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Doppelmord mit einer Kugel
Doppelmord mit einer Kugel
April 1944, Heilbronn
"Marie und Werner Götz werden wegen Hochverrat zum Tode durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wird noch heute vollstreckt!“
So sprach der Oberstaatsanwalt an jenem schönen Frühlingstag. Bis zur Vollstreckung des Urteils wurden sie in ihre Zellen zurückgebracht, in denen sie seit ihrer Gefangennahme getrennt untergebracht waren. Sie durften nicht mehr zusammen sein, konnten sich nicht gegenseitig trösten. Dabei hatten sie sich so sehr geliebt.
Werner war Tischler, war sehr talentiert, aber da er bei der Arbeit den rechten Zeigefinger verloren hatte, war er nicht für den Kriegsdienst eingezogen worden.
Marie war Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft, in dem sie sich auch kennen gelernt hatten.
Es war Liebe auf den ersten Blick, Werner wollte einen neuen Anzug kaufen. Den brauchte er, weil er als bester Tischlerlehrling des Jahres 1938 geehrt werden sollte. Da muss man schon ordentlich aussehen. Aber da er so ein kräftiger Kerl war, war es schwer, einen passenden Anzug zu finden.
Er betrat also das Geschäft und sah sich um. Marie bemerkte, wie er die Ware unsicher nach etwas passendem durchsuchte. Nach einer Weile, gerade als er sich anschickte, wieder zu gehen, ging sie zu ihm hin und fragte, ob sie ihm helfen könne. Sie fühlte sich stark von ihm angezogen und je näher sie ihm kam, desto stärker wurde diese Anziehungskraft. Werner war zwar erst sechzehn Jahre alt, aber er strahlte eine für Marie unglaubliche Männlichkeit aus.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Na ja, ich suche einen passenden Anzug.“
„ Es ist schon schwer, etwas passendes zu finden, wenn man solch kräftige Schultern und Arme hat“, brachte Marie hervor, als sie Werner mit ihren Blicken fast verschlang. „ Wissen Sie denn, welche Größe Sie brauchen?“ Er schüttelte den Kopf. „Alles was ich trage, hat mir meine Mutter noch besorgt, aber sie ist letztes Jahr an Tuberkulose gestorben. Er streckte die Arme vor und Marie sah, dass das Hemd, welches er trug, mindestens zehn Zentimeter zu kurz war.
„Wie traurig“, seufzte Marie, „ Am besten, wir nehmen erst mal Maß, damit wir wissen, wonach wir suchen müssen. Haben Sie Zeit?“
„Zeit hab ich genug“, stammelte er, denn ihm war nicht entgangen, dass Marie ein äußerst hübsches Mädchen war. Sie war etwas kleiner als er, war nicht dick und auch kein Magerpüppchen, sondern ein Musterbeispiel weiblicher Formen.
„Dann gehen wir am besten ins Lager, da stört uns keiner.“ Ohne zu zögern packte sie ihn an der Hand und zog den verblüfften Werner hinter sich her ins Lager.
„Zieh bitte dein Hemd aus, dann kann ich besser messen.“, sagte sie und er gehorchte. Er wirkte etwas schüchtern, war aber gespannt darauf, was nun passieren sollte. Marie begann ihn zu vermessen, die Maße schrieb sie sich auf. Sie genoss es sichtlich, seinen starken Körper zu berühren und merkte schnell, dass ihm dieses Spiel auch sehr gut gefiel, denn er machte willig mit.
