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- 01.09.2005
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Dorfkinder
Marco fiel sofort auf, wie misstrauisch Strebost sie musterte, als sie aus dem Auto stiegen. Wahrscheinlich wollte er prüfen, ob sie eine Fahne hatten. Zwei Jungen und ein Mädchen, zu alt und gleichzeitig zu jung fürs Maislabyrinth. Keine Kinder mehr und noch keine eigenen Kinder. Lust auf Blödsinn nach ein paar Bier.
Strebost hielt die Hand auf, schwielig von der Feldarbeit.
„Fünfzig Cent pro Nase.“
Sie waren auf dem Weg nach Hannover gewesen. Lisas beste Freundin war in eine neue WG gezogen. Marco fuhr und hatte gerade erst an der Tankstelle angehalten. Lisa und Tim hatten einen Sechserträger Beck's Lemon und zwei Dosen Jim-Beam-Cola zum Vorglühen gekauft. Als ihre Finger an die Verschlüsse gingen und Marco gerade fragen wollte, ob die Dosen auch nicht geschüttelt waren, dass er nicht gleich alles auf den Sitzen hatte, zeigte Lisa aus dem Fenster und rief: „Alter, ein Maislabyrinth!“
Sie meinte ein Schild am Straßenrand. „Strebost's Maislabyrinth“ stand darauf.
Tim räusperte sich auf dem Rücksitz. „Geil.“
Lisa drehte sich mit strafendem Blick zu ihm um. „Ich hab Maislabyrinthe geliebt als Kind. In der Nähe von unserem Haus gab es sogar zwei.“
Tim zuckte die Schultern. „Jetzt sei doch nicht gleich so angepisst.“
„Du bist wahrscheinlich noch nie in einem Maislabyrinth gewesen.“
„Bin Stadtkind.“
Dass er da immer noch drauf bestand, dachte Marco. Tim war zwölf gewesen, als seine Eltern aus der Nähe von Köln hergezogen waren. Sein Vater war bei der Bundeswehr. Marschbefehl, vielleicht weil sie dachten, wenn es nochmal Krieg gab, dann gegen Kühe.
Es war kurz vor acht und gleich wurde es dunkel. Der Sommer ging zuende. Marco sah in den Rückspiegel. Hinter ihnen war nichts los. Mitten auf der Bundesstraße hielt er an.
Tim hatte die Finger gerade wieder am Verschluss seiner Dose. „Was soll das denn werden?“
Marco drehte den Kopf zu Lisa. „Wollen wir zurück und reingehen?“
Lisa streckte die Arme so weit, wie das Autodach es zuließ. „Jippie!“ Sie wollte wohl wie ein Kind klingen, eine Parodie, aber Marco sah, dass sie sich wirklich freute.
„Bitte was?“ Tim legte die Dose neben sich auf den Sitz. Seine Hände krallten sich in die Rückenlehnen der Vordersitze. „Ey, ich hab ganz neue Nikes, ich stapfe doch jetzt nicht über einen Acker.“
Lisa stöhnte. „Zieh sie eben aus und geh barfuß.“ Sie knibbelte am Muttermal links über ihrer Oberlippe. Meist tat sie das, wenn jemand ihre Geduld auf die Probe stellte.
„Das mache ich mit Sicherheit nicht“, protestierte Tim. „Ich warte im Auto.“
Gute Idee, dachte Marco. Stadtkind.
Dreimal fünfzig Cent. Ein Fünfziger, viermal zwanzig und zweimal zehn, Wechselgeld von der Tanke, Lisa gab einen aus. Strebost zählte nach und wünschte ihnen mit abgelenkter Stimme viel Spaß.
„Ihr seid die letzten heute.“ Er sah zum Himmel. „Wird dunkel. Habt ihr was zum Leuchten dabei?“
Lisa zog ihr Telefon aus der Hose. Sie machte die Taschenlampe an. Strebost nickte und warf die Münzen in das Sparschwein auf dem Picknicktisch, an dem er gesessen hatte, als sie vorgefahren waren. Darauf stand auch die rausgerissene Wand eines Kartons. Mit Filzstift war darauf gekritzelt: Raus in <20min = Geld zurück.
