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Dieses Gefühl, wenn man in ein Thunfisch-Sandwich beißt
Letzten Sonntag sitze ich in der Barbaranne, beiße in ein Eisbergsalat-Thunfisch-Sandwich und schaue mir das Spiel der Eintracht an, da stellt sich ein Typ vor mich hin und meint: „Du bist fiktiv.“
Ich schiebe den Teller mit dem Eisbergsalat-Thunfisch-Sandwich weg, zünde mir eine Zigarette an und sage: „So?“ Es war ja noch früh am Morgen, sonntags, ich hab die Wiederholung gesehen und so richtig fit war ich da noch nicht. Der Typ war wuchtig. So ein wuchtiger Typ. Vielleicht einsachtzig, sah aus wie jemand, der was zu verbergen hat. Mit schwarzem, wuchtigem Haar, einer wuchtigen Nase, wuchtigen Armen, einem irgendwie wuchtigen Bauch und gerochen hat er auch wuchtig. Davidoff Cool Ice oder so was. Weiß ich nicht mehr, hatte noch den Thunfisch-Geruch in der Nase.
Er sagt: „Du bist mein imaginärer Freund Hugo.“
Ich ziehe an der Zigarette, greife mir an meine Nasenwurzel und kneife die Augen zusammen. Irgendwie hab ich das Gefühl, es wird ein langer Morgen.
„Imaginär“, sage ich und drücke die Zigarette aus. „So so, sonst keine Freunde gehabt als Kind, hm?“
„Dich“, meint er.
„Tja“, sage ich. „Als ehemaliger bester Freund ist es wohl meine Pflicht Sie an meinen Tisch zu bitten.“
„Hm?“, sagt er, denn er hat mich die ganze Zeit aus seinen Schweinsäuglein angestarrt.
„Setzen Sie sich doch“, sag ich und deute mit der Zigarettenhand auf den freien Stuhl. „Thunfisch-Sandwich?“
Er setzt sich hin, lässt mich aber keine Sekunde aus den Augen.
„Ich weiß nicht“, sagt er. Tonlos, nach einer ganzen Weile. „Warum seh ich dich jetzt wieder? Bin ich einsam? Nur weil Katja weg ist.“
„Vielleicht hängen Sie das erste Mal Sonntagmorgens in einem Bistro rum“, sage ich. „Weil Katja weg ist. Sonst waren Sie vielleicht zusammen in der Kirche oder es gab ein Hallo-Es-ist-Sonntag-Nümmerchen.“
„Du warst schon immer frech“, sagt er. „Du hast immer die Sachen gesagt, die ich nicht sagen konnte.“
Ich nicke vor mich hin.
„Wir hatten eine tolle Zeit zusammen“, sagt er. „Aber irgendwann warst du weg, ich hab dich immer seltener gesehen. Es war eine Mathe-Klausur in der Achten, ich hab zwei Wochen lang nur gelernt und gar nicht mehr an dich gedacht und später, als ich eine Eins dafür bekommen hab, saß ich in meinem Zimmer und hab nach dir gerufen, aber du bist nicht mehr gekommen. Und zwei Tage später hab ich Katja das erste Mal gesehen. Sie ist mit ihrer Familie hergezogen, aus Düsseldorf. Ihr Vater war Berufssoldat.“
„Gratulation“, sage ich. „Eine Eins in der achten Klasse. Alle Achtung.“
„Bist du mir böse wegen der Arbeit?“
Ich lächle und beiße in mein Thunfisch-Sandwich. „Nein, nein“, sage ich, während sich der matte Geschmack in meinem Mund ausbreitet. „Frau und Mathe, dagegen hat man keine Chance.“
„Und jetzt bist du wieder da?“, fragt er.
„Ich war schon immer da“, sage ich. „Die ganze Zeit.“
„Und was ist aus dir geworden?“, fragt er. „Ich hab mir immer vorgestellt, du wirst mal Pilot oder Cowboy, Sänger, irgendwas Wichtiges.“
„Hey“, sage ich. „Kein Grund, persönlich zu werden.“
Er hält mit seinen wuchtigen Fingern den Tisch fest, so als würde er jeden Moment umfallen.
„Ich bin bei der Post“, sage ich.
„Oh“, sagt er.
„Und ich brauch mich dafür nicht zu schämen.“
„Nein“, sagt er. „Natürlich nicht.“
Aber es trifft mich, so leicht, es muss mich getroffen haben, denn sonst hätte ich nicht gefragt: „Und Katja? Ist sie für ’nen Schlankeren weg?“
„Tot“, sagt er.
„Hm“, mache ich und vergrabe meine Zähne ins Sandwich.
„Ging ganz schnell“, sagt er. Er hält sich eine Hand vor den Mund, wie um ein Grinsen zu unterdrücken. Und dann stößt er ein leises Geräusch aus, mitten in die Stille nach dem dritten Tor der Nürnberger. Noch mal dieses Geräusch. Ein fast gelachtes „He“.
„Schlimm“, sage ich.
„Ja“, sagt er.
„Zigarette?“
„Nein, danke.“
„Ich nehm mir eine.“
„Nur zu“, sagt er.
Aber ich starre auf die Zigarettenschachtel und nehme mir doch keine.
„Weißt du noch was aus deiner Zeit vor mir?“, frage ich. „Ich meine, wir haben uns ja kennen gelernt, da warst du vielleicht fünf oder sechs.“
„Sechs“, sagt er.
„Weißt du noch was aus der Zeit?“
„Nein, nichts.“
„Ich kann dir Katja nicht ersetzen“, sage ich. „Ich hab jetzt mein eigenes Leben, zugegeben, kein sehr tolles, aber ich hab eins.“
„Ja“, sagt er und nickt stumm mein Sandwich an.
„Ich glaub auch nicht, dass ich das wieder könnte, man ist kein Kind mehr.“
„Ja“, sagt er. „Das ist vorbei. Die Zeit geht immer weiter, man kann nichts dagegen machen.“
„Kinder habt ihr keine gehabt?“
Er antwortet nicht.
Jemand rüttelt an meiner Schulter, er wird durchlässig, verblasst immer mehr, ich nicke ihm noch einmal zum Abschied zu und schaue über meine Schulter, wer da an mir rüttelt. Biggie, die Kellnerin. Ich schaue in ihr überschminktes Sonntag-Morgen-Gesicht, in die grünen Augen, auf ihre irgendwie aufgepumpten Lippen. „Alles klar?“, fragt sie.
„Ja“, sage ich.
„Haben uns Sorgen um dich gemacht, du hast mit wem gesprochen.“
Ich muss lächeln. Ich weiß gar nicht, wieso.
„Gibst du mir noch fünf Minuten?“, frage ich.
„Auch zehn“, sagt sie und geht wieder. Ich schaue ihr auf den Arsch.
Ich schließe die Augen und stelle mir eine Frau vor, so wie damals. Man kann mit vierzehn keinen imaginären Freund mehr haben, egal wie sehr man ihn braucht, das geht nicht, aber man muss für ihn sorgen. Gott, ich hatte ihn schon total vergessen und dann kommt er an einem Sonntagmorgen zu mir und hat seine Katja verloren.
Ein letztes Mal beiße ich in mein Thunfisch-Sandwich und denke mir eine Frau aus. Biggies Hintern wird sie bekommen und ein breites Becken. Ich glaube, Kinder würden ihm gut tun.