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Du kannst das nicht

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09.09.2015
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Du kannst das nicht

Genau in dem Moment, als die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.
Die Inhaberin der Boutique kommt mir entgegen, als hätte sie schon den ganzen Tag auf mich gewartet. Ihr Lächeln ist warm, es umarmt mich. „Ah, die Frau Brandt! Schön, Sie zu seh'n.“
„Wollte wieder mal schauen, was Sie so Neues haben.“
„Die ersten Frühjahrsmodelle sind gestern eingetroffen. Tolle Kollektion.“ Frau Winter zeigt mit einer ausladenden Geste zum Kleiderständer im Fensterbereich, ihre silbernen Armreifen klimpern.
Meine Handtasche stelle ich auf dem Sessel ab, ich brauche freie Hände. Ich will die Teile anfassen, bevor ich sie auf meinem Körper spüre, bevor ich sie aus dem Laden trage.

Frau Winter reicht mir noch den gerade geschnittenen Rock und die türkisfarbene Georgettebluse in die Umkleide, dann wartet sie in meiner Nähe. Heute ist sie nur für mich alleine da. Kaum habe ich das rote Etuikleid übergestreift, geht es los: Mein Körper kribbelt, als wäre er von einer Ameisenarmee besetzt, und mir ist so heiß, als hätte ich das Gift der Biester schon im Blut. Zögerlich schiebe ich den Vorhang beiseite, trete ins Rampenlicht und präsentiere mich.
Sie nickt anerkennend. „Steht Ihnen ausgezeichnet.“
Ich genieße ihre Blicke, schreite vor dem Spiegel auf und ab, wiege mich dabei leicht in den Hüften. Dann breite ich die Arme wie Schwingen aus und drehe mich zu den Walzerklängen, die den Raum unvermittelt fluten. Ich kann fliegen. Ich schwebe, ich lebe, ich bin schön.
Wie durch Watte dringt die Stimme zu mir: „Fällt klein aus! Ich war so frei und hab mal die nächste Größe geholt.“ Sie will mir den Fummel aufdrängen, das Geklimper der Armreifen übertönt die Musik.
Vergiss es! Verräterin! Die achtundvierzig zieh' ich nicht an! „Nein, nicht nötig“, sage ich und ziehe den Bauch ein. „Ich mach gerade eine Diät.“
Frau Winter legt die Stirn in Falten und streicht fast liebevoll über den gespannten Stoff in meinem Rücken, als müsse sie das, was sie sieht, durch ihren Tastsinn bestätigen. „Wie Sie möchten, Sie entscheiden.“

Die zweite Tragetasche platzt gleich aus allen Nähten, während Frau Winter sich bemüht, den Pulli unterzukriegen, den sie mir vor wenigen Augenblicken noch ausreden wollte.
Etwas betreten sagt sie, nachdem sie die Summentaste gedrückt hat: „Ist ganz schön was zusammengekommen. Sie möchten sicher mit Karte zahlen?“
Die Ziffern auf dem Display verschwimmen vor meinen Augen, indessen fummle ich die ec-Karte aus meiner Börse und überreiche sie mit erhobenem Kopf. Wird schon gut gehen!
Mit einem Mal tobt ein Orkan in meinem Schädel. Mein Vater ist bei mir, er kommt immer mit dem Sturm. Er lächelt milde und flüstert, so dass Frau Winter ihn nicht hören kann: „Aber, aber Prinzessin, das kannst du doch nicht machen.“ Und ob! Du solltest mal sehen, wie souverän ich einkaufe.
Ich kaue auf der Unterlippe und hoffe darauf, dass das Brausen und Rauschen verschwinden möge, damit ich Frau Winters Worte verstehen kann. Aber das muss ich nicht, ich beherrsche die Kunst des Lippenlesens. „Zahlung nicht möglich.“ Bedauernd zuckt sie mit den Achseln.

Mit hängenden Schultern schleiche ich die Treppe zu meiner Mansardenwohnung hinauf. Mit jeder Stufe wiegen die Tüten schwerer und die Henkel ätzen sich wie Säure in die Handflächen. Oben empfangen mich leere, kalte Räume.
Sofort verstaue ich die Taschen im Kleiderschrank, schiebe sie weit nach hinten, dorthin wo es finster ist. Dorthin, wo sich andere Beutel und die ungeöffnete Post türmen. Dann schlurfe ich in die Küche, öffne den Kühlschrank, schließe ihn wieder.
Ohne zu wissen, was ich tue, trete ich auf den schmalen Balkon hinaus, umklammere das Geländer und schaue lange in die Tiefe, betrachte den trostlosen Innenhof. Lautlos legt sich die Abenddämmerung auf die Dächer der Altstadt.
Ich sollte froh sein, dass alles so gut funktioniert hat, aber es will sich keine Freude einstellen.
Frau Winter hat den Magnetstreifen meiner Karte gründlich poliert und gesagt: „Ich probier’s noch mal.“ Dann konnte sie den Zahlungsvorgang abschließen. Mit meiner Unterschrift besiegelte ich den Pakt, malte den Namen einer mir Fremden mit krakeligen Buchstaben aufs Papier: Gesine Brandt.
„Viel Freude an den neuen Sachen“, rief sie mir noch nach. „Und alles Gute für Sie.“
Mich fröstelt, der Kühlschrank fällt mir wieder ein. Da ist noch ein Rest Apfeltorte und Salamipizza von gestern. Ich reiße die Packung Schnittkäse auf. Stoße die Schale mit den Tomaten um, sie kullern über den Küchenboden. Ich lecke Thunfischsalat von den Fingern und schiebe mir Kochschinken in den Mund. Ich schmecke nichts, aber ich stopfe weiter. Es fühlt sich alles so unwirklich an. Mir ist, als würde ich neben mir stehen und einer Irren beim Fressen zuschauen.
Langsam lasse ich mich auf die Knie fallen, dann trommle ich mit den Fäusten auf die Fliesen.
Kein Schmerz.

Die alte Dame sieht mich provozierend über den Rand ihrer Brille an. „Drei Paracetamol bitte!“
Ich komme mir wie in einem Theaterstück vor, in dem jeder seinen vorgegebenen Text so überzeugend wie möglich herunterbetet. „Drei Packungen darf ich nicht aushändigen“, zische ich. Sie lächelt allwissend und schaut mich weiter eindringlich an. „Es ist Ihnen bekannt, dass das Mittel die Leber schädigen kann?“ Ich drücke meinen Rücken durch.
„Natürlich. Schließlich fragen Sie mich das ja jede Woche, Kindchen. Sie wissen doch, ich bin über achtzig. Was interessieren mich da Nebenwirkungen. Hauptsache, ich bin die Schmerzen los.“ Geduldig wartet sie, bis ich drei Packungen über den Tresen schiebe.
Im Gegenzug legt sie mir zwanzig Euro auf die Glasplatte und schmunzelt zufrieden. „Stimmt so! Bis bald.“ Während sie zur Tür humpelt, schüttelt sie ihr ergrautes Haupt und murmelt: „Leberschäden.“
Ich schaue nach hinten ins Labor, vom alten Wiegand keine Spur. Ich lausche. Die Gelegenheit bietet sich nicht alle Tage. Schnell lasse ich den Schein in meiner Kitteltasche verschwinden. Bis zur Jahresinventur muss ich hier weg sein.
Vater würde toben, sollte ich den Job hinwerfen, wo er sich doch so ins Zeug gelegt hat, um sein einziges Töchterchen in der Apotheke seines alten Schulfreundes Manfred Wiegand unterzubringen.
Kräftige Hände legen sich auf meine Schultern, fast hätte ich vor Schreck aufgeschrien. Ob er mich beobachtet hat? Der Druck verstärkt sich. Ich erstarre und denke an das Kaninchen, das im Angesicht der Schlange bewegungsunfähig wird. Ich will kein Kaninchen sein.
Die Hände beginnen zu wandern, mit kleinen kreisenden Bewegungen massieren sie meine Oberarme. Das ertrage ich kaum. Ich möchte den alten Grabscher ohrfeigen, stattdessen winde ich mich seitlich aus der Umklammerung und stottere: „Die Bestellung muss noch abgeschickt werden.“ Ich taumle zum Computer.
Wiegands Bass verfolgt mich: „Ich mag üppige Frauen.“
Ich spüre, wie mich seine Blicke langsam entkleiden und fühle mich so machtlos, seinen Klauen völlig ausgeliefert. Ich bin dick. Ich bin nackt, ich bin durchsichtig.
Die Schrift auf dem Monitor verschwimmt vor meinen Augen.