„Hey“, sagte Lisa und tippte das Schild an wie die Klingel an einer Rezeption. „Sie wissen doch noch gar nicht, ob wir das schaffen.“
Strebost schüttelte den Kopf. „Das schaffen die Dorfkinder, die jedes Jahr ein paar Mal durchlaufen. Ihr kommt nicht mal von hier. Sehe ich an eurem Nummernschild.“
Lisa verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sind aber auch Dorfkinder.“
„Die beiden.“ Tim blickte voller Sehnsucht zur Bundesstraße. „Ich nicht.“
Lisa schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und küsste ihn auf die Wange. Marco versuchte, woanders hinzusehen, aber es ging zu schnell.
Lisa packte Tim bei der Hand und zog ihn auf die Lücke im Mais zu, neben der noch ein Stück Karton mit der Aufschrift Eingang an einen Pfahl genagelt war, der im Boden steckte. Etwas weiter links kennzeichnete ein weiteres Schild eine weitere Lücke als „Ausgang“.
Lisa stoppte abrupt, als sie schon in den Stauden stand, und drehte sich zu Tim um. „Willst du die Schuhe jetzt ausziehen?“
Er zeigte ihr einen Vogel. „Nein. Sind ja nur knalleweiß, was soll passieren?“
„Wart doch echt im Auto“, schlug Marco vor. „Spart fünfzig Cent. Bei Penny ist das ein halber Liter.“
Tim winkte ab, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Ist egal.“
Er wurde in den Mais gezogen, in dem Lisa bereits verschwunden war. „Marco, komm!“, rief sie. Ihre Stimme klang so fern, dass Marco sich fragte, wie weit sie in ein oder zwei Sekunden gekommen war.
Er blieb allein vor dem Eingang zurück. Scheißegal. Eigentlich hatte er sowieso keine Lust mehr.
Du wolltest im Auto warten. Du und deine neuen Nikes.
Strebost räumte den Picknicktisch ab. Er hielt das Plastikschwein mit Sparkassenlogo in beiden Händen und sah davon zu Marco hoch. „So ist Troja untergegangen.“
Marco fuhr zusammen. Er hatte Strebost tatsächlich kurz vergessen. „Was?“
Strebost nickte in Richtung Mais. „Zwei Mann, eine Frau.“
Marco wollte fragen, was ihn das anging.
„Du musst hinterher.“ Strebost zeigte auf den Eingang. „Sonst sind sie weg.“
Blöder Bauer. Marco trat in den Mais und war überrascht, wie hektisch sich das anfühlte. Wie schnell er plötzlich sein wollte. Als ginge es hier um etwas. Fünfzig Cent haben oder nicht haben. War ja nicht mal sein Geld.
Sonst sind sie weg.
Wenn er sprang, bekam er den Kopf über den Mais. Er sprang höher als andere, hatte dieses Talent aber nie einem Ziel zuordnen können. Für Basketball fehlten Reaktionsschnelle und Kondition, außerdem konnte er nicht dribbeln. Mädchen damit zu beeindrucken, schien abwegig.
Ein Hüpfer reichte nicht, er musste in die Knie gehen und sich anstrengen. Gleich am Anfang hatte er es ein Mal ausprobiert. Er sah das Auto. Irgendwo meckerte Tim etwas mit seinen Schuhen. Lisa kicherte.
„Könnt ihr vielleicht mal warten?“
Wie weit ihre Stimmen schon weg waren. Rannten sie durch die beknackten Maisstauden?
Wieder ihr Lachen. Nur seinetwegen hatte Lisa diesen Spaß. Es wäre kindisch gewesen, darauf hinzuweisen, noch dazu auf diese Art, es durch den Mais zu rufen. Trotzdem zog er es kurz in Betracht.
Natürlich würde er es nicht tun. Er hatte ihnen auch noch nie die Feier zu seinem vierzehnten Geburtstag vorgehalten, ohne die sie sich nicht kennengelernt hätten. Auch darüber dachte er machmal nach. Das zu sagen. Vor allem betrunken. Deshalb fuhr er lieber.
Er kam auf eine T-Kreuzung zu und blickte links und rechts die Pfade hinunter.
