Mitglied
- Beitritt
- 02.04.2004
- Beiträge
- 39
Die Zuflucht
Genüsslich grub sich ihre Hand tiefer und tiefer in den leuchtend weißen Sand, jedes noch so kleine Muschelstück wahrnehmend. Ein angenehmes, vertrautes Kribbeln durchfuhr erst ihre Hand, dann ihren Arm und erfasste schließlich ihren ganzen Körper, und endlich, zum ersten mal seit Monaten, war die junge Frau wieder in der Lage, sich völlig zu entspannen, fallen zu lassen. Gerade eben war die Sonne erst blutrot aufgegangen, hatte sie mit sanften Strahlen wach gekitzelt und schließlich, nach einem kurzen Blick auf die heilenden Wunden ihres Ehemanns, aus der kleinen Bambushütte hinaus zum Strand gelockt.
„Endlich…“ flüsterte sie immer wieder, die Schönheit des Moments, die Einsamkeit genießend. Endlich konnte sie sich sicher fühlen und die Augen schließen ohne wachsam bleiben zu müssen, endlich wieder an sich selbst denken und sich an Dingen freuen, die in der letzten Zeit vor Aufregung unbemerkt an ihr vorbeigezogen waren.
Ihr lächelndes Gesicht, halb von Sand bedeckt, zeigte für ihr Alter ungewöhnlich tiefe Falten und in ihrem Blick konnte man trotz ihrer Zufriedenheit erkennen, dass diese Augen zu viel Unvergessliches gesehen hatten, um jemals wieder ihren ursprünglichen naiven Glanz, in den sich ihr Mann so verliebt hatte, zurück zu gewinnen. In die Weiten des unschuldig blauen Himmels starrend, versteinerte sich ihr Blick plötzlich. Die schrecklichen Bilder der verstümmelten Menschen, die um Hilfe flehten, die Leichen ihrer Eltern, Geschwister, die maskierten Männer, die grölend über die Frauen und Kinder ihres Dorfes herfielen, sie alle waren wieder da, ließen sich keinen Moment länger unterdrücken.
„Nein…“ die Falten auf ihrer Stirn wurden noch tiefer. „Nein…“ Mit schnellen Bewegungen sprang sie auf, schüttelte den Sand von ihrem Körper ab und rannte auf die Wellen zu, als flüchte sie vor der Erinnerung. Sie warf sich in die Fluten und würde erst aufhören zu schwimmen, tauchen, gegen den Ozean und sich selbst zu kämpfen, wenn ihre Kraft erschöpft wäre.
Nur wenige Meter entfernt bewegte sich eine kleine Gruppe in Tarnfarben gekleideter Männer mit stampfenden Schritten auf die unscheinbare Hütte, die sich in einem Wald von Palmen zu verstecken versuchte, zu. Der älteste von ihnen schmiss laut schreiend die klapprige Tür auf und lächelte zufrieden, als schließlich alle um das Bett des jungen Mannes herumstanden. „Endlich…“ sagte er ruhig, bevor er sein Maschinengewehr auf die Stirn des wachen Mannes richtete.
Wie gut diese Abkühlung ihr doch getan hatte…entkräftet schleppte sie sich aus dem Wasser zurück an den Strand. Die Bilder waren wieder in ihrer Vergangenheit verschwunden. Es war Zeit, den Verband ihres Geliebten zu wechseln, und so begab sie sich noch tropfend auf den Weg zur Hütte.
Sie öffnete die Tür, starrte einen Moment lang auf die Blutlache, die mittlerweile durch alle Laken gekrochen war, und schloss sie wieder, ohne eine Regung. Benommen begann sie, sich von der Hütte zu entfernen, doch ihre Beine wollten sie nach wenigen Metern nicht mehr tragen.
Sie fiel in den Sand, grub ihre Hände tiefer und tiefer hinein. Der Schmerz, den die tausend Schnitte der winzigen aber scharfen Muschelstücke jetzt bewirkten, war wundervoll, aber kaum befriedigend.
Leere erfüllte ihr Herz und sie hoffte, die maskierten Männer, deren heftige Schritte den Boden beben ließen, das Gelände noch einmal zu durchsuchen, würden sie finden. Bald würde sich das Salzwasser, das noch immer auf ihrer Brust perlte, mit dunkelrotem Blut vermischen.
„Endlich…“ flüsterte sie, und sie durfte gehen.