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Die zwei Leiber Christi
Ich bin kein kirchlicher Mensch. Allerdings, ich muss es zugeben, habe ich eine gewisse Affinität für Religiöses. Man könnte sagen: Ich glaube nicht an die Kirche, aber ich glaube an Gott. Oder irgendeine Wesenheit, die es gut mit den Menschen meint.
Mein Tag begann mit einer mittelschweren Katastrophe. Das Meeting zum Fakten-Clustering war gestern spätabends von meinem Chef »spontan« um eine halbe Stunde vorverlegt worden. Die chinesische Abordnung wollte im Anschluss »spontan« eine Sightseeing-Tour zu den gepunkteten Steinen Mehmelheims um Punkt 10:30 Uhr wahrnehmen.
Ich bin gestern auf der Couch eingepennt, der Topf mit Spagetti neben mir, die Gabel in der Hand. Die SMS (mit selben Inhalt), las ich morgens um 7:30 Uhr als mein Handywecker klingelte. Ich stellte fest, dass mir knapp 20 Minuten blieben.
Ich kam zu spät.
Natürlich.
Mein Chef quittierte mein Erscheinen – ich drückte mich vorsichtig hinter den Stühlen der chinesischen Kollegen vorbei– mit einer einzelnen, hochgezogenen Augenbraue.
Das war es mit der Beförderung, schien die Augenbraue zu sagen und der dazugehörige Kopf lehnte sich in den Sessel zurück.
»Gut, Herr B., nachdem Sie da sind, können Sie mit Ihrer Präsentation beginnen.«
Der Vortrag verlief. Halbwegs. Ich war froh, als ich aus der schadenfrohen Atmosphäre in mein Büro flüchtete. Kein Refugium, wie sich herausstellte. Gefühlt jede Minute kam ein anderer Kollege rein, knallte einen Stapel Unterlagen auf den Schreibtisch und sagte: »Schnell.« Oder »Erledigen bitte.«
Manche sagten auch nur: »Erledigen.«
Was damit endete, dass ich erledigt war.
Und ich beschloss, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Für acht Stunden wurde ich bezahlt. Acht Stunden plus eine halbe Stunde Mittagspause.
Am heutigen Tag verließ ich das Büro fristgerecht. Wozu sollte ich mir ein Bein ausreißen, wenn meine Felle davongeschwommen waren?
Goodbye Beförderung!
Goodbye!
Ich war niedergeschlagen. Es regnete. Feierabendverkehr. Unerbittlich. Ich klappte den Kragen von meinem Mantel hoch und versteckte mich unter meinem Regenschirm. Auf dem Weg zur U-Bahn Station kam ich an dieser Kirche vorbei, deren Glocken wie bescheuert läuteten. Meine Schuhe – schwarzer Lack – begannen durchzuweichen. Immerhin drückten sie jetzt nicht mehr.
Ich klappte den Schirm zusammen und schlüpfte hinein in das dicke Gemäuer, um Wasser und Lärm hinter mir zu lassen.
Ich erwartete einen leeren Raum. Doch innen herrschte reges Getriebe. Ich war verblüfft. Es saßen eine Menge Menschen hier, die miteinander murmelten. Es war richtig was los!
Ich bog in eine der hinteren Reihen. Bevor ich mich setzte, hielt ich kurz inne und faltete die Hände. Das, soweit mich meine Erinnerung nicht täuschte, war so üblich.
Der Altarraum war schlicht. Ein riesiges, schwarzes Kreuz hing in der Mitte über einem rechteckigen Altar aus – Beton?
Hässlicher Klotz.
Es war eine moderne Kirche.
Links und rechts im Kirchenschiff entdeckte ich Bilder zum Leidensweg Jesu. Holzschnitzereien, deutlich älter als die Gegenstände im Altarraum, zeigten seine letzten Stunden. Jesus fällt zum ersten Mal. Jesus begegnet seiner Mutter. Jesus fällt zum zweiten Mal.
Der Künstler hatte das Kreuz überdimensional dargestellt. In der letzten Abbildung, »Jesus am Kreuz«, war es geschrumpft, damit Jesus daran befestigt werden konnte.
Neben mir raschelte eine Dame einen Zettel in meine Richtung und riss mich aus der Betrachtung.
»Brauchen Sie einen?«
Ich nickte und nahm den Zettel.
»Abschiedsgottesdienst zur Entlassung von Herrn Braun« stand darauf. Und darunter: »Ehrwürdiger Leiter des Senioreninstituts zum Heiligen Kreuz.«
Ich verspürte den Impuls, die Kirche schleunigst wieder zu verlassen. Doch die Plätze neben mir hatten sich still und heimlich mit Menschen gefüllt. Weißhaarige, gebrechliche Exemplare, die man nicht einfach so bittet, mal eben wieder aufzustehen.
Die Orgel kündigte den Beginn des Gottesdienstes an. Ich war gefangen. Seufzend wischte ich mir ein paar letzte Tropfen von der Stirn.
Die Gemeinde erhob sich, nur ein paar Weißhaarige blieben sitzen. Ich stand ebenfalls auf. Wie bei einer Hochzeit schritten drei Geistliche durch den Mittelgang zum Altarraum. Einer trug eine Mütze und erinnerte ein wenig an einen Nikolaus, wie man ihn auf Weihnachtsmärkten sieht.
Die Gemeinde begann zu singen. Den Text las ich stumm vom Liederzettel ab und fühlte mich in die Zeit als Konfirmand zurückversetzt.