„Wo seid ihr lang?“
„Marco?“
Lisas Stimme. Das war links gewesen. Oder? Er sprang hoch. Durch zehn oder mehr Reihen Maisstauden ging es zurück in Richtung Ausgang. Oder Eingang. Oder zumindest zum Parkplatz. Vielleicht doch in eine Sackgasse? Die Stimme. Das war links gewesen.
„Lisa?“
„Komm!“
„Ja!“ Tims Stimme. „Der Scheiß hier war quasi deine Idee, jetzt mach auch!“
Marco ballte die Faust. „Vielleicht bleibt ihr einfach mal kurz stehen? Dann müssen wir nicht durch den scheiß Mais schreien!“
Es kam nichts zurück. Marco stapfte nach links. Zum Fahren war er gut genug. Er war doch kein Idiot.
Doch, bist du. Sie haben einen gesucht und du hast gesagt: Hier bin ich.
Er hatte ein paar mal Gras geraucht, mit fünfzehn, sechzehn. Das und Dosenstechen, viel mehr gab es nicht, solange man dort, wo er aufgewachsen war, noch kein Auto hatte.
Gras hatte ihm nie viel gegeben. War auch zu teuer. Mit dem Geld für ein Gramm konnte man bei Penny eine Palette kaufen. Und die Wirkung erst. Der eklig trockene Mund, die weichen Beine ... Auf dem Fahrrad verloren die schnell ihren Unterhaltungswert. Dann dieses dämliche Gefühl: Habe ich das gerade gesagt oder nur gedacht?
So fühlte er sich jetzt. Als hätte er gekifft.
Du hast gesagt: Hier bin ich.
Hatte er das gedacht oder hatte es jemand gesagt? In seinem Kopf? Im Mais?
Er kam auf die nächste Kreuzung zu. Diesmal ging es außer rechts und links auch geradeaus weiter.
„Das wäre auch eine scheiß Idee gewesen, hier zu warten“, sagte Marco. „Ich hätte sonst wissen können, wo ihr lang seid, ihr Vollpfosten.“
Es gab Fußabdrücke in der Erde, aber es waren zu viele. Und ob sie nun gerade erst gemacht worden oder ein paar Stunden alt waren, wie sollte er das wissen? Er war ja kein Indianer.
Vielleicht wollen sie gar nicht, dass du hinterherkommst. Schon mal drüber nachgedacht, du Vollpfosten?
Diesmal fuhr er herum. Eigentlich nur, um sich zu vergewissern, dass da niemand war. Aber tatsächlich bewegte sich etwas auf dem Boden. Marco machte einen Satz zurück.
„Scheiße!“
Der Igel stoppte, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt. Vielleicht wartete er auf einen Angriff. Als nichts geschah, tippelte er weiter, verschwand zwischen den Stauden.
Marco rieb sich die Brust. Er hätte jetzt gern eine Zigarette gehabt, aber die Schachtel lag auf dem Rücksitz.
„Sieh zu, dass du weg bist, wenn die Mähdrescher kommen.“ Der Igel ließ sich kein zweites Mal beirren. „Aber musst du wissen.“
Marco stand jetzt mitten auf der Kreuzung. Nicht mal mehr ihre Stimmen konnte er hören. Langsam wurde es dunkel. Wie früh es jetzt wieder dunkel wurde. Wo waren die langen Tage hin, wo waren der Mai und der Juni geblieben? Ganz zu schweigen von seinen Freunden? Wo waren die?
„Ey!“
Toller Abend. Hätte er Lisa nicht einen Gefallen tun wollen ...
Das war's mit Gefallen. Er beschloss das, hier und jetzt. Dennis Heine hatte es vor zwei Jahren zu ihm gesagt, bei der Sportwerbewoche, nach vier Fanta-Korn: „Man sieht das schon, dass du ihr hinterherläufst. Und das ja auch nicht erst seit gestern. Seit der Grundschule? Überleg mal. Tausend Jahre. Und jetzt mit Tim, die kommen ja schon ganz gut miteinander aus. Um nicht zu sagen, du weißt, was ich meine. Knick, knack. Irgendwann siehst du wie der letzte Affe aus. Aber musst du wissen.“
Was er jetzt wissen musste, war, wo es aus diesem scheiß Feld rausging. Er erinnerte sich an einen Schüleraustausch nach London. Big Ben und die Türme von irgendwelchen Banken. Wenn man einen solchen Punkt fixierte, konnte man sich gar nicht wirklich verlaufen, egal, wie verwinkelt die Gassen waren. Merkt euch das, hatte der Lehrer gesagt. Nur für den Fall.
