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Du kannst das nicht
Genau in dem Moment, als die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.
Die Inhaberin der Boutique kommt mir entgegen, als hätte sie schon den ganzen Tag auf mich gewartet. Ihr Lächeln ist warm, es umarmt mich. „Ah, die Frau Brandt! Schön, Sie zu seh'n.“
„Wollte wieder mal schauen, was Sie so Neues haben.“
„Die ersten Frühjahrsmodelle sind gestern eingetroffen. Tolle Kollektion.“ Frau Winter zeigt mit einer ausladenden Geste zum Kleiderständer im Fensterbereich, ihre silbernen Armreifen klimpern.
Meine Handtasche stelle ich auf dem Sessel ab, ich brauche freie Hände. Ich will die Teile anfassen, bevor ich sie auf meinem Körper spüre, bevor ich sie aus dem Laden trage.
Frau Winter reicht mir noch den gerade geschnittenen Rock und die türkisfarbene Georgettebluse in die Umkleide, dann wartet sie in meiner Nähe. Heute ist sie nur für mich alleine da. Kaum habe ich das rote Etuikleid übergestreift, geht es los: Mein Körper kribbelt, als wäre er von einer Ameisenarmee besetzt, und mir ist so heiß, als hätte ich das Gift der Biester schon im Blut. Zögerlich schiebe ich den Vorhang beiseite, trete ins Rampenlicht und präsentiere mich.
Sie nickt anerkennend. „Steht Ihnen ausgezeichnet.“
Ich genieße ihre Blicke, schreite vor dem Spiegel auf und ab, wiege mich dabei leicht in den Hüften. Dann breite ich die Arme wie Schwingen aus und drehe mich zu den Walzerklängen, die den Raum unvermittelt fluten. Ich kann fliegen. Ich schwebe, ich lebe, ich bin schön.
Wie durch Watte dringt die Stimme zu mir: „Fällt klein aus! Ich war so frei und hab mal die nächste Größe geholt.“ Sie will mir den Fummel aufdrängen, das Geklimper der Armreifen übertönt die Musik.
Vergiss es! Verräterin! Die achtundvierzig zieh' ich nicht an! „Nein, nicht nötig“, sage ich und ziehe den Bauch ein. „Ich mach gerade eine Diät.“
Frau Winter legt die Stirn in Falten und streicht fast liebevoll über den gespannten Stoff in meinem Rücken, als müsse sie das, was sie sieht, durch ihren Tastsinn bestätigen. „Wie Sie möchten, Sie entscheiden.“
Die zweite Tragetasche platzt gleich aus allen Nähten, während Frau Winter sich bemüht, den Pulli unterzukriegen, den sie mir vor wenigen Augenblicken noch ausreden wollte.
Etwas betreten sagt sie, nachdem sie die Summentaste gedrückt hat: „Ist ganz schön was zusammengekommen. Sie möchten sicher mit Karte zahlen?“
Die Ziffern auf dem Display verschwimmen vor meinen Augen, indessen fummle ich die ec-Karte aus meiner Börse und überreiche sie mit erhobenem Kopf. Wird schon gut gehen!
Mit einem Mal tobt ein Orkan in meinem Schädel. Mein Vater ist bei mir, er kommt immer mit dem Sturm. Er lächelt milde und flüstert, so dass Frau Winter ihn nicht hören kann: „Aber, aber Prinzessin, das kannst du doch nicht machen.“ Und ob! Du solltest mal sehen, wie souverän ich einkaufe.
Ich kaue auf der Unterlippe und hoffe darauf, dass das Brausen und Rauschen verschwinden möge, damit ich Frau Winters Worte verstehen kann. Aber das muss ich nicht, ich beherrsche die Kunst des Lippenlesens. „Zahlung nicht möglich.“ Bedauernd zuckt sie mit den Achseln.
Mit hängenden Schultern schleiche ich die Treppe zu meiner Mansardenwohnung hinauf. Mit jeder Stufe wiegen die Tüten schwerer und die Henkel ätzen sich wie Säure in die Handflächen. Oben empfangen mich leere, kalte Räume.