Damals hockte ich mit meinen Kumpels zwischen älteren Herrschaften und ärgerten die Mädels vor uns. Beim Singen machten wir den Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen, damit keiner merkte, dass wir die Lieder nicht kannten.
Der Gottesdienst verlief wie folgt: Heilige Worte, kurze Gebete und eine mir unverständliche Litanei. Die drei Geistlichen legten sich ins Zeug. Wechselten sich beim Sprechen ab, wechselten die Plätze. Ein paar Mal konnte ich beobachten, wie sie mit ihren Lippen den grauen Betonklotz berührten. Das hatte, soweit ich mir erinnerte, mein damaliger Pastor nie getan.
Der Hochmützige betrat die Kanzel. Das Mikrofon knackte. Er räusperte sich.
»Der Weg«, sprach er, »ist ein langer Weg. Wir alle gehen ihn. Wir gehen ihn, weil wir Suchende sind. Wir suchen und wir finden. Wir suchen nach Christus, unserem Herrn. Wir suchen nach dem Gefühl, das von Dauer ist, nicht nur nach den kurzen Freuden. Wir suchen den Weg, der Ewigkeit verheißt. Und Jesus sucht uns auch, er kommt uns dabei entgegen!«
Was für ein wirres, abgeschmacktes Zeug, schoss es mir durch den Kopf.
»Ja, Jesus sucht uns, er kommt uns entgegen!«, wiederholte der Bemützte.
Dann ging es in der Predigt um den mir unbekannten Herrn Braun, der im Leben »sein Ziel erreicht« hatte und nun in den wohlverdienten Ruhestand – mit Gottes Segen – verabschiedet werden sollte.
Ich fühlte mich fehl am Platz. Ich kannte diesen Herrn doch gar nicht. Verlegen blickte ich nach links und rechts. Die Menschen neben mir verfolgten das Geschehen mit ernsten Gesichtern.
Der Bemützte schlug die Bibel auf. Und die folgenden Zeilen vermochten es, mich zu berühren. Ich kannte sie.
»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.«
(Prediger Salomon (Kohelet) 3, 1-13)
Wir beteten das Vater Unser, das ich sogar einigermaßen zustande brachte.
Ich hatte die Hoffnung, dass der Gottesdienst zu seinem Ende kommen würde. Doch nun begann das größte Spektakel. Die heilige Dreifaltigkeit hob einen Kelch empor und bewegte ihn nach einem einstudierten Muster hin und her. Der Altar wurde geküsst und ebenso der Kelch. Fasziniert beobachtete ich, dass in genau diesem Moment die Sonne durch die Wolken brach und das heilige Getue mit ihrem Licht unterstützte.
Die Geistlichen schritten zu unterschiedlichen Stellen in der Kirche und aus den Bänken strömten die Menschen auf sie zu. Ich wurde einfach mitgezogen.
Abendmahl, schoss es mir durch den Kopf. Na klar. Gut. Ich erinnerte mich dunkel, dass das ziemlich lange dauerte. Von den Geistlichen würde ich eine Oblate kriegen und dann gab es noch einen Schluck Wein.
Leib und Blut, das Jesus für uns gegeben hat.
Eine Kirche voller Kannibalen.
Warum eigentlich nicht.
Den Leib Jesu bekam ich von dem Geistlichen mit der hohen Mütze. »Corpus Christi custodiat te«, sagte er.
»Danke«, murmelte ich, und stellte mich in die andere Reihe, an deren Ende ich einen Schluck Wein erwartete.
Dabei stellte ich fest, dass meine Banknachbarin nicht hinter mir war. Dann sah ich, dass die Menschen vor mir eine Oblate erhielte.
»Wieso gibt es hier keinen Wein?«, wunderte ich mich, dann war ich dran und ein zweiter Leib Christi wanderte in meine Hand.
»Corpus Christi te beneficat«
Ich nickte. Verblüfft ging ich einmal durch den Kirchraum um die Bänke herum, bis ich meinen Bank wiederfand. Nirgendwo wurde Wein ausgeschenkt, was mich doch sehr verwirrte.
Zurück an meinem Platz fragte ich die Dame.
»Gibt es hier gar keinen Wein?«
»Nein, heute nicht.«
»Was mache ich denn jetzt mit der Oblate?«
Die Alte führte ihre Hand zum Mund.
Schnell steckte ich mir beide Leiber in den Mund.
Dort zerschmolzen sie, wie es nur Esspapier kann.
Die Alte sah mich skeptisch an.
»Sie sind nicht katholisch?«
»Nein«, sagte ich.
»Dann dürften die Priester ihnen eigentlich gar keine Hostie geben und der Bischof schon gar nicht.«
»Wieso denn das?«
»Ach«, die Alte winkte ab. »Ein Priester sagte mal, dass Hostien alle Nichtkatholiken von innen verbrennen. Aber Ihnen geht es ja gut, wie mir scheint.«
Dass Katholiken ein wenig eigen waren mit ihrer Religion, war mir vom Hörensagen bekannt. Nun ergab diese Messe mit all dem Aufwand, den die Geistlichen betrieben, einen Sinn. Sie war katholisch, nicht evangelisch. So war ich sozialisiert worden.
Ich legte eine Hand auf meinen Bauch. Ich spürte keinerlei Brennen. Dabei hatte ich sogar zwei Leiber intus. Tatsächlich. Mir ging es gut.
»Alles in Ordnung«, flüsterte ich.
Die Dame zwinkerte mir zu und wir empfingen den Segen.
Mit einem beschwingten Gefühl ging ich nach Hause.