifel hatte ich ohnehin keine mehr.