„Gesine, Gesine, rollt wie ’ne Lawine!“ Das Geschrei meiner Mitschüler donnerte über den Pausenhof. Am lautesten brüllte Heiko Töppel. Sein Grinsen werde ich nie vergessen. Obwohl er mich nie angefasst hat, haben mich seine Worte jedes Mal wie Schläge getroffen.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich gegen den Spott und die Verachtung dieser mutigen und selbstsicheren Kinder wehren sollte. Ich stand nur stumm und eingefroren und ließ die Anfeindungen zu. Zuhause verkroch ich mich hinter meinen Büchern und einem beharrlichen Schweigen. Irgendwann wurde es Mutter zu bunt und sie bohrte so lange, bis ich mit der Sprache herauskam.
Beim Abendessen berichtete sie Vater brühwarm von den Hänseleien. Mir häufte sie noch mal den Teller voll, reichlich Kartoffeln, Gemüse, Schweinebraten und Soße. Viel Soße.
Vater streichelte meine Wange, während ich mampfte. „Das werde ich für dich klären, mein Kind. Und morgen Nachmittag geht Mutti schön mit dir einkaufen.“
Wie ein Feldwebel ist er zum Schuldirektor vorgerückt. Ich erfuhr nie, was die beiden besprochen haben. Der Direktor hat persönlich dafür Sorge getragen, dass mich niemand mehr lautstark beschimpfte. Von diesem Zeitpunkt an wollte aber auch keiner mehr neben mir sitzen. Und auch nicht mit mir reden. Trotz meiner Fülle war ich unsichtbar.
Nur Heiko flüsterte mir bei jeder Gelegenheit zu: „Gesinelein, fett und klein wie ein Schwein.“

„Ach, Gesine, bevor ich es vergesse …“ Wiegand schiebt sich zwischen mich und meine Erinnerungen. „Die zwanzig Euro, die kannst du behalten."

Ich laufe, werde immer schneller, aber doch komme ich nicht vom Fleck. Die Absätze bleiben in den Fugen des Kopfsteinpflasters hängen. Mir ist, als müsse ich durch Sirup waten. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, aber die Tragweite der neuen Situation vermag es nicht zu erfassen. Der Sirup hat sich auch im Kopf ausgebreitet. Ich spüre genau, etwas Grundlegendes muss sich in meinem Leben verändern. Doch zuerst muss ich die quälende Unruhe loswerden. Dieses Fieber kann mir nur Frau Winter nehmen.
Vor wenigen Minuten bin ich Hals über Kopf aus der Apotheke gestürzt. Unter meinem Mantel trage ich noch die Arbeitskleidung, die zwanzig Euro in der Tasche. Mit jedem Zentimeter, den ich mich dem Geschäft nähere, wächst meine Vorfreude. Noch während ich die Tür öffne, fällt die Euphorie zusammen wie ein Käsesoufflé. Frau Winter ist im Gespräch mit einem jungen Paar und es sieht aus, als hätte sie so bald keine Zeit für mich.
„Komme gleich zu Ihnen“, raunt sie mir zu. Sicher bilde ich mir nur ein, dass sie heute ernster und nachdenklicher schaut.
In der Zwischenzeit streife ich an den Kleiderständern entlang. Meine Finger liebkosen die weichen Stoffe, graben sich in Seide und Baumwolle, wollen nicht mehr loslassen. Mit einem Mal glaube ich, die Gier des alten Wiegand zu begreifen. So muss es ihm in meiner Nähe ergehen, genauso will er sich in mein Fleisch vergraben. Drecksack! Die Hände sollen ihm abfaulen!
„Schön, dass Sie gleich gekommen sind.“ Frau Winter hat sich angeschlichen und ich zucke merklich zusammen. „Missverständnisse sollte man sofort aus der Welt schaffen.“
Ich muss ein ziemlich belämmertes Gesicht machen, an dem sie ablesen kann, dass ich nicht kapiere, wovon sie spricht. „Die Rückbuchung. Ist mein Schreiben nicht angekommen? Sie wohnen doch in der Klostergasse zwei?“
Von ihren Blicken fühle ich mich aufgespießt und mein Gesicht beginnt zu glühen. Krampfhaft fische ich nach einer Ausrede. Glaubwürdigkeit, das Rezept der Erfolgreichen. „Ach so, ja natürlich. Deshalb bin ich hier.“ Das kannst du besser! „Ich wollte Ihnen sagen, dass Sie das Geld bekommen. In bar. Nächste Woche. Ist dumm gelaufen, Überschneidungen auf dem Konto.“ Ich hoffe, sie hat mir die Nummer abgekauft, für weiteres Palaver hab ich keine Kraft. Die T-Shirts neben mir wollen endlich anprobiert werden, also zerre ich sie fahrig von den Kleiderbügeln und will mich auf zur Kabine machen.
Sie tritt mir in den Weg und da sind sie wieder, die Falten auf ihrer Stirn. „Frau Brandt, das fällt mir nicht leicht, aber …“ Sie seufzt vernehmlich. „Das bringt doch jetzt nichts, wenn Sie probieren.“ Etwas leiser spricht sie weiter, denn das Pärchen schaut bereits neugierig zu uns herüber. „Vielleicht habe ich kein Recht, mich in Ihr Leben einzumischen. Aber ich denke, Sie brauchen Hilfe. Professionelle Hilfe.“
Kümmere dich um deinen Scheiß!
Wie zufällig holt sie eine Visitenkarte vom Ladentisch. Für mich sieht es aus wie ein von langer Hand geschmiedeter Plan. Da höre ich auch schon das Heulen des Windes, der durch meine Gehirnwindungen fegt und alle klaren Gedanken wegbläst. Dunkle Wolken türmen sich zu einem unheimlichen Gebilde auf, das die Konturen von Vater annimmt, als es zu mir spricht: „Lass mich das mal klären, Kind!“ Die Worte hämmern im Rhythmus meines immer schneller werdenden Herzens auf mich ein. Tatsächlich war ich die letzten Tage kurz davor, Vater zu bitten, meine Rechnungen zu begleichen.
Frau Winter redet weiter, ich kann gerade noch verstehen: „Eine gute Freundin von mir. Vielleicht können Sie sich ja entscheiden, einen Termin zu machen?“
Es kostet mich viel Kraft, ihr das Bündel T-Shirts in die Arme zu drücken. Widerwillig ergreife ich die Karte und erwarte, mir jeden Augenblick die Finger zu verbrennen. Ein flüchtiger Blick auf die Buchstaben. Gerade, selbstbewusste Schriftzüge: Dorothea Siebling, Psychotherapeutin, Einzel- und Gruppentherapie. Das gibt es nicht, eine Psychotante.
Ich stecke die Karte ein, obwohl ich sie Frau Winter am liebsten zusammen mit den zwanzig Euro vor die Füße werfen möchte.
„Und noch was, Frau Brandt. Die Sachen, die Sie vergangene Woche mitgenommen haben, dürfen Sie mir gerne wieder bringen. Sie haben doch sicher noch nichts davon getragen, oder?"
Ich schüttle den Kopf und murmle: „Keine Sorge, Sie bekommen Ihr Geld.“ Dann reiße ich meinen Blick gewaltsam von der Kleidung los und verlasse den Laden.

Die feuchten zitternden Hände verstecke ich in den Manteltaschen, während ich durch die Innenstadt hetze. Daumen und Zeigefinger zerreiben unablässig das Papier der Visitenkarte. Es ist so einfach, die Zellulose zu zerfasern. Als sich die Schiebetüren des Kaufhauses für mich öffnen, legt sich das nervöse Zittern endlich.

 

Hallo peregrina,

puh - starker Tobak! Und ein starker Text. Mir fällt auf Anhieb absolut nichts ein, was ich daran verbessern wollte, nicht mal ein Rechtschreibfehler. Naja, eine Hoffnung auf ein Happy-End wäre nicht schlecht. Aber das war halt nicht deine Intention, ist natürlich auch okay, würde vermutlich gar nicht passen. Immerhin ist es ja möglich, dass Gesine am Ende doch die Psychologin anruft.

Dein Psychogramm erscheint mir sehr schlüssig, ohne dabei in allzu simple Küchenpsychologie zu verfallen. Als Kind wegen ihrer Körperfülle gehänselt, hat sie gelernt, dass Shopping und Essen eine Art von Trost oder gar einen kurzen Rausch bringen (auf den natürlich ein reumütiges Erwachen folgt). Der Vater - mutmaßlich wohlwollend, aber dominant - hat sie zur Unselbständigkeit erzogen, und nun kann sie sich gegen ähnlich dominante Männer wie Weigand selbst dann nicht behaupten, wenn die ihr weniger wohlgesonnen sind. Und dann sucht sie wieder Linderung im Kaufrausch ... Natürlich muss man nicht in solche Mechanismen abdriften, nur weil sie einem in der Kindheit nahegelegt werden, aber es passiert eben leichter als unter anderen Voraussetzungen. Und selbst wenn man ahnt oder sogar weiß, dass das kein gesundes Verhalten ist, ist es doch irrsinnig schwer, daraus auszubrechen. Gerade beim Versuch, der Übermacht ihres Vaters zu entfliehen, läuft Gesine in die falsche Richtung, geradewegs in die selbstgestellte Falle. Immer wieder.

Mir gefällt, wie du die Emotionen deiner Prota beschreibst: den inneren Sturm, das Kribbeln auf der Haut, die letztendliche Freudlosigkeit nach dem Shopping-Rausch. Die Züge von Paranoia gegenüber der Kundin in der Apotheke oder der Verkäuferin. Zwischen diesen schönen Passagen sind dann auch gelegentlich konventionellere Bilder (wie ein geprügelter Hund, Worte wie Schläge) nicht schlimm.

An manchen Stellen analysiert Gesine sich und ihre Probleme etwas stärker, als man es vielleicht von solch einer Getriebenen erwarten würde. Das könnte man wahlweise als unnötiges "Tell" interpretieren oder aber als Andeutung dafür, dass Gesine eben doch allmählich versteht, was falsch läuft, und damit eine Chance hat, auf den richtigen Weg zurückzufinden - evtl. auch mit Hilfe der "Psychotante". Letzteres gefällt mir besser.