Marco sprang wieder, warf einen verwackelten Blick auf endlosen Mais. Das war diese Richtung. Er räusperte das Erschrecken weg. Lachte, obwohl nichts lustig war. Kalt war es gewesen im Nacken, kurz.
Er hatte mit dem vorderen Teil gerechnet, Ein- und Ausgang, sein Auto. Sein Big Ben. In weiterer Entfernung jetzt, aber noch da. Stattdessen sah er Mais, nichts als Mais. Somit war das Labyrinth eben besser, als er zunächst gedacht hatte. Wer wusste, wie oft er hier drin schon die Richtung gewechselt hatte, ohne es zu merken? Er drehte sich um neunzig Grad und sprang.
Mais. Überall und endlos. Die Sonne würde gleich darin versinken.
Neunzig Grad und der nächste Sprung. Wieder nichts als ...
Der Kopf, der über den Stauden schwebte, war weit weg. Deshalb sprang Marco noch mal. Es konnte schließlich kein Kopf sein. Er wollte wissen, was es wirklich war. Was da ausgesehen hatte wie der Kopf eines Mannes mit langen Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen.
Aber beim nächsten Sprung war er war immer noch da. Er schwebte auch nicht, er steckte auf einem Körper, so groß, dass er ihn über die Stauden hinweghob. Was bedeutete, wenn Marco mit seinen knapp über zwei Metern springen musste ...
Der Kopf näherte sich. Auch deshalb hatte Marco ihn beim zweiten Sprung ein bisschen besser erkannt. Ein Mann bewegte sich auf ihn zu. Ein fast drei Meter großer Mann kam auf ihn zu.
Big Ben, schoss es Marco durch den Kopf.
Ein Riese wie im Märchen. Jack und seine Kletterpartie die Bohnenranke hinauf hatten ihn als Kind Wochen an Schlaf gekostet. Fee! Fie! Foe! Fum!
Ich rieche Menschenfleisch!
Er wusste sowieso nicht mehr, wo es lang ging. Nur die Richtung, aus der Big Ben kam, hatte er sich gemerkt. Der Mais dort hinten raschelte, ganz ohne Wind. Das Rascheln wurde lauter.
Marco lief in die entgegengesetzte Richtung. Ob tiefer in den Mais oder näher an den Parkplatz, war jetzt erst mal egal.
Nach einer Weile stoppte er. Nein, er musste stoppen, weil seine Lungen sich anfühlten, als atmete er Zitronensäure. Lange dauerte es bis dahin nicht. Scheiß Zigaretten. Er versuchte, leise zu atmen und auf das Rascheln im Mais zu hören. Es war still. Er hatte Big Ben abgehängt. Den Riesen aus dem Labyrinth. Wahrscheinlich war es ein Freund von Strebost auf Stelzen. Eine kleine Dreingabe für ein bisschen mehr Nervenkitzel.
Er hat sich nicht bewegt, als wäre er auf Stelzen.
Marco ging ein Stück. Langsam, um wieder Luft zu bekommen. Er spuckte aus. Speichel hatte sich in seinem Mund gesammelt. Er dachte an die kalte Cola, die er bei der Party trinken wollte, und wie er lachen würde über das hier, in der hellen, lauten Küche mit all den Leuten und Musik.
Aber noch war es still und dämmerig und die nächste T-Kreuzung lag vor ihm. Wieder fühlte sich nach links richtig an. Warum auch immer. Sein innerer Kompass war ein Fall für Ebay, mit dem Vermerk „Defekt, nur für Bastler“. Als er um die Ecke bog, dachte er gerade daran, er könnte im Wissen um seinen nutzlosen Orientierungssinn auch einfach nach rechts gehen, da sah er ihn und der Anblick pustete die Gedanken aus seinem Kopf wie ein Laubbläser die Blätter von der Straße.
