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Drachen steigen lassen
Einer der letzten warmen Spätsommertage; der Wind wurde schon kräftiger und kündigte den Herbst an.
Stefan, mein Neffe, war gerade sechs Jahre alt geworden. Ich hatte ihm einen Drachen mitgebracht, und wir gingen gemeinsam auf den Hügel hinter der Wohnsiedlung, um ihn steigen zu lassen: einen bunten Vogel mit in der Luft flatternden Fortsätzen am Schwanz.
Am Anfang war Stefan arg vorsichtig, gab dem Vogel nur wenig Leine, zog ihn immer wieder dicht an sich heran, wenn er den Eindruck hatte, der Wind treibe ihn zu heftig fort.
„Lass ihm ruhig etwas mehr Raum“, ermutigte ich ihn. „Du kannst ihn ruhig noch höher steigen lassen, du verlierst ihn schon nicht.“
Eher widerstrebend gab Stefan mehr Leine, und der Wind zog den Drachen mit sich in die Lüfte.
„Siehst du, jetzt fliegt er noch viel stabiler als vorher!“
„Wie ein Vogel“, meinte Stefan.
„Genau, wie ein Vogel.“
Er gewann Freude daran, den Drachen höher und höher steigen zu lassen. Bald war er am Ende des Nylonseils angekommen. Der Wind böte immer wieder kräftig auf und zog an seiner Hand.
„Gut festhalten!“
Stefan schaute mich an, ein spitzbübisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Mit der nächsten Böe öffnete er plötzlich die Hand, der Griff verschwand nach oben, der Drachen gewann deutlich an Höhe und entschwand über unseren Köpfen.
„Das war jetzt nicht so klug“, meinte ich zu ihm. „Den kriegen wir wohl nicht wieder zurück.“
Stefan schaute dem Drachen nach, lehnte sich an mich, um noch bequemer nach oben schauen zu können. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.
„Aber schön ist das schon.“