Eine winzige Plausibilitätslücke fällt mir doch noch ein (und hey, zwei Schreibfehler!):

„Und noch was, Frau Brand[t]. Die Sachen, die sie vergangene Woche mitgenommen haben, dürfen Sie mir gerne wieder bringen. Eine Ausnahme. Aber Sie haben doch sicher noch nichts davon getragen, oder?[Anführungsstriche]
M.E. ist es keine Ausnahme, wenn man ungetragene Sachen nach einer Woche noch zurückbringen darf. Meines Wissens geltendes Recht, mindestens aber absolut üblich in jedem vernünftigen Laden (außer vielleicht Sonderangebote).

Ein starker Text, wie gesagt. Hat mich ziemlich gepackt.

Grüße vom Holg ...

 

Hallo peregrina!


Eigentlich wollte ich nur rasch den ersten Absatz lesen und Textkram überprüfen, doch plötzlich war ich von der Geschichte gefesselt. Plötzlich hatte ich Verständnis und auch Mitleid für Gesine.

Für Kaufsucht gibt es viele Ursachen, da ist es gut, dass sich hier die Ursachen auf ein abgegrenztes Spektrum beschränken. Im Vordergrund sehe ich da die Überversorgung mit unangebrachter Hilfe und üppigen Speisen zur Beruhigung in ihrer Kindheit. Eine Kombination, die zu einem labilen Selbstwertgefühl und zu entsprechenden Handlungen mit Ventilfunktion führen können.

Eine sehr spannende und überzeugende Geschichte!

Lieben Gruß

Asterix

 

Hallo peregrina,

was für ein verdammt eindrücklicher Text. Hat mich gepackt und mitgerissen und ich finde fast nichts, das ich ändern würde.

Nur ein paar Streichungen.

Gesine Brandt, krakelige Buchstaben einer unsicheren Kinderschrift.
Hier würde ich überlegen, ob es alles nach "krakelige Buchstaben" wirklich braucht. Wobei ich "unsicher" noch passender finde als das mit der Kinderschrift. Du erzählst später im Text ja von ihrer Kindheit. Da finde ich das hier vorgreifend.

Ich reiße die Packung Schnittkäse auf. Stoße die Schale mit den Tomaten um, sie kullern über den Küchenboden. Ich lecke Thunfischsalat von den Fingern und schiebe mir Kochschinken in den Mund. Ich schmecke nichts, aber ich stopfe weiter. Es fühlt sich alles so unwirklich an. Mir ist, als würde ich neben mir stehen und einer Irren beim Fressen zuschauen.
Langsam lasse ich mich auf die Knie fallen, dann trommle ich mit den Fäusten auf die Fliesen. Kein Schmerz.
Das hier. Das muss ich hervorheben. Wirklich gut.


Vater würde toben, sollte ich den Job hinwerfen, wo er sich doch so ins Zeug gelegt hat, um sein einziges Töchterchen in der Apotheke seines alten Schulfreundes Manfred Wiegand unterzubringen. Wäre interessant für mich zu erfahren, was die zwei alten Haudegen für Bedingungen ausgehandelt haben.
"Vater würde toben, sollte ich den Job hinwerfen, wo er sich doch so ins Zeug gelegt hat, ihn mir zu beschaffen."
Da ist alles drin, was man wissen muss. Die restlichen Details reißen mich nur raus aus dem ansonsten sehr dichten Text, weil sie Nebenschauplätze aufmachen, die du gar nicht brauchst.

Ich erstarre und denke an das Kaninchen, das im Angesicht der Schlange bewegungsunfähig wird. Ich will kein Kaninchen sein.
Die Stelle hat mich auch beeindruckt.

Ich bin dick. Ich bin nackt, ich bin durchsichtig.
Und die.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich gegen den Spott und die Verachtung dieser mutigen, selbstsicheren und vor allem schlanken Kinder wehren sollte.
Eigentlich brauchst du hier nur 'mutig'.
'Selbstsicher' ist wahrscheinlich das bessere Wort im Hinblick auf die erwachsene Gesine, aber ein Kind würde 'mutig' sagen, und hier sollte es das Wort eines Kindes sein.
Dass diese Kinder nicht dick sind ... das fühlt sich für mich als Leser mir arg aufdiktiert an. Denn der Fokus liegt eigentlich auf Gesines Gewicht, nicht auf dem dieser anderen Kinder.
Sie ist dick. Und unter der gesichtslosen Masse mutiger Kinder sicher auch das eine oder andere nicht ganz so schlanke.

Jedenfalls hat der Direktor persönlich dafür Sorge getragen, dass mich niemand mehr lautstark beschimpft hat. Von diesem Zeitpunkt an wollte aber auch keiner mehr neben mir sitzen, geschweige denn mit mir reden.
Auch hier würde ich nochmal feilen, und den zweiten Satz weniger umständlich gestalten. Die neuerliche Verletzung möglichst knapp fallen lassen. "Und mit mir geredet haben sie auch nicht mehr."
(Oder so ähnlich.)

Doch noch während ich die Tür öffne, fällt die Euphorie zusammen wie ein Käsesoufflé.
Das Bild mit dem Käsesoufflé soll vermutlich zu ihrer Esssucht passen, mich stört es. Weil du im restlichen Text auch nicht mit so deutlich darauf bezogenen Bildern arbeitest.


Tatsächlich war ich die letzten Tage kurz davor, Vater zu bitten, meine Rechnungen zu begleichen. Doch in meinem tiefsten Innern will ich, dass Vater aus meinem Leben verschwindet. Alle sollen verschwinden.
Die beiden letzten Sätze würde ich ersatzlos streichen. Die brauchst du nicht. Das ist alles auch so klar. Der Text ist deutlich genug in seinen Szenen, ich brauche keine Erklärungen.
Außerdem bleibt so letztendlich offen, was sie in Zukunft tut: Dass sie den Vater noch nicht gebeten hat, ist klar. Sie wird den Laden also mit der Visitenkarte und der Option im Hinterkopf verlassen. (Und vermutlich weiterhin dazwischen gelähmt bleiben.)

Eine Psychotante. Die kann lange auf mich warten.
Den zweiten Satz brauchst du nicht. Das wird klar durch den folgenden:
Ich stecke die Karte ein, obwohl ich sie Frau Winter am liebsten zusammen mit den zwanzig Euro vor die Füße werfen möchte.

Ich hätte gerne noch viel mehr Stellen herausgesucht, die mich beeindruckt haben. Aber das wäre ausgeartet.
Danke für diesen Text.

Grüße
Gefrierpunkt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Mit einem Mal tobt ein Orkan in meinem Schädel. Mein Vater ist bei mir, er kommt immer mit dem Sturm. Er lächelt milde und flüstert, so dass Frau Winter ihn nicht hören kann: „Aber, aber Prinzessin, das kannst du doch nicht machen.“ Und ob? Du solltest mal sehen, wie souverän ich einkaufen kann.

Hallo peregrina,

was kann man da noch zu sgen, wenn es schon vorher auf den Punkt gebracht wird, selbst wenn diese Wellt der Gesine - Ironie der Geschichte? Gesine, norddeutsche Koseform der Gertrud, der Speer (= ger) trud (= trauen) - mir an sich fremd bleiben wird. So bleibt die Beschränkung, etwa auf das schlechte Gewissen (ein gutes Gewissen kann es gar nicht geben, bestenfalls als Ruhekissen) sich als Vater meldet - denn ist in dem Zitat Vaters Rede nicht mehr als eine Aussage, "und ob" nicht entgegen seiner eigentlichen Bedeutung ein weniger fragendes als trotziges!)

Meine Güte, jetzt les ich sogar, dass Deine Heldin auf der Unterlippe kau(f)t! -

Bliebe allein einTippfehler, aber nur durchs "durch",

, als müsse sie das, was sie sieht, durch ihre[n] Tastsinn bestätigen.
mit einem "mit" wärs anders ...

Mir ist, als würde ich neben mir stehen und einer Irren beim Fressen zuschauen.
Könnte von mir sein, wenn man weiß, dass ich einst fressen und saufen konnte und ein untergewichtiges dürres Männlein blieb. Guter Verbrennungsofen hat ...

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hej peregrina,

der Titel will mir einfach nicht gefallen und für meinen Geschmack spiegelt er auch viel zu wenig von der Tiefe und Tragik deiner Protagonistin wider. Denn diese Gesine bekommt wirkliche Struktur. Ich habe sie scheinbar auch schon mal gesehen. In der Boutique um die Ecke, auf dem Weg zur Gelateria oder sogar im Treppenhaus. Sie ist immer allein, hübsch, auf ihre Art attraktiv, doch immer umhüllt aus einer Melange von Melancholie, Wut und Trauer. Das nächste Mal spreche ich sie an.:hmm:
Aber nein, ich möchte dir lediglich meinen Eindruck wiedergeben, der durch dich entstanden ist.

Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.

Mir hätte es besser gefallen, wenn gleich hier klargestellt worden wäre, dass es sich um ein Geschäft handelt, um eine Vorstellung zu bekommen. Ein Erwähnen, z.B. eines zarten Glockenspiels beim Schließen der Tür könnte mir gefallen. Ich brauche die Ungewissheit nicht.