Big Ben stakste über eine Kreuzung in zehn oder zwanzig Metern Entfernung. Marco presste die Lippen aufeinander, um nicht aufzuschreien. Da waren keine Stelzen, keine Tricks, kein doppelter Boden. Der Riese war ein Riese war ein Riese. Was jetzt, Jack?
Er schlich rückwärts wieder um die Ecke, und das letzte, was er sah, war der von wirren Haaren umhangene Kopf, der sich in seine Richtung drehte.
Aber das war nur Einbildung gewesen. Es musste so sein, denn es kamen keine Schritte näher. Big Ben war weitergegangen. Sonst würde er auch schon den Kopf über den Stauden sehen.
Es schien wirklich ein Bauer zu sein, ein Freund von Strebost. Marco hatte eine grüne Latzhose erkannt und Gummistiefel. Die Beine waren viel zu lang und die Arme gingen ihm bis zu den Knien. Die Hose hatte Hochwasser. Wen die Natur so gebaut hatte, der hatte keine Wahl. Tagsüber Landwirt, abends Erschrecker im Mais-Labyrinth.
Das reichte jetzt. Musste er sich denn wirklich von allem und jedem verarschen lassen? Nicht mehr.
Marco machte entschlossene Schritte wieder zurück zur Ecke. Wenn er dahinter den Riesen auf sich zukommen sah, sollte es so sein. Wahrscheinlich hatte der Depp sich albern geschminkt oder trug eine Maske. Ein kurzes Buh! und dann lachten sie zusammen und dann war dieser Mist vorbei.
Trotzdem hatte Marco eine Bassbox in der Brust und sein Mund war trocken wie beim Kiffen und er schrie, als er um die Ecke trat und jemand auf ihn zulief und dabei zurücksah und ihn deshalb umrannte.
Lisa schrie auch, als sie auf ihm lag. Schrie und schlug nach ihm und erwischte ihn im Gesicht mit dem Schuh, den sie umklammert hielt. Er bekam ihre Arme zu fassen.
„Lisa!“
Ihre Augen. Sie trug wenig Make-up und das bisschen war verschmiert. Sie hatte geweint.
„Ich bin's!“
Sie drehte sich um, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Jetzt fiel Marco der Geruch auf, der ihr anhaftete. Auf ihrer Jeans prangte ein Fleck im Schritt.
Ihr Kopf fuhr wieder herum zu Marco. „Hast du ihn gesehen?“
Marco drückte sie sanft von sich, stand auf und half ihr hoch. „Den großen Typen?“
Jetzt erkannte er, was sie da fest umklammert hielt. Ein weißer Nike. Dreckig, aber neu.
„Wo ist Tim?“
Der Schuh in ihrer Hand zitterte. Sie sah ihn an und wieder zu Marco. „Er hat ihn in den Mais gezogen. Ich hab ihn an den Beinen gehalten, aber er war zu stark.“ Sie schluchzte. „Er hat so geschrien.“
Warum habe ich das nicht gehört?
„Hast du sein Gesicht gesehen? Von dem großen Typen?“
Sie nickte erst und schüttelte dann den Kopf. „Er guckt ganz freundlich, die ganze Zeit. Sogar, als Tims Arm geknackt hat.“
Schock. Es gab keinen Sinn, weiter zu fragen. „Lass uns raus und die Polizei rufen.“
Sein Handy lag im Handschuhfach. „Oder warte, du hast dein Telefon doch mit reingenommen!“
Lisa schüttelte den Kopf. „Es gibt hier keinen ...“
Sie zog es aus der Tasche und zeigte es ihm. „Es gibt Empfang, aber wenn ich Polizei wähle, sagt eine Frau, die Nummer gibt es nicht.“
Marco dachte, er hätte sich verlesen. Er machte die Augen auf und wieder zu. Wo Vodafone stehen sollte, stand Minokom.
Er wählte 110. Hörte, was Lisa gehört hatte. Er gab ihr das Telefon zurück. An dieser Stelle kamen sie nicht weiter. Minokom?
