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Die Zigarette
Als Elisabeth im Herbst vor zwei Jahren auszog, war es gut so.
Eine Weile hatten wir zueinander gepaßt, in vielerlei Hinsicht. Zwei Frauen, die gemeinsam fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig geworden waren, die sich dafür entschieden hatten, keine dauerhafte Beziehung zu führen, ihr Leben genießen wollten. Beide kamen wir mit unserem Studium nicht voran und verpraßten unser Leben, als stünden uns noch zehn weitere bevor.
Ich glaube, für eine gewisse Zeit war das eine gute Basis.
Saßen wir abends zusammen, so achteten wir darauf, jeden Bezug auf Studium, Zeit oder einen wirklichen Partner zu vermeiden. Wie wir es bewerkstelligten, jegliches ernsthafte Gespräch zu unterbinden, kann ich mir heute nicht mehr erklären. Vielleicht schafften wir es durch die vielen Tändeleien, mit denen wir uns eine Woche oder zwei aufhielten. Die uns vollkommen in Besitz nahmen, bis sie uns endlich zu langweilig wurden, ganz egal, ob es sich dabei um ein Spiel, einen Kerl oder eine kreative Betätigung gehandelt hatte.
Manchmal packt mich die Erinnerung an die Zeit mit Elisabeth, reißt mich davon und treibt mich in ein Meer von längst vergessen geglaubten, nichtigen Einzelheiten. Das Lächeln, das sich dann einstellt, tut weh.
Eine Konstante in unserem verworrenen gemeinsamen Leben war Jochen gewesen. Oft hatten wir uns seinetwegen gestritten. Er kam vielleicht zweimal im Monat vorbei, studierte Physik und Informatik, etwas Brauchbares also, womit wir ihn permanent aufzogen. Saß einfach bei uns, rauchte nie etwas, sagte meist nur wenig und wollte doch bei uns sein. Lauschte unseren zerrissenen Dialogen und nach jenem Dienstagabend mitten in den Semesterferien kam er nie wieder zu uns. Wenn wir ihm danach irgendwo begegneten, sah er weg. Vermutlich lag das an der Zigarette, genau weiß ich es nicht, ich habe seither nie wieder mit ihm gesprochen.
Es war ein sinnloser Tag in einer Reihe vergeudeter Tage und Wochen gewesen. Wir hatten in Urlaub fahren wollen, natürlich getrennt, aber wieder einmal kein Geld dafür aufbringen können. Den Nachmittag hatten wir auf der Neckarwiese verbracht, Zeitungen gelesen, Zigaretten geraucht, zeitvergessen und faul herumgelegen.
Als wir am Abend in unsere Wohnung kamen, müde vom vielen Nichtstun, unmotiviert und gereizt, entzündete sich mit einer Vorhersagbarkeit und Unabwendbarkeit eine der Streitereien, wie es ihrer schon so viele gegeben hatte.
Den Anfang dazu lieferte ich. Während wir im Wohnzimmer auf den alten Sesseln fläzten, und Elisabeth lustlos den Bong vorbereitete, behauptete ich, daß es für Jochen Zeit sei, einmal mit einer Frau zu schlafen. Ich wußte, daß Elisabeth sich von dieser Aussage provozieren lassen würde. Seit dem Vortag hatte ich nichts mehr geraucht, war merkwürdig aggressiv und wollte einen Streit. Ihre Replik kam prompt:
„Wie soll er das denn anstellen?“
„Weshalb?“ fragte ich zurück.
„Bei seiner Angespanntheit.“
„Die wird besser, wenn er es erst getan hat. Irgendwann muß es eben jemand einfach tun.“
„Meinst du damit etwa mich?“ fragte sie und schenkte mir einen ihrer abschätzig erstaunten Blicken.
„Nein, obwohl ich glaube, daß er nichts dagegen hätte.“
„Nie im Leben.“
„Nur, weil du ihn immer so zurückstößt“, beharrte ich.
„Und warum nicht du, Helen?“
„Mich will er doch gar nicht.“
„Oh doch, das will er“, gab Elisabeth mit Nachdruck zurück und machte sich daran, die Mischung vorzubereiten.
„Aber nur, weil du so unerreichbar für ihn bist.“
„Sag das nicht“, erwiderte sie. Ich wußte sofort, worauf sie anspielte und wußte auch, daß es kompletter Unsinn war.
„Ach, komm schon, Elisabeth. Du warst schon an dem Abend unerreichbar für ihn, als du ihn von der Party abgeschleppt hast.“
„Ich war betrunken, alles mögliche hätte passieren können“, verteidigte sie sich.