Die Inhaberin des Ladens kommt mir entgegen, als hätte sie schon den ganzen Tag auf mich gewartet. Ihr Lächeln ist warm, es umarmt mich. „Hallo Frau Brandt! Wie geht es Ihnen?“
„Alles prima! Will mal schauen, was Sie so Neues haben.“

Du zeigst sofort, um welche ambivalente Persönlichkeit es geht. Wunderbar.

Frau Winter reicht mir noch den schmalen Rock und die türkisfarbige Georgettebluse in die Umkleide, dann wartet sie in meiner Nähe.

Heißt es tatsächlich lediglich Umkleide? Nicht Umkleidekabine?

Wie durch Watte dringt die Stimme zu mir. „Trotzdem würde ich gerne die nächste Größe angezogen sehen. Ich hol’ sie mal eben.“

Ich höre das Verstummen der Musik und spüre ihren Schmerz. "Daran" gewöhnt man sich wohl nie, auch wenn man es seit der Kindheit gewöhnt ist, verspottet zu werden.

Die Musik verstummt.

Das bemerkte ich schon vorher. ;) Und kommt für mich zu spät.

Die zweite Papiertragetasche platzt gleich aus allen Nähten, während Frau Winter sich bemüht, die Pullis unterzukriegen, die sie mir vor wenigen Augenblicken noch ausreden wollte, weil ich angeblich vergleichbare Modelle besitzen würde.

Papiertaschen sind nicht genäht und Frau Winter würde sicher ohne mit der Wimper zu zucken bei diesem Umsatz weitere Tüten spendieren und ich kann mir bei aller Freundlichkeit auch nicht vorstellen, dass sie ihr etwas ausreden wollen würde, selbst wenn sie zu diesem Zeitpunkt schon ahnt, dass was nicht mit Gesine stimmt.

Ich kaue auf der Unterlippe und hoffe darauf, dass das Brausen und Rauschen verschwinden möge, damit ich Frau Winters Worte verstehen kann. Aber das muss ich nicht, ich kann von ihren Lippen ablesen: „Zahlung nicht möglich.“ Bedauernd zuckt sie mit den Schultern.

Toll, wie du Körperlichkeiten einfügst. Damit zeigst du mir, dass es sich nicht um Eitelkeiten und eine hobbylose, dicke Frau handelt, sondern um eine verletzliche Frau.

Wie ein geprügelter Hund schleiche ich die Treppe zu meiner Wohnung unters Dach hinauf. Mit jeder Stufe wiegen die Tüten schwerer und die Henkel ätzen sich wie Säure in die Handflächen. Oben empfangen mich leere, kalte Räume.

Da ich beeindruckt bin, fällt es mir an dieser Stelle schwer, die üblichen Klischeeaussprüche zu schlucken und ich wünschte, du hättest für Gesine eigene gefunden.

Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass mir die neuen Sachen vollkommen egal sind?

Das weiß ich schon, du hast es herausgearbeitet.

Die beängstigende Kühlschrankszene ist wirklich eindrucksvoll gezeigt. Ich spüre die Kälte und ihre Leere.

Auch der nachfolgende Dialog mit der alten Frau kennzeichnet Gesine wundervoll. Sie weiß drum. Um sich, um Diagnosen. Und ihre Gefühllosigkeit scheint mittlerweile nicht nur sie selbst zu betreffen.
Und um es rund zu machen, kommt auch noch der grapschende Protegé Wiegand ins Spiel. Super. Gesines Bild wird immer kompakter.

Und das mimosenhafte Getue hat ab jetzt ein Ende!“

Entsetzlich. Ich bin mir nicht ganz einig, ob er Papas Gegenspieler ist, oder ob er das väterliche Machtgehabe untermauern soll?!

Ich laufe, werde immer schneller, aber doch komme ich nicht vom Fleck. Die Absätze bleiben in den Fugen des Kopfsteinpflasters hängen. Mir ist, als müsse ich durch Sirup waten. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, aber die Tragweite der neuen Situation vermag es nicht zu erfassen. Der Sirup hat sich auch im Kopf ausgebreitet. Ich spüre genau, etwas Grundlegendes muss sich in meinem Leben verändern. Doch zuerst muss ich die quälende Unruhe loswerden. Dieses Fieber kann mir nur Frau Winter nehmen.

Oje, das scheint wirklich etwas Ernsthaftes zu sein. Sehr intensiv beschrieben.

Mit einem Mal kann ich die Gier des alten Wiegand begreifen. So muss es ihm in meiner Nähe ergehen, genauso will er sich in mein Fleisch vergraben, mich besitzen. Drecksack! Die Hände sollen ihm abfaulen!

Hier kann ich nicht so recht nachempfinden. Weder das Verständnis für den Apotheker, noch die aufkeimende Wut. Ich dachte, sie wäre nur noch ganz bei sich und abgestumpft. Aber das liegt wohl an mir.

Du lässt sich die Lage zuspitzen, sowohl mit den Kindheitserinnerungen, die ja wohl immer da sind, wenn auch eher unterbewusst, als auch mit der Situation der Zahlungsunfähigkeit in der Boutique, du Füchsin.

Glaubwürdigkeit, das Rezept der Erfolgreichen.

Das klingt vermutlich vom Vater in den Ohren. Der war also nicht nur Beschützer, Machtdemonstrant, sondern auch Wegoffenbarer. Das ist subtil, aber ok.

Dunkle Wolken türmen sich zu einem unheimlichen Gebilde auf, das die Konturen von Vater annimmt, als es zu mir spricht: „Lass mich das mal klären! Du weißt doch, dass du das nicht kannst, Kind!“ Die Worte hämmern im Rhythmus meines immer schneller werdenden Herzens auf mich ein.

Du bringst immer wieder Bilder, die mir Gesine abwesend und introvertiert zeigen, so dass sie mir mit Ihren Wut zwischendrin beinahe schizoid erscheint. Vermutlich übertreibe ich im Eifer. :shy:

Es kostet mich viel Kraft, ihr das Bündel T-Shirts in die Arme zu drücken.

Ich sehe, wie sie zögert, klammert und dann mit einem Ruck fallen lässt und die Kartenhält. Das funktioniert sehr gut.

Es ist so einfach, die Zellulose zu zerfasern.

Ja, mit einer Diät ist es bei Gesine sicher nicht mehr getan und da sie kurzerhand ins Kaufhaus stürzt, sehe ich für eine unmittelbare Wende schwarz. Traurige Sache.

Du merkst, ich bin eingetaucht in deine traurige Geschichte und empfinde sie als sehr wertvoll.

Vielen Dank und freundlicher Gruß, Kanji

 

Liebe peregrina

schön, dich hier wieder anzutreffen. Und du hast eine Geschichte vorgelegt, die es wirklich in sich hat.

Ich finde, das ist ein sehr stimmiges Psychogramm einer Frau, die seit Kindheit wegen ihrer Körperfülle massive Minderwertigkeitsgefühle entwickelt hat. Und daran hat ihr Vater keinen unwesentlichen Anteil. Na, wer sag's denn, Väter und Töchter eben.:D

Natürlich gleitet nicht jedes übergewichtige Mädchen in eine solche Leidensgeschichte ab, aber dass Essstörungen wie Bulimie oder Esssucht zunehmen, ist wohlbekannt. Inwieweit Eltern die Störung bewusst oder unbewusst fördern, muss bei jeder Therapie genau recherchiert werden.

Deine Prota hat einen weiteren Zwang entwickelt, Kaufzwang, wobei sie erhebliche Raffinesse an den Tag legt, um nicht als Betrügerin aufzufliegen. Jedoch schafft keine Befriedigung dieser Sucht irgendeine Erleichterung oder gar ein Glücksgefühl, allenfalls in den kurzen Momenten der Anprobe oder wenn sie mit vollen Taschen aus der Boutique flieht.

... wenn sie wüsste, dass mir die neuen Sachen vollkommen egal sind ...

Langsam trommle ich mit den Fäusten auf die Fliesen. Kein Schmerz

Die Abwesenheit von Gefühlen, ohne Zugang zu sich selbst, scheint mir ein zentraler Punkt im Leben deiner armen Prota zu sein.

Da fällt mir im Plot ein Bruch auf. Der Vater hat ihr einen Arbeitsplatz in einer Apotheke verschafft, bei einem alten Schulfreund. Dieser wird übergriffig und sie entwickelt Zorn, was ja ein sehr starkes (Ersatz-)Gefühl ist. Mit dieser Szene machst du einen neuen Thread auf, und ich frage mich, ob dies nötig ist. Würde es nicht reichen, wenn sie altväterliche Gesten, die durchaus wohlwollend gemeint sind, missinterpretiert, geprägt von den Erlebnissen mit dem Schulkameraden Heiko? Sonst muss ich mich tatsächlich fragen, ob ein Vater so ahnungslos seine Tochter an einen alten Wüstling verschachert. Oder willst du eine latente Missbrauchsgeschichte durch den Vater andeuten?

Du hast als Gegensatz dazu die freundliche Frau Winter mit ihrem fürsorglichen Hilfsangebot gesetzt. Wenn deine Prota Stammkundin in diesem Kaufhaus ist, kann ich es halbwegs nachvollziehen. Allerdings habe ich noch keine Verkäuferin erlebt, die mir einen Kauf ernsthaft ausreden wollte. Und die Adresse für eine Psychotherapie hätte ich eher in einer Apotheke erwartet. Aber du kennst dich, glaube ich, auf diesem Gebiet (die verzweifelte Suche nach einem passenden Outfit) besser aus als ich. Wahrscheinlich kann Frau Winter die Psyche beratungsresistenter Kundinnen ganz gut einschätzen.