Sofort verstaue ich die Taschen im Kleiderschrank, schiebe sie weit nach hinten, dorthin wo es finster ist. Dorthin, wo sich andere Beutel und die ungeöffnete Post türmen. Dann schlurfe ich in die Küche, öffne den Kühlschrank, schließe ihn wieder.
Ohne zu wissen, was ich tue, trete ich auf den schmalen Balkon hinaus, umklammere das Geländer und schaue lange in die Tiefe, betrachte den trostlosen Innenhof. Lautlos legt sich die Abenddämmerung auf die Dächer der Altstadt.
Ich sollte froh sein, dass alles so gut funktioniert hat, aber es will sich keine Freude einstellen.
Frau Winter hat den Magnetstreifen meiner Karte gründlich poliert und gesagt: „Ich probier’s noch mal.“ Dann konnte sie den Zahlungsvorgang abschließen. Mit meiner Unterschrift besiegelte ich den Pakt, malte den Namen einer mir Fremden mit krakeligen Buchstaben aufs Papier: Gesine Brandt.
„Viel Freude an den neuen Sachen“, rief sie mir noch nach. „Und alles Gute für Sie.“
Mich fröstelt, der Kühlschrank fällt mir wieder ein. Da ist noch ein Rest Apfeltorte und Salamipizza von gestern. Ich reiße die Packung Schnittkäse auf. Stoße die Schale mit den Tomaten um, sie kullern über den Küchenboden. Ich lecke Thunfischsalat von den Fingern und schiebe mir Kochschinken in den Mund. Ich schmecke nichts, aber ich stopfe weiter. Es fühlt sich alles so unwirklich an. Mir ist, als würde ich neben mir stehen und einer Irren beim Fressen zuschauen.
Langsam lasse ich mich auf die Knie fallen, dann trommle ich mit den Fäusten auf die Fliesen.
Kein Schmerz.
Die alte Dame sieht mich provozierend über den Rand ihrer Brille an. „Drei Paracetamol bitte!“
Ich komme mir wie in einem Theaterstück vor, in dem jeder seinen vorgegebenen Text so überzeugend wie möglich herunterbetet. „Drei Packungen darf ich nicht aushändigen“, zische ich. Sie lächelt allwissend und schaut mich weiter eindringlich an. „Es ist Ihnen bekannt, dass das Mittel die Leber schädigen kann?“ Ich drücke meinen Rücken durch.
„Natürlich. Schließlich fragen Sie mich das ja jede Woche, Kindchen. Sie wissen doch, ich bin über achtzig. Was interessieren mich da Nebenwirkungen. Hauptsache, ich bin die Schmerzen los.“ Geduldig wartet sie, bis ich drei Packungen über den Tresen schiebe.
Im Gegenzug legt sie mir zwanzig Euro auf die Glasplatte und schmunzelt zufrieden. „Stimmt so! Bis bald.“ Während sie zur Tür humpelt, schüttelt sie ihr ergrautes Haupt und murmelt: „Leberschäden.“
Ich schaue nach hinten ins Labor, vom alten Wiegand keine Spur. Ich lausche. Die Gelegenheit bietet sich nicht alle Tage. Schnell lasse ich den Schein in meiner Kitteltasche verschwinden. Bis zur Jahresinventur muss ich hier weg sein.
Vater würde toben, sollte ich den Job hinwerfen, wo er sich doch so ins Zeug gelegt hat, um sein einziges Töchterchen in der Apotheke seines alten Schulfreundes Manfred Wiegand unterzubringen.
Kräftige Hände legen sich auf meine Schultern, fast hätte ich vor Schreck aufgeschrien. Ob er mich beobachtet hat? Der Druck verstärkt sich. Ich erstarre und denke an das Kaninchen, das im Angesicht der Schlange bewegungsunfähig wird. Ich will kein Kaninchen sein.
Die Hände beginnen zu wandern, mit kleinen kreisenden Bewegungen massieren sie meine Oberarme. Das ertrage ich kaum. Ich möchte den alten Grabscher ohrfeigen, stattdessen winde ich mich seitlich aus der Umklammerung und stottere: „Die Bestellung muss noch abgeschickt werden.“ Ich taumle zum Computer.
