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Dieb
Man sagte mir, es gäbe nur einen Mann, der die Wüste durchqueren und sicher vor Räubern in die große Stadt jenseits der Grenze gelangen könnte. Es hieß, er wäre selbst ein Wüstenbewohner und Räuber, ein Mann von großer Unzuverlässigkeit, dessen Untreue gegen sein eigenes Volk ihn zwänge, Botengänge für die Bürger unserer Stadt zu unternehmen.
Ich gebe nicht viel auf dieses Gerede. Ich habe ihn kommen lassen, habe mit ihm gegessen, er scheint ein vernünftiger Mann zu sein. Heute wird er bei mir übernachten, morgen in aller Frühe wird er aufbrechen. Ich werde beim Frühstück von der Terrasse aus seine Spur durch die Wüste verfolgen.
Es war keine gute Idee, ihn früh aufbrechen zu lassen. Die Leute hier sind misstrauisch. Etwas fehlt, man findet es nicht sofort, sie kommen zu mir: ich ließe Diebe für mich arbeiten. Natürlich finden die Leute ihren Kram bald wieder, ich erfahre es, weil ich nachgefragt habe; sie entschuldigen sich nicht. Ich erwarte die Rückkehr meines Boten mit Ungeduld. Die Erinnerung an seine Ruhe und Verschwiegenheit ist mir angenehm. Wenn er in der fremden Stadt erfolgreich verhandelt, soll er dort für mich arbeiten.
Er ist mitten in der Nacht zurückgekommen, von den Nachbarn unbemerkt. Er bringt Briefe aus der anderen Stadt; die Angelegenheit lässt sich schwierig an, er selbst ist misstrauisch, ob sich ein Handel mit einer so andersartigen Stadt in die Wege leiten lässt. Ich höre ihm gern zu, seine Stimme ist angenehm, seine Beobachtungen sind präzis, oft überraschend. Ich will ihm mit Geld für seine Arbeit danken; er nimmt es nicht an. Er wird weiter für mich arbeiten, morgen soll er wieder aufbrechen.
Ich habe lange auf ihn gewartet, wieder hat er sich zur Nachtzeit hergeschlichen. Tatsächlich scheint die Reise über die Grenze zu gefährlich zu sein, als dass man sie mit Waren unternehmen könnte. Ich biete ihm an, eine Weile bei mir zu bleiben, bis sich eine neue Aufgabe für ihn ergibt.
Heute Morgen ist er wieder verschwunden. Das ist ärgerlich, zumal sich neue Verdächtigungen gegen ihn erhoben haben. Von Kleinigkeiten, die in meinem Hause fehlen, behaupte ich, ich hätte sie ihm geschenkt.
Ich hoffe, diese Geringfügigkeiten hindern ihn nicht, zu mir zurückzukommen. Die wenige Zeit, die ich mit ihm auf meiner Terrasse gesessen habe, ist meiner Erinnerung kostbar. Er scheint mehr von mir zu kennen und zu verstehen als die Nachbarn und jeder im Ort; das denke ich, wenn ich abends den Sonnenuntergang über der Wüste sehe. Ich verstehe ja, dass es ihn dorthin zieht, auch ich würde in die Wüste gehen, wäre nicht sicher, dass dort keiner, der nicht die Sprache der Wüstenbewohner spricht, überlebt. Ich sehe meinen Irrtum, dass ich ihn zu meinem Angestellten machen wollte. Ich will ihn zu meinem Freund machen.
Heute, bei Sonnenaufgang, wurde er mir gebracht, der ganze Ort war auf den Füßen, sie schrien, es sei erwiesen, ich hätte einen Dieb in ihre Stadt gebracht. In einem Beutel, den man bei ihm gefunden hatte, fanden sich verschiedene Gegenstände, von keinem großen Wert, darunter die Dinge, von denen ich vorher angegeben hatte, ich hätte sie ihm geschenkt. Ich bezahlte, was von seiner Beute meinen Nachbarn gehörte, und nahm ihn in mein Haus. Ich ließ ihn baden und traf ihn zum Essen. Ich sagte ihm, was er brauche, stehe zu seiner Verfügung, er solle es nur sagen, er sei ein außerordentlicher Verhandlungsführer und ich wolle wegen gewisser Lappalien nicht auf seine Dienste verzichten. Er beteuerte, alles zu haben, was er brauchte, und dankte für das freundliche Angebot. Während er aß, schwiegen wir. Ich sah ihm zu. Als die Sonne untergegangen war, saßen wir und sahen in die Nacht, sprachen dabei kein Wort.