Ich hätte noch einen kleinen Vorschlag:

Mir häufte sie noch mal den Teller voll, reichlich mit Kartoffeln, Gemüse und Schweinebraten.

Hier würde ich ergänzen:

... reichlich Kartoffeln, Gemüse und Schweinebraten. Mit Soße. Viel Soße.

Ich sehe das Kind ordentlich mampfen, es schaufelt den ganzen Frust in sich hinein.

Eine gute Geschichte, liebe peregrina. Und aktuell. Besonders auch die Jungen haben ordentlich zugelegt. Das wäre auch eine Geschichte wert.

Herzliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo peregrina,

wow, das ist eine wirklich gute Geschichte, die Du hier spannend und mit viel Einfühlungsvermögen erzählst. Und natürlich auch eine traurige Geschichte mit einem Thema, über das man hier nicht so viel zu lesen bekommt.
Du schaffst es, Mitgefühl beim Leser zu erzeugen, die Charaktere wirken erschreckend authentisch. Man möchte nicht in der Haut der Verkäuferin stecken, die zwar einerseits die Dollarzeichen in den Augen hat, aber andererseits natürlich schnallt, was da los ist.
Auch der eklige Apotheker, der ihre Unsicherheit ausnutzt und sie in der Hand hat.

Sprachlich finde ich es an manchen Stellen etwas holprig, aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.
das zweite "in dem" würde ich mit "als" ersetzen: Genau in dem Moment, als die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.

Zunächst stelle ich meine Handtasche auf dem Sessel ab, ich brauche freie Hände.
Hier stolpere ich über das "Zunächst". Würde ich streichen.

Mein Körper kribbelt, als wäre er von einer Ameisenarmee besetzt, und mir ist so heiß, als hätten die Biester ihr Gift gerade abgesetzt.
besetzt/abgesetzt hört sich nicht gut an. Ihr Gift "losgelassen/versprüht"? Ich kenne den korrekten, biologischen Ausdruck nicht.

Frau Winter legt die Stirn in Falten und streicht fast liebevoll über den gerafften Stoff in meinem Rücken,
Wenn das Kleid zu eng ist, kann man es nicht raffen. Ich würde schreiben : "gespannten" Stoff.

An ein paar Stellen könntest Du diese erklärenden Sätze weglassen, die braucht es meiner Meinung nach nicht. Wie hier, der fett gedruckte:

Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass mir die neuen Sachen vollkommen egal sind? Mich fröstelt, der Kühlschrank fällt mir wieder ein.

Es gibt natürlich auch Stellen, die mir sehr gut gefallen, wie z:B. diese:
Da ist noch ein Rest Apfeltorte und Salamipizza von gestern. Ich reiße die Packung Schnittkäse auf. Stoße die Schale mit den Tomaten um, sie kullern über den Küchenboden. Ich lecke Thunfischsalat von den Fingern und schiebe mir Kochschinken in den Mund.
Sehr anschaulich und sehr erschreckend ...

Sehr gerne gelesen!

Schönen Abend, Kerkyra

 

Hallo Holg,
bewundernswert mit welcher Geschwindigkeit du auf den Text reagiert hast. Danke fürs Lesen und den wohlwollende Kommentar.

puh - starker Tobak! Und ein starker Text. Mir fällt auf Anhieb absolut nichts ein, was ich daran verbessern wollte, …“
Ein schöneres Lob habe ich noch nie bekommen, bleibe aber trotzdem auf der Hut, weil ohne Nacharbeit wird es auch diesmal nicht gehen, ist aber kein Problem.

Naja, eine Hoffnung auf ein Happy-End wäre nicht schlecht. Aber das war halt nicht deine Intention, ist natürlich auch okay, würde vermutlich gar nicht passen. Immerhin ist es ja möglich, dass Gesine am Ende doch die Psychologin anruft.
Du sagst es. Die Hoffnung zeigt der Text in der Tat auf. Ich fand die Idee ganz originell, auf ein glückliches Ende hinzuarbeiten (Kleidung zurückbringen, Psychologin in Sicht, auch der Vater als Fallschirm) und dann stößt Gesine die Hand, die helfen will, weg.
Das wäre mir doch zu viel Friede, Freude … Zumal ich ahne, wie viel Kraft es die Betroffenen kosten muss, aus diesem Kreis des Suchtverhaltens auszubrechen. Ein Happy-End wäre recht unrealistisch. Der erste Schritt in Richtung Lösung wäre, sich zumindest einzugestehen, dass man süchtig ist.

Dein Psychogramm erscheint mir sehr schlüssig, ohne dabei in allzu simple Küchenpsychologie zu verfallen.
Wenn du das so siehst, freue ich mich natürlich. Ist ja immer eine Gratwanderung, die Auswirkungen der Kindheit aufs Verhalten im Erwachsenenleben glaubhaft und nicht gar zu plump darzustellen. Die Rückblende auf den Schulhof zum Beispiel hat mir schon Bauchzwicken verursacht, ich fand sie fast etwas zu offensichtlich: So, lieber Leser, hier kriegst du die Gründe für das ganze Dilemma präsentiert.

Mir gefällt, wie du die Emotionen deiner Prota beschreibst: den inneren Sturm, das Kribbeln auf der Haut, die letztendliche Freudlosigkeit nach dem Shopping-Rausch. Die Züge von Paranoia gegenüber der Kundin in der Apotheke oder der Verkäuferin.
Ja, das war die wichtigste Frage: Wie stelle ich diesen Drang zu kaufen, das Aussetzen jeglicher verstandesmäßiger Handlungen dar, (du sagst Rausch) ohne in Erklärungen zu ertrinken. Meine erste Wahl, wie so oft, der (unzuverlässige) Ich-Erzähler, der den Leser in seine Gefühlswelt mitnimmt und ihm seine Wahrnehmungen preisgibt.

Zwischen diesen schönen Passagen sind dann auch gelegentlich konventionellere Bilder (wie ein geprügelter Hund, Worte wie Schläge) nicht schlimm.
Die abgegriffenen Bilder sind mir glücklicherweise bewusst. Ich werde mal meditieren, ob ich die noch entferne, auch wenn du sie nicht als „schlimm“ empfindest.

An manchen Stellen analysiert Gesine sich und ihre Probleme etwas stärker, als man es vielleicht von solch einer Getriebenen erwarten würde. Das könnte man wahlweise als unnötiges "Tell" interpretieren …
Ein schwieriger Punkt. Die Aussage muss ich mal setzen lassen. Insgesamt war ich schon bemüht, weniger zu „tellen“, aber „schlechte“ Angewohnheiten legt man nicht so geschwind ab.

…oder aber als Andeutung dafür, dass Gesine eben doch allmählich versteht, was falsch läuft, und damit eine Chance hat, auf den richtigen Weg zurückzufinden - evtl. auch mit Hilfe der "Psychotante". Letzteres gefällt mir besser.
Der Prozess des Begreifens hat bei Gesine natürlich eingesetzt, aber damit ist es nicht getan. Logischerweise hab ich recherchiert, und wenn ich es richtig verstehe, müssen die Ursachen für die Sucht beseitigt werden, sprich, die Betroffenen müssen erkennen, was sie wirklich brauchen. Sie müssen ihr Selbstwertgefühl finden. Geht wirklich nur mit Hilfe von außen, also ausgebildeten „Psychotanten“, maximal noch über Selbsthilfegruppen.

Eine winzige Plausibilitätslücke fällt mir doch noch ein (und hey, zwei Schreibfehler!):
… ist es keine Ausnahme, wenn man ungetragene Sachen nach einer Woche noch zurückbringen darf. Meines Wissens geltendes Recht, mindestens aber absolut üblich in jedem vernünftigen Laden (außer vielleicht Sonderangebote).
Das hängt von der Kulanz des Händlers ab, so weit ich weiß. Also, unter uns, ich hab mich auch immer geziert, Geld zurückzugeben. Aber die Winter hat ja keins bekommen.
Ich streich die „Ausnahme“ raus, sie ist nicht von Belang. Und die Fehler werde ich korrigieren.

Ein starker Text, wie gesagt. Hat mich ziemlich gepackt.
Das sind die Momente, für die ein Autor lebt, glaube ich. :D

Danke Holg für deinen ausführlichen Komm und ich finde es toll, wie du wieder in den Kopf der Prota geschaut hast.

Liebe Grüße,
peregrina


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Hallo Asterix,

das ist schön, dass du mal rein geschaut hast. Noch besser ist, dass du festgeklebt bist.

Eigentlich wollte ich nur rasch den ersten Absatz lesen und Textkram überprüfen, doch plötzlich war ich von der Geschichte gefesselt. Plötzlich hatte ich Verständnis und auch Mitleid für Gesine.

Für Kaufsucht gibt es viele Ursachen, da ist es gut, dass sich hier die Ursachen auf ein abgegrenztes Spektrum beschränken.
So weit ich unterrichtet bin, sind zwei grobe Richtungen zu unterscheiden: Zu wenig Anerkennung und Liebe oder eine Art Entmündigung, Bevormundung in der Kindheit. Beides kann zu mangelndem Selbstwertgefühl führen. Auf jeden Fall eine superspannende und vielschichtige Thematik, diese sogenannten stoffungebundenen Süchte. Aber wem sag ich das, du kennst dich ja bestens aus.