„Ist aber nicht, du hast ihn stattdessen auf dem Boden übernachten lassen.“
„Na und?“
„Nichts, und. Aber er hat es verstanden. Du bist einfach unerreichbar für ihn, Punkt.“
Elisabeth ließ ihre Vorbereitungen ruhen, lehnte sich zurück und sah mir direkt in die Augen.
„Was sollte es überhaupt bringen?“ fragte sie in herablassendem Ton.
„Das ist doch wohl offensichtlich.“
„Und du glaubst, daß es ihm danach wirklich besser ginge?“
„Ich bin überzeugt, daß er danach ein neuer Mensch wäre, ja.“
Elisabeth lachte und ich konnte nur mit Mühe meine Wut verbergen. Dann sagte sie spöttisch:
„Und warum tust du es dann nicht, wenn dir sein Wohlergehen doch so wichtig ist?“
„Ach, hör auf!“
„Komm schon, Helen, wir machen es ganz einfach. Bei seinem nächsten Besuch gehe ich zur Tankstelle, um Zigaretten zu kaufen. Das gibt euch mindestens eine Dreiviertelstunde, weil mein Fahrrad ‘gerade kaputt’ ist.“
„Vergiß es.“
„Ist dir seine Entwicklung nicht wichtig?“
„Das ist doch abstoßend.“
„Wieso denn? Wenn ich darüber nachdenke, mit welchen Typen du schon im Bett warst, und wenn ich Dich daran erinnern darf, wann das letzte Mal war, dann muß das doch sehr verlockend klingen, oder?“
Mir war danach, sie ins Gesicht zu schlagen. Ich hatte sie provozieren wollen und sie hatte alles versaut. Feindselig blickte ich sie an und zischte:
„Gut, ich mach’s.“
„Machst du nicht.“
„Doch, mach’ ich“, erwiderte ich kalt und fügte hinzu: „Volles Programm.“
„Du meinst, die Deluxe-Version?“
„Aber sicher.“
Elisabeth winkte verächtlich ab und wandte sich wieder ihren Vorbereitungen zu. Herausfordernd sah ich sie an, doch sie ignorierte mich, begann, den Bong zu rauchen, bot mir auch etwas an, doch ich wollte nicht, und griff stattdessen nach einer Zigarette. Lange sagten wir nichts. Dann klingelte es, und Elisabeths Augen wurden groß:
„Na, wenn das nicht...“
„Hat er etwa gesagt, er würde heute vorbeikommen?“ fragte ich.
„Es könnte sein, daß er das heute mittag am Telefon erwähnt hat.“
Elisabeth lächelte süffisant, und ich haßte sie dafür. Ich stand auf, drückte unnötig lange auf den Türöffner und wartete vor der Tür, bis Jochen aus dem Fahrstuhl ausgestiegen war.
Er setzte sich zu uns, wir tauschten Nichtigkeiten aus, immer wieder traf mich Elisabeths funkelnder Blick. Als ich sie irgendwann um eine Zigarette bat, entnahm sie der Schachtel zwei Kippen und wies mich darauf hin, daß es unsere letzten seien. Wir hatten die Schachtel erst am Nachmittag gekauft, vorhin waren da noch einige gewesen, mißtrauisch vergewisserte ich mich. Sie war leer. Dieses widerliche Miststück mußte sie in berechnender Voraussicht herausgenommen haben, während ich an der Tür gestanden hatte. Jede Millisekunde der Pause, die Elisabeth dann ließ, genoß sie, ich wußte es. Endlich fuhr sie fort:
„Hast du noch welche oder muß ich zur Tanke?“
Ich hätte sagen können, daß sich in meinem Zimmer eine kaum angebrochene Schachtel Gauloises befand. Elisabeth wußte das auch. Aber kneifen wollte ich nicht und antwortete mürrisch:
„Nein.“
Dann senkte ich den Blick und hoffte, daß Jochen meine Verstimmung nicht bemerken würde. Elisabeth grinste, ich spielte Langeweile, Jochen erzählte von einem Treffen mit Kommilitonen, irgendwann hatten wir aufgeraucht, und Elisabeth erhob sich:
„Ich brauch’ eine ganze Weile, mein Fahrrad hat einen Platten. Seid hübsch artig so lange.“
Sie wirkte heiter, Jochen blickte unsicher, mein Versuch, souverän zu lächeln, endete in einem säuerlichen Grinsen.