Am nächsten Morgen war er wieder verschwunden, und mit ihm fehlten ein paar kleinere Wertgegenstände in meinem Haus und in dem der Nachbarn, über deren Balkon er, wie mir scheint, den Weg zu meiner Terrasse zu nehmen pflegt.
Den Nachbarn zahlte ich, was sie verlangten, damit sie in dieser Sache Ruhe geben. Ich würde ihm gerne ein Zeichen in die Wüste geben, dass er zurückkommen kann, wann immer er mag, denn ich weiß, dass er nicht aus Gier stiehlt. Ich möchte dringend sein Geheimnis kennen, aber ich kann mich nicht in die Wüste wagen, keiner kann das.
Die Ebene vor der Stadt dehnt sich weit, einen Reisenden müsste man dort am Tag, bevor er eintrifft, ausmachen können. Ich fand jedoch kein Anzeichen eines Menschen, als ich gestern Abend draußen saß und die rote Sonne untergehen sah. In der Nacht wachte ich auf, es schien mir, als ginge eine Gestalt über die Terrasse. Ich dachte gleich, es müsste der Mann sein, den ich in meinen Gedanken längst den Freund nenne. Morgens war niemand gekommen, es fehlte jedoch ein guter Teil meines Essgeschirrs. Und natürlich dauerte es nicht lang, bis meine Nachbarn mir in den Ohren lagen. Ich möchte von ihnen nicht wieder sprechen, ich werde auch nicht wieder mit ihnen sprechen. Ich zahle sie aus mit finsterer Miene, das ist für alle am besten. Mehr beschäftigt mich, wie ich meinen Freund treffen kann, ohne ihn zu verjagen.
Ich werde wachsam sein in Zukunft. Ich habe eine feine Schnur gespannt an der Stelle, an der er über die Mauer der Nachbarn auf meine Terrasse klettert. Diese Schnur führt zu den Kletterrosen auf der nahegelegenen Mauer und scheint das Spalier zu halten, in Wahrheit führt sie jedoch in mein Zimmer und bewegt, wird sie gezogen, eine kleine Reihe von Glöckchen, die nahe bei meinem Kissen hängen. Ich werde ihm so auflauern und ihn abfangen, und dann werde ich ihm das übrige Geschirr schenken und meinen halben Haushalt, er wird mir aber erzählen müssen, wer er ist und woher er kommt.
Ich hatte recht mit meiner Annahme, dass er über den Balkon der Nachbarn zu mir kam, und in vielem anderen hatte ich mich ebenfalls nicht getäuscht.
Gestern, weit nach Mitternacht, als die Morgendämmerung mit ihrem unruhigen blauen Licht einsetzte, läuteten die Schellen am Kopfende meines Bettes. Ich richtete mich sofort im Bett auf und sah nach draußen: ich konnte den Umriss einer Gestalt ausmachen, die innehielt. Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Kopflos geworden, sprang ich auf und lief auf die Terrasse hinaus. Ich fürchtete ja nicht den Einbrecher, fürchtete vielmehr, dieser Einbrecher, der mein Freund werden soll, könnte sich mir entziehen. Ich stand an der niedrigen Brüstung, wohin die Gestalt verschwunden war, und flüsterte seinen Namen wie eine Formel, mit der man eine unirdische Kraft beschwört. Wie lächerlich mein Tun war, wie gefährlich für mich und noch mehr für den Freund, bedachte ich nicht im geringsten, im Gegenteil, ich ließ meine Stimme noch ansteigen zu einem Ruf in die Nacht, in das blaue Morgenlicht über der Wüste, und mir war, als antwortete die Wüste, als ich dicht bei mir seine Stimme hörte: halt ein, um Himmels willen!