Als sie fertig war, durfte er sein Hemd wieder anziehen. Das Papier mit den Maßen nahm sie, um in einer Größentabelle die richtige Größe für Jacke und Hose herauszufinden. Das mit der Hose war nicht schwer, aber bei der Jacke war das nicht so einfach. Irgendwo war immer etwas unpassend. Werner sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas nicht stimmte. „Was ist denn?“, fragte er. „ Laut meiner Tabelle hast du einen total unförmigen Körper, aber mir gefällst du!“ Da musste Werner lachen. „ Und was machen wir nun?“, fragte er. „ ich könnte dir die passende Jacke nähen, deine Maße hab ich ja. Du suchst dir eine Hose aus, und danach schneidere ich dir eine passende Jacke.“
„Wie lange würde das denn dauern, und was kostet es?“, fragte er. Marie überlegte kurz und meinte. „Nun, bis Donnerstag müsste ich es schaffen. Zahlen musst du nur soviel, wie die normale Jacke des Anzugs kosten würde, wenn du am Sonntag mit mir ausgehst.“ Werner war erleichtert. Er nickte heftig mit dem Kopf, denn er war einfach sprachlos. Dann gingen sie zurück ins Geschäft, wo er eine Hose aussuchte. Marie fand, dass er gut ausgesucht hatte, obwohl er keinerlei Erfahrung in solchen Dingen besaß. Werner zahlte für Hose und Jacke im voraus und versprach, die Teile zusammen am Donnerstag Nachmittag abzuholen.
Er konnte es kaum abwarten, bis endlich der Donnerstag kam. Nacht für Nacht wälzte er sich unruhig im Bett, während Marie in diesen Nächten die Jacke für ihn nähte. Sie tat es gern, sie stellte sich vor, der Stoff wäre Werners Haut, die sie berührte. Unsterblich hatte sie sich in ihn verliebt und Werner erging es ebenso. Pünktlich war die Jacke fertig, Werner war ganz nervös, als er zu dem Bekleidungsgeschäft ging, auch Marie blickte immer wieder zur Tür. Es war gegen fünfzehn Uhr, als er endlich ankam. Als Marie ihn sah, musste sie sich zusammenreißen, um nicht auf ihn zu zu rennen. Sie gingen wieder ins Lager, dort wollte Marie ihm die fertige Jacke präsentieren. Kaum hatte Marie die Tür geschlossen, schnappte Werner nach ihr, nahm sie in seine starken Arme und küsste sie. Marie war überwältigt und erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Seit diesem Tag waren sie ein Paar, zwei Jahre später heirateten sie. Sie zogen in ein schickes Mehrfamilienhaus. In diesem Haus wohnte auch ein Jude, der war bereits über 50, seine Frau war an der Grippe gestorben, die Kinder hatten eigene Wohnungen. Heilbronn hatte keinen großen Judenanteil und so ließen die Leute den Mann auch in Ruhe, aber 1942 erreichte der antisemitische Fanatismus auch diese schöne Stadt.
Werner und Marie Götz kannten ihn gut und als es hieß, alle Juden sollen aus der Stadt gebracht werden, boten sie ihm an, ihn vor der Verfolgung zu verstecken. Sie waren sich des Risikos bewusst und so baute Werner ein sehr gut getarntes Versteck, für den Fall, dass es zu Durchsuchungen kommen sollte. Es gab eine kleine Abstellkammer in der Wohnung. Vor diese stellte er einen wunderschönen Schrank mit allerlei Verzierungen dran. Wenn man an der linken Seite an einer der Verzierungen zog, so öffnete sich ein Riegel und man konnte den Schrank nach vorn wegdrehen und die Abstellkammer betreten. Den Riegel konnte man aber nicht von innen öffnen.
So konnten sie ihn gut verstecken. Auch mehrere Durchsuchungen überstanden sie. Die SS kam öfter, denn sie wussten, dass der Jude fehlte, er wurde nicht abtransportiert, ist nicht verreist und auch nicht gestorben. Niemand im Haus wusste wo er war. Bis zu Hitlers Geburtstag 1944.