Wiegands Bass verfolgt mich: „Ich mag üppige Frauen.“
Ich spüre, wie mich seine Blicke langsam entkleiden und fühle mich so machtlos, seinen Klauen völlig ausgeliefert. Ich bin dick. Ich bin nackt, ich bin durchsichtig.
Die Schrift auf dem Monitor verschwimmt vor meinen Augen.
„Gesine, Gesine, rollt wie ’ne Lawine!“ Das Geschrei meiner Mitschüler donnerte über den Pausenhof. Am lautesten brüllte Heiko Töppel. Sein Grinsen werde ich nie vergessen. Obwohl er mich nie angefasst hat, haben mich seine Worte jedes Mal wie Schläge getroffen.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich gegen den Spott und die Verachtung dieser mutigen und selbstsicheren Kinder wehren sollte. Ich stand nur stumm und eingefroren und ließ die Anfeindungen zu. Zuhause verkroch ich mich hinter meinen Büchern und einem beharrlichen Schweigen. Irgendwann wurde es Mutter zu bunt und sie bohrte so lange, bis ich mit der Sprache herauskam.
Beim Abendessen berichtete sie Vater brühwarm von den Hänseleien. Mir häufte sie noch mal den Teller voll, reichlich Kartoffeln, Gemüse, Schweinebraten und Soße. Viel Soße.
Vater streichelte meine Wange, während ich mampfte. „Das werde ich für dich klären, mein Kind. Und morgen Nachmittag geht Mutti schön mit dir einkaufen.“
Wie ein Feldwebel ist er zum Schuldirektor vorgerückt. Ich erfuhr nie, was die beiden besprochen haben. Der Direktor hat persönlich dafür Sorge getragen, dass mich niemand mehr lautstark beschimpfte. Von diesem Zeitpunkt an wollte aber auch keiner mehr neben mir sitzen. Und auch nicht mit mir reden. Trotz meiner Fülle war ich unsichtbar.
Nur Heiko flüsterte mir bei jeder Gelegenheit zu: „Gesinelein, fett und klein wie ein Schwein.“
„Ach, Gesine, bevor ich es vergesse …“ Wiegand schiebt sich zwischen mich und meine Erinnerungen. „Die zwanzig Euro, die kannst du behalten."
Ich laufe, werde immer schneller, aber doch komme ich nicht vom Fleck. Die Absätze bleiben in den Fugen des Kopfsteinpflasters hängen. Mir ist, als müsse ich durch Sirup waten. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, aber die Tragweite der neuen Situation vermag es nicht zu erfassen. Der Sirup hat sich auch im Kopf ausgebreitet. Ich spüre genau, etwas Grundlegendes muss sich in meinem Leben verändern. Doch zuerst muss ich die quälende Unruhe loswerden. Dieses Fieber kann mir nur Frau Winter nehmen.
Vor wenigen Minuten bin ich Hals über Kopf aus der Apotheke gestürzt. Unter meinem Mantel trage ich noch die Arbeitskleidung, die zwanzig Euro in der Tasche. Mit jedem Zentimeter, den ich mich dem Geschäft nähere, wächst meine Vorfreude. Noch während ich die Tür öffne, fällt die Euphorie zusammen wie ein Käsesoufflé. Frau Winter ist im Gespräch mit einem jungen Paar und es sieht aus, als hätte sie so bald keine Zeit für mich.
„Komme gleich zu Ihnen“, raunt sie mir zu. Sicher bilde ich mir nur ein, dass sie heute ernster und nachdenklicher schaut.
In der Zwischenzeit streife ich an den Kleiderständern entlang. Meine Finger liebkosen die weichen Stoffe, graben sich in Seide und Baumwolle, wollen nicht mehr loslassen. Mit einem Mal glaube ich, die Gier des alten Wiegand zu begreifen. So muss es ihm in meiner Nähe ergehen, genauso will er sich in mein Fleisch vergraben. Drecksack! Die Hände sollen ihm abfaulen!