Er stand halb unter mir, hingekauert auf einem Absatz jenseits der Balustrade, wo er sich nicht lange würde halten können, nicht mit dem schwergepackten Sack, den er in einer Hand hielt. Ich fasste seine andere Hand, um ihm hinauf zu helfen. Er zog zunächst den Sack auf die Balustrade, der in einiger Entfernung von mir zu liegen kam, und kletterte dann selbst hinüber. So standen wir einander gegenüber. Ich sah ihm an, daß er nicht glücklich war über diese Begegnung. Ich hatte ihn in diese peinliche Lage gebracht, und jetzt wollte ich alles tun, ihn vergessen zu machen, dass ich ihn als Einbrecher in meinem Haus gefunden hatte. Ich habe einen Auftrag für euch, sagte ich aufs Geratewohl. Aber davon später. Ich führte ihn zu einem Stuhl, er setzte sich, ich nahm neben ihm Platz. Es war, wie ich es mir ausgemalt hatte, wir saßen schweigend, während die Sonne aufging, und sahen auf die Wüste, die uns zu Füßen lag. Nach dem Frühstück bot ich ihm an, ein Bad zu nehmen, und erklärte, ich wolle ihn zum Mittagessen wiedersehen. Er nickte und verschwand im Haus. Pünktlich zum Essen saß er auf der Terrasse, gebadet und in den neuen Kleidern, die ich für ihn vorbereitet hatte. So blieb er eine Weile. Er las Bücher, wenn ich ihm welche zu lesen gab, nahm zu den Mahlzeiten seinen Platz ein und schenkte der Schönheit des Sonnenunterganges besondere Beachtung, wenn ich ihn darauf hinwies. Ich mußte mir eingestehen, dass er nicht auf meine Vorschläge einging wie ein Freund, sondern wie ein Gefangener.
Ich habe den Eindruck: er beobachtet mich. Ich will um jeden Preis seines Vertrauens würdig sein und mehr über ihn erfahren. Gestern hat er zum ersten Mal das Wort an mich gerichtet. Nicht, als spräche er mit mir, vielmehr, als wäre er allein mit der Nacht, so fing er an zu sprechen, leise, sehr deutlich. Es ist seine Geschichte, die er erzählt, sein Leben in der Wüste. Ich höre ihm jeden Abend zu. Meine Nachbarn würden sagen: was für eine Räuberpistole, ich glaube ihm aber alles, auch die Zaubergeschichten. Es ist eine wunderbare Welt da draußen.
Er hat über einen Verrat gesprochen, den er begannen hat, an seinem eigenen Volk.
Es war doch eine Notlage! Warf ich ein, wie um ihn zu entschuldigen. Das hätte ich nicht sagen sollen. Wenn ich ihm sage, dass er kein Dieb, kein Verräter ist, ist es, als nähme ich ihm etwas weg. So war ich nicht erstaunt, dass er heute wieder verschwunden war. Ich werde ihn aber wiederfinden. Ich wollte, ich könnte einen Verrat begehen, dann wäre ich ihm nah; aber es ist keiner mehr, der mir traut.
Heute war die Polizei bei mir. Es hatte einer verlauten lassen, bei mir lagere Diebesgut. Und tatsächlich fand sich ein fetter Sack unter meinem Bett. Natürlich kam das von ihm! Ich wollte, ich könnte in die Wüste gehen, ihn suchen und finden und ihm sagen, ich hätte verstanden, es täte mir ja leid, ihm Unrecht getan zu haben.
Aber sie haben mich hier in das Stadtgefängnis gebracht, die Fenster liegen hoch unter der Decke und sind mit Eisenstäben vergittert. Eine Kette verbindet mein Fußgelenk mit der kalten Steinwand. Ich werde mir eine Feile zu beschaffen wissen, heimlich eingebacken in einen Laib Brot, ich werde die Richter bestechen, den Wächter überlisten, die Soldaten überwältigen. Die Wüstenbewohner werde ich fürchten lehren, ich werde mein Zelt dort draußen in die Dünen setzen. Von reisenden Waren werde ich meinen Teil haben, als Räuber, als Banditen werden wir hausen, der Freund und ich.