„Habt ihr mich nicht rufen hören?“
„Du klangst, als wären wir unter Wasser. Ich hab was im Mais gesehen und es Tim gesagt und er meinte nur Blödsinn und ist da hin. Er hat geschrien und ich war sauer, weil ich dachte, er verarscht mich und tut so, als würde er in den Mais gezogen. Aber er wurde wirklich reingezogen. Von diesem großen Kerl. Der hockte da, als würden wir verstecken spielen.“
Marco nahm ihre Hand. „Lass uns raus. Wir finden Tim. Und den Strebost draußen nehmen wir uns auch vor.“
„Du glaubst, er lebt noch?“, fragte sie. „Tim?“
Marco zog sie vorwärts, in irgendeine Richtung, Hauptsache weg. „Lass uns.“
Sie fanden Tim nicht. Marco verlor den Glauben daran auch sehr schnell. Er spürte Lisas Hand in seiner zittern und er roch ihre Angst. Sie hatte sich bepinkelt wie ein Kleinkind, als Big Ben Tim geholt hatte. Er wollte zurück auf die Straße und nie wieder im Leben Mais sehen. Er würde auch keinen mehr essen. Etwas von Tim musste jetzt in diesem Mais sein, aufgesogen vom Boden und von da in die Wurzeln. Die Frage war, ob die Körner nun nach Stadt- oder nach Dorfkind schmeckten.
„Scht“, machte Lisa, stoppte und hielt ihn fest.
Marco drehte sich um. Lisa sah nach oben, zu den Spitzen der Stauden.
„Ich höre ihn“, flüsterte sie.
„Es ist ein bisschen windig geworden“, sagte er. „Das raschelt. Das ist er nicht.“
Er fragte sich, wie lange sie schon durch dieses Feld liefen. Eine Stunde, zwei? „Hast du genug Akku? Wir brauchen gleich irgendwann die Taschenlampe in deinem Handy.“
Lisa schüttelte den Kopf. „Das sieht er doch.“
Marco atmete ungeduldig ein. „Ein bisschen haben wir ja noch, bis es ganz dunkel ist. Wir beeilen uns.“
Das bisschen, das sie hatten, war schnell aufgebraucht. Kurz vorher war Marco noch einmal gesprungen. Da war nur Mais gewesen, der ganze Planet bestand jetzt daraus. Dunkler Mais. Die Sonne war weg.
Lisa schluchzte wieder. In der Zeit vor diesem Feld hätte Marco alles gegeben, um so lange ihre Hand zu halten, wie er es heute Abend getan hatte. Jetzt brannte ihr gelber Gestank in seiner Nase. Wie sollte er sich so konzentrieren?
„Hör auf“, sagte er.
Sie schluchzte weiter.
„Bitte.“
Er ließ ihre Hand los. „Lisa, hör auf. Das hilft jetzt nicht. Außerdem hört er dich vielleicht.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ist mir egal.“
Ein Feuer brannte Marcos Eingeweide hinauf bis in die Augen. „Ist dir egal? Und was ist mit mir?“
Sie machte einen Schritt zurück. „So habe ich das nicht gemeint.“
Er atmete jetzt durch den Mund, um sie nicht zu riechen. „Ich weiß“, sagte er. „Tut mir leid. Aber du wolltest unbedingt ...“
Der Rest des unfertigen Satz rauschte ihm über die Lippen wie ein ICE über die Gleise, wenn man im kleinen Bahnhof ihrer kleinen Stadt stand, wo ein ICE nicht hielt. Man konnte nur dastehen und zugucken. Rumms, und es war passiert. Lisas Kinnlade klappte nach unten, wie bei einer Schlange, die sich den Kiefer ausrenkt, um eine Maus zu fressen.
„Du ...“
„Warte“, sagte er. „Lisa. Ich-“
Ein Schrei. Es klang gar nicht so weit weg, aber es klang nicht menschlich. Jedenfalls in seinen Ohren.
„Das war Tim!“, sagte Lisa.
Marco schüttelte den Kopf. „Das war eine Krähe oder sowas.„
„Spinnst du?“Lisa schlug ihm gegen die Brust. „Das war Tim!“
„Lisa, Tim ...“
Tim was? Er wusste es nicht, fürchtete aber, dass es noch dem ersten Knack noch ein paar mehr gegeben hatte. Knick, knack.
Lisa sah ihn an, als säßen sie im Matheunterricht. Als wäre der Groschen gefallen.
„Du willst ihm nicht helfen“, flüsterte sie. „Darum sind wir hier. Du wusstest, dass das passiert.“
„Was?“ Marco legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie zog zurück.