Eine sehr spannende und überzeugende Geschichte!
Dankeschön für diese Einschätzung, sie bedeutet mir viel.

Liebe Grüße,
peregrina


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Morgen geht es weiter ...

 
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Liebe peregrina,

das ist ein sehr runder und gut durchdachter Text, der mich als Leser von der ersten Zeile an mitnimmt und auch hält. Diese beiden Süchte, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass man nicht satt werden kann, so viel man auch isst bzw. kauft, hast du eindringlich dargestellt.

Anzumerken gibt es von mir nicht viel, zumal wohl schon die meisten Kleinigkeiten erwähnt worden sind und sich deshalb einiges sicherlich erledigt haben wird. (Manches, was ich mir notiert habe, erscheint mir im Nachhinein etwas pingelig, aber sei’s drum.)

Frau Winter zeigt mit einer ausladenden Geste zum Kleiderständer im Fensterbereich.
Eine ausladende Geste stelle ich mir so vor, als beschriebe Frau Winter mit der Hand einen Halbkreis. Aber so kann sie mMn nicht auf den Kleiderständer zeigen. *)

die türkisfarbige Georgettebluse
Mir würde ‚türkisfarbene’ besser gefallen.

und drehe mich zu den Walzerklängen, die den Raum unvermittelt fluten.
‚unvermittelt’ bedeutet ja eigentlich ohne Übergang, ohne einen Mittler. Hier würde mir das simple Wörtchen ‚plötzlich’ mehr einleuchten.

Die zweite Papiertragetasche platzt gleich aus allen Nähten, während Frau Winter sich bemüht, die Pullis unterzukriegen, die sie mir vor wenigen Augenblicken noch ausreden wollte, weil ich angeblich vergleichbare Modelle besitzen würde.

Zur Papiertüte hat Kanji schon einiges gesagt, dem ich zustimme.
weil ich angeblich vergleichbare Modelle besitzen würde’ wirkt auf mich recht gestelzt. Hier willst du ja wörtliche Rede paraphrasieren und ich habe mir überlegt, was Frau Winter wohl gesagt haben könnte. ‚So einen Pulli haben Sie doch schon.’ oder ‚Kann es sein, dass Sie schon einen ähnlichen Pulli haben?’ Vielleicht fällt dir eine etwas weniger umständliche Formulierung ein.

Mit jeder Stufe wiegen die Tüten schwerer und die Henkel ätzen sich wie Säure in die Handflächen.
Ich kenne dieses Gefühl, wenn die Tasche immer schwerer zu werden scheint. Aber ich glaube, dass eine Papiertüte wohl eher reißen würde, bevor ihre Henkel, die ja in der Regel auch aus Papier oder Pappe bestehen, dieses Gefühl 'ätzen wie Säure' erzeugen können.

Dorthin, wo sich auch die ungeöffnete Post türmt.
Hier hätte ich nun eher weitere nicht geöffnete Tragetaschen erwartet. Mir ist nicht ganz klar, worauf die ‚ungeöffnete Post’ verweisen soll. Rechnungen? Aber dann müsste sie Kleidung online bestellt haben, im Geschäft wollen sie sofortige Bezahlung. Und auch online ist Vorkasse üblich.

Wäre interessant für mich zu erfahren, was die zwei alten Haudegen für Bedingungen ausgehandelt haben.
’Haudegen’ hat für mich die Bedeutung von ‚Draufgänger’, aber eher ohne negative Konnotation. Und deshalb finde ich ‚zwei alte Haudegen’ für einen sehr dominanten Vater und einen grapschenden Apotheker eine beinahe liebevolle Bezeichnung.

Hier, wie an anderen Stellen auch, hatte ich Probleme mit der Wortwahl: ‚erhobenen Hauptes’, ‚brühwarm’, ‚ziemlich belämmertes Gesicht’ usw. Ich habe sie mir dann damit erklärt, dass du ja die Gedanken deiner Protagonistin wiedergibst. So denkt sie einfach.

Jedenfalls hat der Direktor persönlich dafür Sorge getragen, dass mich niemand mehr lautstark beschimpft hat.
Das Perfekt und das 'jedenfalls' haben mich an dieser Stelle gestört. Es wirkt so, als richte sich deine Protagonistin jetzt an einen Zuhörer, dem sie die Sache genau erklären möchte. Aber es sind ja nur Erinnerungen, die in ihr hochkommen, ihr dieses Schlüsselerlebnis noch einmal vor Augen führen. Ich würde hier deshalb (wie auch vorher und nachher) beim Präteritum bleiben.

„Komme gleich zu Ihnen“, raunt sie mir mit rauchiger Stimme zu.
Die ‚rauchige’ Stimme löst bei mir eine zusätzliche Assoziation aus. Das ‚zuraunen’ würde mir an dieser Stelle schon reichen.

Zum Titel ‚Du kannst das nicht’.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was du mit ihm sagen möchtest. Im Text finde ich verschiedene Bezüge:

Ich stand nur stumm und eingefroren und ließ die Anfeindungen zu. Zuhause verkroch ich mich hinter meinen Büchern und einem beharrlichen Schweigen.

Vater streichelte meine Wange, während ich mampfte. „Das werde ich für dich klären, mein Kind. Und morgen Nachmittag geht Mutti schön mit dir einkaufen.“
( Der Zusammenhang ‚Fresssucht und Kaufzwang’ ist mMn komplizierter und subtiler und nicht so einfach zu erklären. Aber ich bin kein Psychologe.)

Mein Vater ist bei mir, er kommt immer mit dem Sturm. Er lächelt milde und flüstert, so dass Frau Winter ihn nicht hören kann: „Aber, aber Prinzessin, das kannst du doch nicht machen.“
Was kann sie also nicht? Sie kann sich nicht wehren gegen die Hänseleien der Mitschüler. Ihr Vater glaubt, dass sie Situationen nicht allein bewältigen kann, traut ihr nichts zu, weder früher noch in der Gegenwart, hat ihr deshalb alles abgenommen, sie praktisch entmündigt. Gemeinsam mit einer Mutter, die zum Abendessen
... reichlich Kartoffeln, Gemüse und Schweinebraten
auftischt, hat der Vater – und er ist ja derjenige, von dem sie sich befreien möchte und nicht kann – seine Tochter in den Strudel von Ersatzhandlungen getrieben. Von ihm kann sie sich ebenso wie von ihren Süchten nicht befreien.

Oder drückt der letzte Satz eine Hoffnung aus:

Als sich die Schiebetüren des Kaufhauses für mich öffnen, legt sich das nervöse Zittern endlich.

Während sich ihr Zittern am Anfang in Erwartung des Kaufens legt

Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.
Die Inhaberin des Ladens kommt mir entgegen, …

, verschwindet es nun, als sie das Kaufhaus verlässt.

All das sind nur Gedanken, die ich mir beim Lesen notiert habe. Sie sollen aber in keiner Weise schmälern, dass dir hier eine wirklich gut durchstrukturierte und eindringliche Geschichte gelungen ist, die ich sehr gerne gelesen habe.

Liebe Grüße
barnhelm

*) Nachsatz: Ich habe mir gerade erklären lassen, das eine ausladende Geste auch nach vorne gerichtet sein kann.

 
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Hallo Gefrierpunkt,
danke fürs Lesen meiner KG und das liebenswürdige Kompliment.

was für ein verdammt eindrücklicher Text. Hat mich gepackt und mitgerissen und ich finde fast nichts, das ich ändern würde.

Nur ein paar Streichungen.

Noch so jung im Forum und schon den Geist vollständig verinnerlicht. :thumbsup: Ja, du hast recht, über Kürzungen lohn sich immer nachzudenken. Das werde ich auch ernsthaft tun, obwohl ich hier zunächst mal versuche zu begründen, warum ich noch zögere.

Gesine Brandt, krakelige Buchstaben einer unsicheren Kinderschrift.
Hier würde ich überlegen, ob es alles nach "krakelige Buchstaben" wirklich braucht. Wobei ich "unsicher" noch passender finde als das mit der Kinderschrift. Du erzählst später im Text ja von ihrer Kindheit. Da finde ich das hier vorgreifend.
Die Kinderschrift soll nur ein Hinweis darauf sein, dass Gesine unreif, unsicher, unfertig ist, so eine Handschrift kann ja angeblich eine Person eindeutig charakterisieren. Vielleicht mische ich mich mit meiner Ansicht als Autor wieder mal zu sehr ein, das muss ich noch abwägen.
Das, was du Vorgreifen nennst, denke ich, könnte man auch als sanftes Vorbereiten des Lesers auf die Erinnerung an die Kindheit sehen, mehr als dramaturgisches Vorgehen.
Vorerst lass ich die „unsichere Kinderschrift“ mal stehen.