Zahleiche Feste und Paraden wurden abgehalten und als der Oberkommandierende der SS verkündete:“Diese Stadt ist judenfrei!!, meldete sich ein betrunkener SS-Mann und rief: „Einen gibt’s hier noch und zwar in der Mühlenstraße 14!“
Hochrot im Gesicht rief der Oberkommandierende den Mann zu sich. „Ist das wahr?“, wollte er wissen. „Aber ja, dort wohnt ein Jude, der bis heute nicht gefunden wurde und ich verwette den Endsieg, dass er noch in diesem Haus ist.“ „Und warum wurde er noch nicht gefunden?“ „Weil ihr bei euren Durchsuchungen immer so einen Krach macht!“, sagte er. „Kommen Sie morgen neun Uhr in mein Büro, dann besprechen wir das.“
Am nächsten Morgen kam der Mann ins Büro. Ohne Umschweife kam er sofort zum Punkt: „Wenn Sie den Juden wollen, dann folgen Sie mir bitte.“ Der Oberst stutzte, tat aber keinen Widerspruch.
An dem betreffenden Haus angekommen, holte der SS-Mann Papier und ein Maßband heraus. „Was haben Sie vor?“ „Diese Wohnungen sind alle exakt gleich. Ich weiß das, denn ich habe hier mitgebaut. Wenn also eine Wohnung in den Maßen abweicht, haben wir das Versteck.“
Um keinen Verdacht zu erregen, gingen sie in die Wohnung des Juden, die ja nun leer stand, um sie zu vermessen. Die Maße trugen sie in eine Skizze ein. Dann begannen sie von unten nach oben alle Wohnungen zu überprüfen. Im dritten Stock wurden sie fündig. Eine Begehung der Räume genügte dem SS-Mann, der sofort bemerkte, dass die Abstellkammer fehlte. „ Hier haben wir das Versteck!“, sagte er ruhig. Der Oberst öffnete ein Fenster an der Straßenseite und rief zwei weitere SS-Männer mit Maschinenpistolen, die vor dem Haus gewartet hatten, nach oben. Bestürzt sahen Marie und Werner sich an. Sie ahnten, was nun kommt, blieben aber erstaunlich ruhig. Die eintreffenden SS-Männer sollten den Schrank beiseite schieben, was aber nicht gelang. Der Oberst nahm Werner und Marie mit in ein Nebenzimmer, dort hörten sie, wie die SS-Männer wie wild auf den Schrank einschlugen und diesen zerstörten, wodurch nun die Abstellkammer frei wurde. Als sie den Juden sahen, eröffneten sie sofort das Feuer, der Mann war auf der Stelle tot.
Werner und Marie wurden verhaftet, angeklagt und verurteilt, nun saßen sie in ihren Zellen, auf die Hinrichtung wartend.
Um siebzehn Uhr wurden sie abgeholt. Man verband ihnen die Augen, nicht einmal sich zu sehen war ihnen in ihrer letzten Stunde vergönnt. Sie wurden auf den Hof gebracht, sie standen vor der Mauer nebeneinander. Beide wussten, dass sie beisammen waren, obwohl sie sich nicht sehen konnten. Sie sagten nichts, denn was hätten sie sich auch sagen sollen. Seit dem Tag als sie sich kennengelernt hatten, waren ihre Worte durch den Zauber der Liebe versüßt, nie ist zwischen ihnen ein böses Wort gefallen.
Ein Schuss durchbricht die Stille.
Marie spürt keinen Schmerz, also ist sie auch nicht getroffen. Da durchzuckt es sie...WERNER!!!
Sie schreit innerlich, ist sich sicher, dass der Geliebte nicht mehr lebt und sinkt leise tot zu Boden.
Werner hingegen spürt die Kugel nur allzu deutlich in der Brust, knapp am Herzen vorbei ist sie in seinen Körper gedrungen. Nur ein Schuss, denkt er. Dann lebt Maria noch... Ich muss solange wie möglich mit Marie leben.
Die Zeit scheint still zu stehen. Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor. Doch die Lunge füllt sich mit Blut, er wird schwächer und stirbt.
Kurze Zeit später tritt ein Arzt zu den beiden, stellt ihren Tod fest. Als er zum Kommandanten nickt, sagt einer der beiden Schützen zu dem anderen, dessen Gewehr versagt hatte: „Zwei mit einer Kugel- Das glaubt mir keiner...“