„Lisa, ich glaube, es ist das Feld. Du würdest das sonst nicht sagen. Ich denke auch die ganze Zeit Sachen ...“
Ein zweiter Schrei. Diesmal klang es nicht wie eine Krähe, nicht mal mit viel Fantasie. Es klang nach Stadtkind.
Lisa schrie Tims Namen und lief mitten ins Feld.
„Lisa!“ Marco umklammerte zwei Stauden wie ein Sträfling die Gitterstäbe seiner Zelle. „Komm zurück, bitte!“
Anstelle einer Antwort kamen weitere Schreie, diesmal von ihr. Marco wollte gerade loslaufen, auf die Schreie zu, da verstummten sie. Stattdessen kamen jetzt Schritte durch den Mais auf ihn zu. Schnelle, weite Schritte. Er musste nicht springen, um zu wissen, wer das war. Er drehte sich um und rannte auf der anderen Seite des Labyrinthweges in den Mais.
Mitten durch. Die Blätter der Maispflanzen peitschten sein Gesicht. Einmal schnitt er sich sogar. Hinter sich hörte er die Schritte. Der Kopf über dem Mais, der alles in seinem freundlichen Blick behielt. Hatte er Lisa wirklich zurückgelassen?
Hast du.
Er wollte schreien, lass mich in Ruhe, und er meinte Big Ben damit, aber auch sich selbst, die Stimme im Mais, die Stimme in seinem Kopf. Es spielte keine Rolle, er bekam die Luft zum Schreien ohnehin nicht zusammen. Big Ben war schnell. Marco hörte ihn jetzt atmen. Er spürte eine Hand in seinem Rücken. Trotz all der fehlenden Luft und der Schmerzen in der Brust schaffte er es jetzt. Er schrie.
Strebost kratze sich am Hinterkopf. „Alles in Ordnung?“
Marco drehte sich um. Er war ein paar Meter neben dem Eingang aus dem Feld gekommen.
„Bist du mitten durch gelaufen?“ Strebost schürzte die Lippen. „Das ist geschummelt.“
Marco ging rückwärts, behielt das Feld im Blick.
„Der Riesenkerl“, sagte er. „Meine Freunde sind noch drin.“
Strebost kniff die Augen zusammen. „Du hast da drin doch kein Hasch geraucht oder sowas?“
Zur Antwort sah Marco ihn nur an. Strebost zuckte die Schultern.
„Jedenfalls haben die anderen beiden fair gespielt. Die sind nicht mitten durch. Wenn ihr gewettet habt, hast du verloren.“
Er zeigte zum Auto. Dort standen sie. Lisa winkte Marco ran.
Er ging hin, ohne sich von Strebost zu verabschieden. Der Mais hatte ihn verarscht. Er sah jetzt aus wie der letzte Affe.
„Du hast ewig gebraucht“, sagte Tim. „Und beschissen hast du auch.“
„Können wir?“, meinte Lisa.
Marco sah zum Feld, zum Himmel, auf seine Schuhe. Er lachte.
„Alles okay?“, fragte Lisa.
„Kein Stück“, sagte er. „Aber ist egal.“
Er stieg ein, wartete auf die anderen beiden und startete den Wagen.
Sie fuhren eine Weile schweigend durch die junge Nacht. Marco bog ab auf die A2.
„Warum so still?“, fragte Lisa.
„Nichts.“ Im Rückspiegel traf sein Blick den von Tim. Er drehte den Spiegel so, dass das Augenpaar daraus verschwand.
„War doch supi.“ Lisa ließ die Hände auf die Schenkel klatschen. „Oh! Du blutest.“ Sie strich sich mit dem Finger über die Wange und knibbelte bei der Gelegenheit kurz an ihrem Muttermal.
„Nicht schlimm“, sagte Marco.
Er drückte das Gaspedal durch und zog von der Überholspur rüber, tunkte den Finger ins Blut an seiner Wange und betrachtete das Ergebnis. Nicht viel zu erkennen in der Dunkelheit.
Lisas Muttermal. Er wollte es noch ein Mal ansehen, zwang sich sich aber, es nicht zu tun.
Es war rechts über der Oberlippe.