Ich reiße die Packung Schnittkäse auf. Stoße die Schale mit den Tomaten um, sie kullern über den Küchenboden. Ich lecke Thunfischsalat von den Fingern und schiebe mir Kochschinken in den Mund. Ich schmecke nichts, aber ich stopfe weiter. Es fühlt sich alles so unwirklich an. Mir ist, als würde ich neben mir stehen und einer Irren beim Fressen zuschauen.
Langsam lasse ich mich auf die Knie fallen, dann trommle ich mit den Fäusten auf die Fliesen. Kein Schmerz.
Das hier. Das muss ich hervorheben. Wirklich gut.
Diese Stelle wurde auch von Kommentatoren nach dir als „gelungen“ bezeichnet. Das ist so ein klassischer Fall, der mir zeigt, wie verschieden wir Texte empfinden. Die ganze Zeit über war ich unzufrieden mit dieser Freßorgie, da fehlte mir irgendwie die Eindringlichkeit. Dann hab ich mir gesagt, der Fokus bei der KG liegt ja auf dem Kaufverhalten und das gestörte Essverhalten ist die „Nebensucht“. Außerdem hoffte ich im Stillen, die WK würden mir sagen, was da noch fehlt. Ist schon kurios. Oder?

Vater würde toben, sollte ich den Job hinwerfen, wo er sich doch so ins Zeug gelegt hat, ihn mir zu beschaffen.
Da ist alles drin, was man wissen muss. Die restlichen Details reißen mich nur raus aus dem ansonsten sehr dichten Text, weil sie Nebenschauplätze aufmachen, die du gar nicht brauchst.
Absolut korrekt. Das Anhängsel ist überflüssig und irreführend. Das ist mir nicht bewusst gewesen, dass dieser einzige Gedanke von Gesine den Leser auf eine falsche Spur locken könnte. Beim genauen Hinsehen erscheint es ja fast so, als würde der Vater seine Tochter verschachern. Danke dir.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich gegen den Spott und die Verachtung dieser mutigen, selbstsicheren und vor allem schlanken Kinder wehren sollte.
Eigentlich brauchst du hier nur 'mutig'.
'Selbstsicher' ist wahrscheinlich das bessere Wort im Hinblick auf die erwachsene Gesine, aber ein Kind würde 'mutig' sagen, „und hier sollte es das Wort eines Kindes sein.“
Das ist ein interessanter Gedanke und ich gestehe, ich weiß nicht recht, was zutreffend ist. Die erwachsene Gesine erinnert sich an das Mobbing. Verwendet sie da wirklich kindgerechte Ausdrücke oder sind die ihren Erkenntnissen angepasst? Das wäre eine generelle Frage. Bisher hab ich es so gehalten, wenn Erwachsene Erlebnisse aus der Kinderzeit schildern, dann verändert sich die erwachsene Erzählstimme nicht.

Dass diese Kinder nicht dick sind ... das fühlt sich für mich als Leser mir arg aufdiktiert an. Denn der Fokus liegt eigentlich auf Gesines Gewicht, nicht auf dem dieser anderen Kinder.
Sie ist dick. Und unter der gesichtslosen Masse mutiger Kinder sicher auch das eine oder andere nicht ganz so schlanke.
Kluge Argumentation. „Dick“ kann weg.

Doch noch während ich die Tür öffne, fällt die Euphorie zusammen wie ein Käsesoufflé.
Das Bild mit dem Käsesoufflé soll vermutlich zu ihrer Esssucht passen, mich stört es. Weil du im restlichen Text auch nicht mit so deutlich darauf bezogenen Bildern arbeitest.
Bei diesem Vergleich hab ich überhaupt nicht an die Essstörung gedacht. Aber jetzt, wo du es sagst, erscheint er mir doch nicht fehl am Platze zu sein, eher wie ein Brückenschlag zum Thema Essen.

Tatsächlich war ich die letzten Tage kurz davor, Vater zu bitten, meine Rechnungen zu begleichen. Doch in meinem tiefsten Innern will ich, dass Vater aus meinem Leben verschwindet. Alle sollen verschwinden.
Die beiden letzten Sätze würde ich ersatzlos streichen. Die brauchst du nicht. Das ist alles auch so klar. Der Text ist deutlich genug in seinen Szenen, ich brauche keine Erklärungen.
Ja, das sind typische peregrina-Erklärungen. Sollte auch auf den inneren Kampf der Prota hinweisen. Der letzte Satz wird gestrichen, bis mir eine Alternative einfällt.

Ich hätte gerne noch viel mehr Stellen herausgesucht, die mich beeindruckt haben. Aber das wäre ausgeartet.
Ein solcher Lesereindruck ist ein großartiges Kompliment für mich, da bin ich immer noch sehr gerührt, sogar etwas beschämt. Aber ich kann mich auch riesig darüber freuen.
Vielen Dank für deine Mühe und die konstruktiven Vorschläge, die ich berücksichtigen werde.


Liebe Grüße und ein angenehmes Wochenende,
peregrina

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Hallo Friedrichard,

danke für deinen Besuch und deine wichtigen Hinweise.
Glaubst du an Telepathie? Ich seit gestern schon.

Bliebe allein einTippfehler, aber nur durchs "durch",
, als müsse sie das, was sie sieht, durch ihre[n] Tastsinn bestätigen.
Gerade war ich nämlich genau auf die zitierte Textstelle aufmerksam geworden und dieses „m“ am Ende wollte mir gar nicht gefallen. Und damit nicht genug.
mit einem "mit" wärs anders ...
Ich dachte: Wenn da ein „mit“ stehen würde, wäre die Endung korrekt. Dann mein nächster, fast logischer, hoffnungsvoller, doch auch bequemer Gedankengang: Lass mal stehen, vielleicht schaut der Friedel in die KG, dem fällt die Ungereimtheit sicher auf.
Ich hoffe nur, dass ich nicht eines Tages auf die Idee komme, du solltest meine KGs schreiben. Kleiner Scherz am Rande.

was kann man da noch zu sgen, wenn es schon vorher auf den Punkt gebracht wird, selbst wenn diese Wellt der Gesine - Ironie der Geschichte? Gesine, norddeutsche Koseform der Gertrud, der Speer (= ger) trud (= trauen) - mir an sich fremd bleiben wird.
Die Bedeutung des Namens hab ich nicht hinterfragt. Aha, ein weiblicher mutiger Speer also. Vielleicht ist das gar nicht so ironisch, vielleicht findet die junge Frau einen Weg aus der Sucht, dem würde auch etwas Mutiges anhaften. Und ansonsten solltest du froh sein, dass dir die unheimliche Welt der Gesine fremd ist.

So bleibt die Beschränkung, etwa auf das schlechte Gewissen (ein gutes Gewissen kann es gar nicht geben, bestenfalls als Ruhekissen) sich als Vater meldet - denn ist in dem Zitat Vaters Rede nicht mehr als eine Aussage, "und ob" nicht entgegen seiner eigentlichen Bedeutung ein weniger fragendes als trotziges!)
Okay, wird geändert.

Mir ist, als würde ich neben mir stehen und einer Irren beim Fressen zuschauen.
Könnte von mir sein, …
Also doch. Ich komme wieder zum Irrwitz zurück, könntest doch mein Ghostwriter sein. :lol:

Friedel, noch mal danke fürs Lesen und ich grüble, welche deiner Geschichten ich kommentieren könnte.

Sonniges Wochenende und Gemüt wünscht dir peregrina


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Hallo ihr Lieben, Kanji, wieselmaus, Kerkyra und barnhelm,

danke für euer Interesse an meiner KG.

Durch eure Kommentare ist mir ein großes Missverständnis in der Auslegung des Schlusses aufgefallen. Hab vorerst minimale Veränderungen vorgenommen, um Klarheit zu schaffen.
Selbstverständlich melde ich mich noch mal in aller Ausführlichkeit.

Liebe Grüße,
peregrina

 
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Hallo peregrina,

ich noch mal. Irgendwie hat mich dein Schluss beschäftigt, weil er mir nicht logisch erschien. Aber es lag wohl daran, dass ich nicht genau genug gelesen hatte.
Jetzt lese ich ihn so, dass deine Protagonistin die Boutique (der Frau Winter) verlässt, durch die Innenstadt hetzt und wieder ein Kaufhaus betritt, wo sich dann ihr Zittern legt. So beginnt also alles wieder von vorne: Sie gibt sich ihrer Sucht hin, schafft es nicht, kann sich nicht dagegen aufbäumen.
Ich hoffe, dass der Groschen jetzt gefallen ist und bin gespannt auf deine Antwort.

Liebe Grüße
barnhelm

Ps: Habe gerade gesehen, dass du zwischenzeitlich den Schluss geändert hast und freue mich, dass ich noch nicht völlig gaga bin:D.

 
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Hallo peregrina,


schön, von dir zu lesen :).

Ja, auch mir gefällt dein Text. Ich konnte sehr schön hindurchgleiten, bin beinahe nirgends hängengeblieben. Ich nehme dir das ab, du spiegelst die Probleme deine Prota glaubhaft wider und alles spitzt sich schön zu. Kompliment. Ist dir bei mir gelungen. Nur den geilen Wiegand kaufe ich nicht. Ich finde diese zusätzliche Schippe Stress entbehrlich. Das bräuchte der Text nicht, finde ich.
Und dass ausgerechnet die gute Freundin von der Winter Psychotherapeutin ist ... Hm, ist natürlich ein sehr passender Zufall. Ich meine, gäbe es die nicht, die Psychotante, verlöre dein Text nichts. Aber gut, ist jetzt auch wirklich sehr penibel von mir und ich kann mit deiner Komposition sehr gut leben :).


Kleinvieh:


Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.
Der erste Satz weckt Neugierde in mir; passt also. Nur die Wiederholung stört mich gleich zu Beginn. Das ließe sich eleganter lösen, ohne den Haken abzustumpfen, finde ich.

