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Doppelgänger
Im zweiten Stock muss Markus seine Einkaufstaschen absetzen. Er schnauft schwer, sein linkes Kniegelenk schmerzt. Das Licht geht aus, und einen Moment lang steht er im Dunkeln. Seit der Zeitumstellung fällt durch das Dachfenster kein Tageslicht mehr in das schmale Treppenhaus, wenn er gegen halb sechs nach Hause kommt. Doch er will sich nicht schon wieder über die zu kurze Zeitschaltung im Hausflur und den Regelungsirrsinn der EU ärgern. Lieber denkt er darüber nach, ob er noch etwas von seinem Roten im Haus hat. Der würde nämlich viel besser zu den Semmelknödeln passen, die er sich gleich kochen will. Er schließt die Tür zu seiner Wohnung auf und überlegt, ob er noch bis zur Markthalle zurückgehen würde, falls der Rote ausgetrunken ist.
Musik, die aus der Küche dringt, unterbricht ihn bei dem Gedanken. Nanu, fragt sich Markus, hat er morgens vergessen, das Radio auszuschalten? Ohne seinen Mantel abzulegen, eilt er in die Küche. Tatsächlich ist das Radio angeschaltet. Popmusik, eigentlich nicht sein Geschmack, dudelt aus dem kleinen Kasten. Amüsiert über seine Fehlleistung, schaltet er das Gerät aus. Als er in den Schränken nach der Weinflasche zu suchen anfängt, steigt ihm von irgendwoher Fleischgeruch in die Nase. Auf dem Herd entdeckt er die Pfanne, in der er seine Semmelknödel anbraten wollte. Zwei Hühnerschenkel köcheln darin auf niedriger Stufe. Er hört plötzlich Duschgeräusche aus dem angrenzenden Badezimmer, aus dem schmalen Schlitz unter der Tür fällt künstliches Licht. Markus spitzt die Ohren und vernimmt das Summen einer weiblichen Stimme.
Einen Moment lang weiß er nicht, ob er schreien oder lachen soll. Will ihm etwa eine „Verflossene“ einen Streich spielen? Oder mit einem Essen überraschen? Doch warum ausgerechnet mit Hühnchen, wo er doch schon seit vielen Jahren Vegetarier ist? Das Blut in seinem Kopf beginnt zu rauschen, seine Gedanken jagen. Er versucht, sie damit zu beschwichtigen, dass sein Arbeitstag hart und die letzte Nacht kurz war. Vielleicht hat er sich ja in der Tür geirrt? Schließlich sind die anderen Wohnungen ähnlich geschnitten wie seine. Schon einmal stand er in einer fremden Wohnung, doch damals war die Tür sperrangelweit offen gestanden, und er war ohne nachzudenken einfach hineinspaziert. Doch warum sollte sein Schlüssel in ein anderes Schloss passen? Das ergab irgendwie alles keinen Sinn. Zu seiner Vergewisserung öffnet er die Schranktür unter der Anrichte und entdeckt darin sein Kochgeschirr. Auch die Rezeptbücher im Regal sind zweifelsfrei seine eigenen. Wieder hört er das Summen aus dem Badezimmer. Markus kneift sich in den Unterarm. Doch, er ist hellwach, es ist kein böser Traum!
Er macht sich auf den Weg zur Badezimmertür, da hört er Schritte auf dem Gang, die schnell näherkommen. Ein Mann tritt in die Küche und erschrickt, als er Markus entdeckt. Der Mann hat etwa die gleiche Größe wie er selbst und scheint, je näher er ihn betrachtet, verdammt viel Ähnlichkeit mit Markus haben: diese tiefliegenden Augen, die starken Wangenknochen, der kleine Höcker auf dem Nasenrücken, das schüttere, noch immer dunkelblonde Haar. Sein Blick verschwimmt, bis von dem anderen nur noch eine blasse Silhouette zu erkennen ist. In seinem Kopf beginnt es wieder zu rauschen. Markus kann den gepressten Aufschrei nicht unterdrücken. Als er wieder klarer sieht, registriert er, wie sich der Brustkorb des Fremden hebt und senkt.
„Wer sind Sie? Was soll das? Was tun Sie hier?“ Der Fremde feuert seine Fragen ab wie eine Gewehrsalve.
Markus versucht, seine Kontrolle wiederzugewinnen und sagt möglichst bestimmt: „Sie verlassen jetzt sofort meine Wohnung, sonst rufe ich die Polizei!“
„Ihre Wohnung? Was sagen Sie da?“, lacht der andere hysterisch.
Eine Weile starrt ihn der Mann wortlos an. Wer von beiden, fragt sich Markus, ist hier die Schlange, wer das Kaninchen?
Eine korpulente Frau im weißen Morgenmantel tritt in die Küche. Auch sie zuckt zusammen, als sie Markus in der Küche entdeckt. Ihr Blick pendelt fragend von ihm zum Fremden und wieder zurück. Sie nestelt nervös an dem Handtuch über ihren nassen Haaren, mit dem sich Markus noch kürzlich seinen Allerwertesten abgetrocknet hat. Zorn packt ihn über diese Mietnomaden, die sich in seinen eigenen vier Wänden eingenistet haben.