„Schön, dass Sie gleich gekommen sind.“ Frau Winter hat sich angeschlichen und ich zucke merklich zusammen. „Missverständnisse sollte man sofort aus der Welt schaffen.“
Ich muss ein ziemlich belämmertes Gesicht machen, an dem sie ablesen kann, dass ich nicht kapiere, wovon sie spricht. „Die Rückbuchung. Ist mein Schreiben nicht angekommen? Sie wohnen doch in der Klostergasse zwei?“
Von ihren Blicken fühle ich mich aufgespießt und mein Gesicht beginnt zu glühen. Krampfhaft fische ich nach einer Ausrede. Glaubwürdigkeit, das Rezept der Erfolgreichen. „Ach so, ja natürlich. Deshalb bin ich hier.“ Das kannst du besser! „Ich wollte Ihnen sagen, dass Sie das Geld bekommen. In bar. Nächste Woche. Ist dumm gelaufen, Überschneidungen auf dem Konto.“ Ich hoffe, sie hat mir die Nummer abgekauft, für weiteres Palaver hab ich keine Kraft. Die T-Shirts neben mir wollen endlich anprobiert werden, also zerre ich sie fahrig von den Kleiderbügeln und will mich auf zur Kabine machen.
Sie tritt mir in den Weg und da sind sie wieder, die Falten auf ihrer Stirn. „Frau Brandt, das fällt mir nicht leicht, aber …“ Sie seufzt vernehmlich. „Das bringt doch jetzt nichts, wenn Sie probieren.“ Etwas leiser spricht sie weiter, denn das Pärchen schaut bereits neugierig zu uns herüber. „Vielleicht habe ich kein Recht, mich in Ihr Leben einzumischen. Aber ich denke, Sie brauchen Hilfe. Professionelle Hilfe.“
Kümmere dich um deinen Scheiß!
Wie zufällig holt sie eine Visitenkarte vom Ladentisch. Für mich sieht es aus wie ein von langer Hand geschmiedeter Plan. Da höre ich auch schon das Heulen des Windes, der durch meine Gehirnwindungen fegt und alle klaren Gedanken wegbläst. Dunkle Wolken türmen sich zu einem unheimlichen Gebilde auf, das die Konturen von Vater annimmt, als es zu mir spricht: „Lass mich das mal klären, Kind!“ Die Worte hämmern im Rhythmus meines immer schneller werdenden Herzens auf mich ein. Tatsächlich war ich die letzten Tage kurz davor, Vater zu bitten, meine Rechnungen zu begleichen.
Frau Winter redet weiter, ich kann gerade noch verstehen: „Eine gute Freundin von mir. Vielleicht können Sie sich ja entscheiden, einen Termin zu machen?“
Es kostet mich viel Kraft, ihr das Bündel T-Shirts in die Arme zu drücken. Widerwillig ergreife ich die Karte und erwarte, mir jeden Augenblick die Finger zu verbrennen. Ein flüchtiger Blick auf die Buchstaben. Gerade, selbstbewusste Schriftzüge: Dorothea Siebling, Psychotherapeutin, Einzel- und Gruppentherapie. Das gibt es nicht, eine Psychotante.
Ich stecke die Karte ein, obwohl ich sie Frau Winter am liebsten zusammen mit den zwanzig Euro vor die Füße werfen möchte.
„Und noch was, Frau Brandt. Die Sachen, die Sie vergangene Woche mitgenommen haben, dürfen Sie mir gerne wieder bringen. Sie haben doch sicher noch nichts davon getragen, oder?"
Ich schüttle den Kopf und murmle: „Keine Sorge, Sie bekommen Ihr Geld.“ Dann reiße ich meinen Blick gewaltsam von der Kleidung los und verlasse den Laden.
Die feuchten zitternden Hände verstecke ich in den Manteltaschen, während ich durch die Innenstadt hetze. Daumen und Zeigefinger zerreiben unablässig das Papier der Visitenkarte. Es ist so einfach, die Zellulose zu zerfasern. Als sich die Schiebetüren des Kaufhauses für mich öffnen, legt sich das nervöse Zittern endlich.