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Die Zuflucht
Er hasste seinen Partner. Ständig war er mit ihm zusammen. Wo der eine hinging, musste auch der andere mit. Selbst zusammengerollt in der Dunkelheit war er ihm nah. Kein Raum für Individualität. Keine eigenen Entscheidungen. Kein Ich. Nur immer Wir. Er hätte schreien mögen, wenn er es denn gekonnt hätte. Aber selbst das war ihm verwehrt. So litt er stumm vor sich hin. Haderte mit seinem Schicksal, das ihn an ein solches Leben kettete. An ein Gegenüber, das ihm keinerlei positive Herausforderung bot. Keine Resonanz der Gedanken. Keine Impulse für den Geist. Eben weil er ihm so schrecklich ähnlich war.
Täglich wurde er damit konfrontiert, ein Abbild seiner Selbst in den Handlungen des Anderen zu entdecken und sich gleichzeitig bewusst zu werden, wie verzerrt dieses Bild ihn doch darstellte. Es war, als ob man sein Leben in einem Spiegelkabinett verbringen musste, in dem man nie auch nur eine einzige authentische Darstellung fand.
An manchen Tagen hatte er das Gefühl, nicht mehr Atmen zu können, weil die Eintönigkeit seines Daseins ihn so sehr quälte. In gleichem Maße, wie seine Existenz auf einen endlosen Kreislauf von zermürbenden Wiederholungen schrumpfte, dehnte sich in seinem Inneren die Gier nach Freiheit aus. Warum durfte er nicht er selbst sein? Einzigartig, und doch integriert in die Gesellschaft. Einer von vielen und doch wie kein anderer. Geschätzt und geachtet wegen dem, was er hatte und keiner sonst außer ihm. Sollte so nicht das Leben eigentlich sein?
Wie lange konnte man es aushalten, mit einer Situation, die einen grenzenlos unglücklich machte? Wie lange konnte man seinen Pflichten nachkommen, die man unter diesen Umständen als Zumutung empfand? Wie lange, ohne innerlich zu zerbröseln? Einen Tag noch? Nur noch diesen einen ...?
Doch dann hatte er von dem Ausweg gehört. Ein Gerücht zuerst. Leise erzählt, in den stillen, dunklen Stunden der Nacht. Geflüstert von denen, deren Gedanken in Zeiten der Ruhe von dem Verlangen nach Veränderung wachgehalten wurden. Sie nannten es „Die Zuflucht". Je mehr er hörte, desto fester klammerte er sich an diesen Gedanken. Einige waren schon den Weg gegangen. Keiner war bisher zurückgekehrt. Wo genau der Ort war, konnte ihm niemand sagen. Auch nicht, welches Leben man dort führen würde. Aber welcher Ort, welches Leben konnte schlimmer sein als dieses?
Er träumte nicht von einem Paradies des Dolce Vita und es ging ihm nicht darum, seinen Aufgaben zu entfliehen. Aber er wollte - er musste seine Heimat dort finden, wo Individualität als etwas Selbstverständliches, etwas Kostbares war, wo nicht das Gesetz der Masse herrschte und wo man nicht leichtfertig mit anderen in einer Schublade landete.
Das Karussell hatte damit zu tun, hatte man ihm gesagt. Dort wäre der Übergang in die andere Welt. Im Karussell wurden sie alle regelmäßig erneuert, wenn sie geschunden, erschöpft und stinkend von ihrem Dienst kamen. Und manchmal fehlte danach einer. Zwei gehen rein und einer kommt raus. Keiner konnte erklären, wo und wie genau jemand verschwunden war und es kursierten die wildesten Geschichten über verborgene Gänge oder das Zauberwort „Ankh".
Es war ein zartes Pflänzchen, diese Hoffnung und doch bot es ihm genügend Halt, um weiterzumachen. Um jedem quälenden Tag einen neuen Tag folgen zu lassen. Um begierig zu warten, bis er wieder an der Reihe wäre, mit seinem Partner ins Karussell zu gehen. Um „Ankh" zu murmeln, nach dem Weg zu suchen, den außer den Verzweifelten keiner sah, um aus den Tiefen seines Herzens zu wünschen, dass dieses Mal ... dieses Mal ... ER derjenige Socken sein könnte, der in der Waschmaschine spurlos verschwindet.