Und schon war sie verschwunden. Als die Wohnungstür ging, begann Jochen, seine Erzählung fortzuführen, mit einer Geste schnitt ich ihm das Wort ab. Ich lauschte. Wie ich hörte, daß sich der Fahrstuhl im Flur in Bewegung setzte, stand ich auf, sah Jochen mit unbewegter Miene an und sagte:
„Komm mit.“
Er folgte mir in mein Zimmer. Ich schloß die Tür, schloß die Fenster, zog die Vorhänge zu. Er wollte etwas sagen, ich sah ihn an, er schwieg. Ich schob ihn vor mein Bett, bedeutete ihm, sich zu setzen, er setzte sich. Mit sanftem, aber bestimmtem Druck meiner flachen Hand brachte ich ihn dazu, sich nach hinten fallen zu lassen. Dann öffnete ich seinen Gürtel, den Reißverschluß seiner Jeans, er wehrte sich nicht, obwohl er sich offensichtlich unwohl fühlte.
Ich glaube, daß ihn meine Bestimmtheit eingeschüchtert hat. Mein Blick muß eine Entschlossenheit vermittelt haben, die ihm jedes Aufbegehren unmöglich machte. Hätte er sich nur ein wenig entschlossener widersetzt, hätte ich es vermutlich nicht fertiggebracht. Was auch hätte ich ihm sagen sollen? Wie ihn überzeugen?
So zärtlich als möglich fuhr ich mechanisch und mit kalten Händen unter sein T-Shirt. Ich ahnte vage, welcher Widerstreit in ihm vorgehen mußte. Als ich seine Unterhose ein wenig herunterzog, schnappte mir seine Erektion entgegen wie eine von Elisabeths scharfen Antworten, und ich empfing sie mit feuchtem Kuß. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis der Kampf in seinem Inneren entschieden war; die Laute, die er von sich gab, erschienen mir vollkommen unwirklich und fremd, schufen eine Distanz, hinter der ich mich sicher verbergen konnte.
Sein Erguß kam unerwartet und heftig, ich konnte mich nicht mehr rechtzeitig zurückziehen, und für einen kurzen Moment wollte ich ihn dafür beißen, doch dann war es mir gleich. Kurz dachte ich darüber nach, mich jetzt einfach an ihn zu schmiegen, aber als stünde Elisabeth lachend in der andereren Ecke des Raumes, entschied ich mich dagegen und zog mich vor ihm aus. Mit kleinen Augen sah er mir dabei zu. Wie ich dann nackt vor ihm stand, maß er mich andächtig und noch immer ein wenig scheu von oben bis unten, wohl eine Minute lang.
Dann zog ich ihn aus, zeigte ihm, wie er sich hinlegen mußte und setzte mich auf ihn, führte seine Hände an meine Brüste. Sein ungeschicktes, hilfloses Tasten schuf eine mir unbekannte Erregung. Ich griff ihm zwischen die Beine, bemächtigte mich seines Geschlechts, führte ihn in mich ein. Und dann vergaß ich mich. Ich weiß noch, daß meine Beine schmerzten und mein Herz raste, als ich endlich von ihm abließ, weiß noch, wie er mich angesehen hat: glücklich und erschöpft, aber auch ängstlich und dankbar. Alles hätte ich ertragen. Sinnloses Gebrabbel, übersteigerte Liebesschwüre, peinliche Berührtheit, aber nicht Dankbarkeit. Dieser Dankbarkeit galt es zu entkommen, nervös griff ich nach der Schachtel auf meinem Schreibtisch und steckte mir eine Zigarette an. Jochen lag starr neben mir.
Nachdem ich einige Züge genommen hatte, stand er plötzlich auf, suchte seine Kleidung zusammen, vermied meinen Blick. Aus Schamgefühl dachte ich. Was hätte ich sagen sollen? Daß es schon in Ordnung war? Sollte ich behaupten, daß es mir leid tat? Hätte ich ihn fragen sollen, wie es ihm gefallen hatte? Die Überlegung, es könnte an der Zigarette liegen, traf mich wie ein Schlag. Hilflos starrte ich an die Decke, während er sich anzog und ohne ein weiteres Wort verschwand.
Verwirrt fand ich in meine Sachen, den Weg ins Wohnzimmer. Elisabeth kehrte eine halbe Stunde später zurück. Ich saß stumm und nachdenklich da und rauchte ein Zigarette nach der anderen. Sie stellte keine Frage, sie wußte, daß ich es getan hatte, und ich glaube, daß sie etwas wie Schuld verspürte.
Gesprochen haben wir nie darüber. Wir sprachen überhaupt nur noch wenig nach diesem Abend, stritten nicht einmal mehr. Wir versuchten einige Zeit lang weiterzumachen, doch es ging nicht mehr. Und als sie mir dann im Herbst mitteilte, sie würde bereits in einer Woche ausziehen, geschah es ganz beiläufig und ohne daß ich es kommentieren mußte.