„Lars“, sagt die Frau in schneidendem Ton, „wer ist das?“ Es ist die gleiche Stimme, die er eben unter seiner Dusche gehört hat. Der Mann, der aussieht, wie er selbst, schaut sie an mit offenem Mund und zuckt mit den Schultern.
„Warten Sie!“, befiehlt die Frau und schiebt Lars ins Wohnzimmer. Die Tür fällt zu, doch Markus kann ihrer Unterhaltung mühelos lauschen:
„Wieso hast Du mir von deinem Zwillingsbruder nichts gesagt?“
„Zwillingsbruder? Ich habe keinen Bruder, das weißt du doch. Ich schwöre dir, Sigrid, ich kenne diesen Mann nicht!“
„Du verheimlichst mir doch etwas! Er gleicht dir doch wie dein Spiegelbild.“
Markus wird plötzlich heiß, denn er hat immer noch den Mantel an, in seiner eigenen Wohnung! Er wird der Wohnungsbesetzung und diesem Doppelgänger-Unsinn nun ein Ende machen. Mit solchem Gesindel macht man kurzen Prozess! Er springt zum Glastisch, wo er sein Telefon abgestellt hat und wählt den Notruf. Noch bevor jemand abnimmt, wird die Wohnzimmertür aufgerissen. Markus fällt der Hörer aus der Hand. Die Frau schreit ihn von hinten an: „Was machen Sie da?“
„Notrufzentrale“, meldet sich eine männliche Stimme am Fußboden.
„Mit meinem eigenen Telefon die Polizei anrufen“, antwortet Markus kühl.
Er hebt in aller Ruhe den Hörer auf und sagt dem Mann, dass zwei Einbrecher in seiner Wohnung sind. Markus buchstabiert die Adresse, stellt den Hörer zurück in die Basisstation und dreht sich um. Das Handtuch auf dem Kopf der Frau hat sich gelöst, ihre frisch gewaschenen rotbraunen Haare stehen in alle Richtungen.
„Dann machen Sie mal“, sagt sie mit hochrotem Kopf, „die Polizei wird Sie hochkant aus unserer Wohnung werfen.“
„Das ist nicht Ihre Wohnung“, antwortet Markus lakonisch.
„Na, dann“, antwortet sie mit einem sarkastischen Lächeln und setzt sich an den Küchentisch.
Der Mann tritt aus dem Wohnzimmer, sein Gesicht ist bleich, sein Blick starr, als habe er gerade eine schreckliche Nachricht erhalten. Mit langsamen Schritten schlurft er durch die Küche und stellt sich hinter die Frau. Vorsichtig legt er ihr die rechte Hand auf die Schulter.
„Was geht hier vor sich?“ Markus gibt ihnen noch eine letzte Chance, bevor die Polizei kommen wird. Die Frau blickt angewidert nach draußen, der Mann hinter ihr steht regungslos da.
Erst das vertraute Summen an der Wohnungstür rettet Markus aus der Stille. Um seinen Anspruch als Hausherr klarzustellen, stürzt er als erster zur Tür. Auf der Treppe hört er schon die Schritte von zwei Männern, die sich in den dritten Stock hocharbeiten.
„Halt, halt, halt!“, schreit die Frau und drückt sich an Markus vorbei. Ihre körperliche Nähe löst in ihm einen Würgreiz aus. Zwischen den Stangen des Treppengeländers erkennt er die Glatze des ersten Polizisten.
„Dieser Mann ist in unsere Wohnung eingedrungen, am helllichten Tag!“, blafft die Frau, noch bevor sie oben angekommen sind.
Der erste von ihnen, ein hochgewachsener, bärtiger Mann um die sechzig, macht auf dem Treppenabsatz halt und atmet durch: „Guten Tag erst mal!“
Auch der zweite, einige Jahre jünger als der andere, ist angekommen und fragt zu Markus‘ Genugtuung, ob sie reinkommen dürften. Jetzt, denkt er, wird sich alles klären.
In der Küche steht Lars wie eine Salzsäule immer noch an der gleichen Stelle. Ohne sich lange bitten zu lassen, setzen sich die beiden Polizisten an den Tisch. Der ältere öffnet eine schwarze Tasche mit einer auffällig großen Schnalle.
„Schon zum dritten Mal“, murmelt er in seinen Bart.
„Aha“, ruft Markus, in seinem Verdacht bestätigt, und mustert das neben ihm stehende Paar aus den Augenwinkeln.
„Zum dritten Mal was?“, fragt die Frau den Polizisten scharf.
„Dass wir heute wegen sowas gerufen werden“, antwortet der Ältere müde und packt bedächtig seine Schreibunterlagen aus.
„Von Leuten, die behaupten, ihnen gehört dieselbe Wohnung“, erläutert der Jüngere.
„Und immer sehen sie gleich aus“, fügt der Ältere laut hinzu. „Gleichen sich bis aufs Haar!“
Er mustert die beiden Männer auf der anderen Tischseite und drückt den Knopf seines Kugelschreibers.
„Also gut. Dann erzählen Sie mal, wie es bei Ihnen war!“