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Drachen steigen lassen

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12.01.2007
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Drachen steigen lassen

Einer der letzten warmen Spätsommertage; der Wind wurde schon kräftiger und kündigte den Herbst an.

Stefan, mein Neffe, war gerade sechs Jahre alt geworden. Ich hatte ihm einen Drachen mitgebracht, und wir gingen gemeinsam auf den Hügel hinter der Wohnsiedlung, um ihn steigen zu lassen: einen bunten Vogel mit in der Luft flatternden Fortsätzen am Schwanz.

Am Anfang war Stefan arg vorsichtig, gab dem Vogel nur wenig Leine, zog ihn immer wieder dicht an sich heran, wenn er den Eindruck hatte, der Wind treibe ihn zu heftig fort.

„Lass ihm ruhig etwas mehr Raum“, ermutigte ich ihn. „Du kannst ihn ruhig noch höher steigen lassen, du verlierst ihn schon nicht.“

Eher widerstrebend gab Stefan mehr Leine, und der Wind zog den Drachen mit sich in die Lüfte.

„Siehst du, jetzt fliegt er noch viel stabiler als vorher!“

„Wie ein Vogel“, meinte Stefan.

„Genau, wie ein Vogel.“

Er gewann Freude daran, den Drachen höher und höher steigen zu lassen. Bald war er am Ende des Nylonseils angekommen. Der Wind böte immer wieder kräftig auf und zog an seiner Hand.

„Gut festhalten!“

Stefan schaute mich an, ein spitzbübisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Mit der nächsten Böe öffnete er plötzlich die Hand, der Griff verschwand nach oben, der Drachen gewann deutlich an Höhe und entschwand über unseren Köpfen.

„Das war jetzt nicht so klug“, meinte ich zu ihm. „Den kriegen wir wohl nicht wieder zurück.“

Stefan schaute dem Drachen nach, lehnte sich an mich, um noch bequemer nach oben schauen zu können. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.

„Aber schön ist das schon.“

 
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Hallo michabln,

du beschreibst einen jener kleinen Momente des Lebens, in denen viel Größe und Intensität stecken kann, wenn man denn in der Lage ist, dies zu erkennen.

Dass du die Gabe hast, solche Entdeckungen zu machen, beweist du durch deine Geschichte.

Dieser Moment wird dadurch bedeutsam und lohnt sich, festgehalten zu werden, weil der kleine Neffe loslässt, dem Drachen die Freiheit gibt. Ich erinnere mich daran, dass diese Vorstellung immer der für mich größte Reiz beim Drachensteigenlassen war: einfach loszulassen. Hab mich nur nie getraut.

Eine schöne kurze Geschichte, in der jedes Wort sitzt, stimmungsvoll und warmherzig erzählt. Gefällt mir sehr gut.

Grüße von Rick

 

Hallo michabln

kann mich Ricks Meinung nur anschließen. Die wenigen Zeilen sind einfach stark. Da steckt Kraft hinter und man sieht den Drachen jubelnd in die Lüfte entkommen. Und man möchte mitjubelnd.
Umso beeindruckende rist die GEschichte, wenn man dem dein vorhergegangenes Posting entgegenhält. Zwei Welten, die nicht unterschiedlicher sein könnten.Obwohl beide Geschichte irgendwo von der Freiheit erzählen...

„Den kriegen wir glaube ich nicht wieder zurück.“
diesen Einschub musst du in Kommas betten

Schön finde ich auch den letzten Satz, da man nicht genau weiß, von wem er stammt. Könnte von beiden kommen...

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Rick + weltenläufer,

vielen Dank für's Lesen und die Rückmeldungen - freut mich, daß der Text so gut bei Euch angekommen ist. Schön auch, daß die Nicht-Zuordnung des letzten Satzes verstanden wurde :-)

LG Michael

 

Hallo michabln,

ich war nie gut darin, Drachen steigen zu lassen. Meist haben sich die Schnüre verheddert oder der Drache kam aus anderen gründen schnell wieder auf die Erde zurück. Ob er sich also tatsächlich so in die Lüfte heben könnte, dass er nicht wieder zurückkommt, weiß ich nicht.
Es ist aber auch egal, denn es geht um Wesentlicheres, nämlich nicht nur ums Loslassen, sondern um die Freude am Loslassen und Freiheit gewähren. In diesem Falle am Eigentum. Wie viel wichtiger ist diese Freude noch in Freundschaft und Liebe?
Insofern schließe ich mich dem Lob von Rick und weltenläufer unumwunden an.

Lieben Gruß, sim

 

sim schrieb:
Insofern schließe ich mich dem Lob von Rick und weltenläufer unumwunden an.
Ich mich auch, das ist so eine Geschichte die ich gerne selbst geschrieben hätte. ;-)
Genau das mag ich nämlich, so kurze Alltagsgeschichten, die einen Moment zeigen, der einerseits alltäglich ist, in dem andererseits aber viel Emotionen und Intensität stecken. Mit einfachen Worten beschrieben, nicht verschnörkelt oder gestelzt, sondern ruhig und atmosphärisch. Beim letzten Satz hab ich erst nochmal nachgelesen, ob man ihn zuordnen kann, eine gute Doppeldeutigkeit.

Ginny

 

Schön, wenn ein Sechsjähriger wirklich loslassen und sich darüber freuen kann.
Und noch schöner, wenn Erwachsene dies verstehen und bekräftigen.

LG

Jo

 

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