Ich will die Teile anfassen, bevor ich sie auf meiner Haut spüre, bevor ich sie aus dem Laden trage. Und ich bin sicher, dass ich sie hinaustragen werde.
Ich würde das streichen - auch wenn du es vermutlich nicht machst :). Finde ich redundant im Kontext und irgendwie würde ich (beim zweiten Lesen) eher ein "Ich gucke mir das ja nur mal an", ein bisschen mehr Selbsttäuschung erwarten.

Frau Winter reicht mir noch den schmalen Rock und die türkisfarbige Georgettebluse in die Umkleide, dann wartet sie in meiner Nähe.
Nachdem ich später über ihre Körperfülle im Bilde bin, beißt sich das, finde ich. Und dass sie sich später für viel zu enge Kleidung entscheidet, wird ja eh klar. Ist also redundant und auch unglaubwürdig, da ich nicht davon ausgehe, dass die Winter diesen engen Rock in die Umkleide reichen würde.
So viele Worte für ein kleines Adjektiv, und das nur, um zu sagen: Weg damit :).
türkisfarbene

Ich genieße ihre Blicke, schreite vor dem Spiegel auf und ab, wiege mich dabei leicht in den Hüften. Dann breite ich die Arme wie Schwingen aus und drehe mich zu den Walzerklängen, die den Raum unvermittelt fluten. Ich kann fliegen. Ich schwebe, ich lebe und ich bin schön.
Ist mir zu fett aufgetragen. Würde ich killen.

Die zweite Tragetasche platzt gleich aus allen Nähten, während Frau Winter sich bemüht, die Pullis unterzukriegen, die sie mir vor wenigen Augenblicken noch ausreden wollte, weil ich angeblich vergleichbare Modelle besitzen würde.
Glaube ich ihr nicht.

Er lächelt milde und flüstert, so dass Frau Winter ihn nicht hören kann: „Aber, aber Prinzessin, das kannst du doch nicht machen.“ Und ob! Du solltest mal sehen, wie souverän ich einkaufen kann.
Ich kaue auf der Unterlippe und hoffe darauf, dass das Brausen und Rauschen verschwinden möge, damit ich Frau Winters Worte verstehen kann. Aber das muss ich nicht, ich kann von ihren Lippen ablesen:
Ließe sich vermeiden.

Wie ein geprügelter Hund schleiche ich die Treppe zu meiner Wohnung unters Dach hinauf.
Klingt irgendwie schräg für mich. Vielleicht: "unterm Dach"? Keine Ahnung, ich würde das Dach einfach weglassen.

Gesine Brandt, krakelige Buchstaben einer unsicheren Kinderschrift.
Klingt für mich wie ein typisches Merkmal für Fress- und Kaufsüchtige :). Den Verstärker hier würde ich auch killen.

Drei Packungen darf ich nicht aushändigen", zische ich.
Ist dem so? Und dann macht sie es doch? Würde ich streichen und damit weitermachen: „Es ist Ihnen bekannt, dass das Mittel die Leber schädigen kann?“.

„Ich mag üppige Frauen, sie sind so weich und willig.
Ich hab' das schon geschrieben: Ich würde den geilen Wiegand eliminieren. Beschränke dich doch auf die Geldnot, das fügt sich ausreichend in den Text ein, finde ich. Da braucht es nicht noch eine engere Schlinge, die du ja auch wieder fallen lässt und nicht weiter zuschnürst. Du machst mich nur neugierig auf den geilen Sack und befriedigst meine Neugierde ohnehin nicht mehr im Text.
Wenn du aber darauf bestehst, könntest du den Nebensatz streichen. Ist schon sehr too much, finde ich.

„Das werde ich für dich klären, mein Kind. Und morgen Nachmittag geht Mutti schön mit dir einkaufen.“
Ich weiß nicht. Redet der so? Mein Kind und Mutti ... Hm, komischer Kauz. Könntest du mal überdenken.

Doch noch während ich die Tür öffne, fällt die Euphorie zusammen wie ein Käsesoufflé.
Ließe sich vermeiden. Entscheide dich doch für eins, der beiden.

„Komme gleich zu Ihnen“, raunt sie mir mit rauchiger Stimme zu.
Würde ich auch rausnehmen.

„Die Rückbuchung. Ist mein Schreiben nicht angekommen? Sie wohnen doch in der Klostergasse zwei?“
Das hat mich stutzen lassen. Geht das? Ich meine, mit EC kann man nur bezahlen, wenn das Konto ausreichend gedeckt ist. So was kann doch nur bei Überweisungen oder Lastschrift passieren, oder?
Aber egal - ich kann das auch ignorieren.


So, jetzt bin ich durch und überlasse dir mein Gemecker (gibt viel mehr Positives im Text!), mit dem du machen kannst, was du willst. Natürlich soll das nicht darüber hinwegtäuschen - wie eingangs beschrieben -, dass mir deine Kurzgeschichte insgesamt wirklich gut gefallen hat, peregrina.


Vielen Dank fürs Hochladen!


hell

 

Liebe barnhelm,

nein, über deine Kombinationsgabe musst dir wirklich keine Sorgen machen. Du warst ja nicht die Einzige, die falsche Schlüsse gezogen hat. Dem Text hat es klar an präzisen Formulierungen gefehlt.
Die "Boutique" hat nun den "Laden" ersetzt und das Hetzen durch die Innenstadt macht den Ortswechsel der Prota deutlich.

Ich wollte unbedingt auf ein glückliches Ende hinarbeiten, um dann den Leser zu zeigen: Das Zerbröseln der Karte ist die einfache Lösung, viel einfacher als Hilfe anzunehmen und aus diesem "Teufelskreis" zu entkommen. Deswegen gibt sich Gesine auch dem Kaufrausch hin. Die Geschichte endet so wie sie begann. Und doch bleibt der Hoffnungsschimmer, dass Gesine es schaffen wird.

Danke für deine Mühe und ein sonniges Wochenende

----------------

Hi hell,

hab gerade deinen Komm gelesen. Dankeschön. Dein Zauberwort heißt wie immer: Streichen.
Werde jeden Vorschlag genau prüfen, dafür brauche ich Zeit. Diese Ansage ist eigentlich redundant, weil, du kennst ja meine Vorgehensweise. :hmm:

Schönes Wochenende und liebe Grüße,
peregrina

 
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Guten Morgen liebe Kanji,

danke für deine Zeit, deine lobenden Worte und deine Anregungen, die mich gelegentlich in die Zwickmühle bringen, wie gleich zu Beginn:

der Titel will mir einfach nicht gefallen und für meinen Geschmack spiegelt er auch viel zu wenig von der Tiefe und Tragik deiner Protagonistin wider.
Vom Klang her ist er nicht der Bringer, da ist mir auch schon Eleganteres untergekommen, jedoch steckt in ihm die Ursache für Gesines Kaufsucht (durch die zu starke Bevormundung wenig Selbstvertrauen), deshalb trifft er den Nagel auf den Kopf.
„Sehnsucht“ hatte ich kurz in Erwägung gezogen (hinter jeder Sucht steckt eine Sehnsucht), war mir aber wiederum zu allgemein.
Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.
Mir hätte es besser gefallen, wenn gleich hier klargestellt worden wäre, dass es sich um ein Geschäft handelt, um eine Vorstellung zu bekommen. Ein Erwähnen, z.B. eines zarten Glockenspiels beim Schließen der Tür könnte mir gefallen. Ich brauche die Ungewissheit nicht.
Aber gleich im darauf folgenden Satz wird doch die „Ungewissheit“ beseitigt, Glockenspiel ist schön romantisch

Frau Winter reicht mir noch den schmalen Rock und die türkisfarbige Georgettebluse in die Umkleide, ...
Heißt es tatsächlich lediglich Umkleide? Nicht Umkleidekabine?
Beides ist möglich. Umkleide ist sehr umgangssprachlich.

Die Musik verstummt.
Das bemerkte ich schon vorher. Und kommt für mich zu spät.
Das sind deine geschulten Augen. Ich mag den Kurzsatz vorerst nicht eliminieren.

Papiertaschen sind nicht genäht und Frau Winter würde sicher ohne mit der Wimper zu zucken bei diesem Umsatz weitere Tüten spendieren und ich kann mir bei aller Freundlichkeit auch nicht vorstellen, dass sie ihr etwas ausreden wollen würde, selbst wenn sie zu diesem Zeitpunkt schon ahnt, dass was nicht mit Gesine stimmt.
Papiertragetaschen haben eine Klebenaht, trotzdem hab ich „Papier“ entfernt.
Stimmt, ohne Zucken würde sie nach einer weiteren Tüte greifen,
der Ruf des Verkäufers ist um Längen schlechter als sein wirkliches Berufsethos

Wie ein geprügelter Hund schleiche ich die ... und die Henkel ätzen sich wie Säure in die Handflächen. Oben empfangen mich leere, kalte Räume.
Da ich beeindruckt bin, fällt es mir an dieser Stelle schwer, die üblichen Klischeeaussprüche zu schlucken und ich wünschte, du hättest für Gesine eigene gefunden.
Der „geprügelte Hund“ war mir als Klischee bewusst, da suche ich nach einer anderen Möglichkeit, die Säure gefällt mir.

Die beängstigende Kühlschrankszene ist wirklich eindrucksvoll gezeigt. Ich spüre die Kälte und ihre Leere.
Genau da dachte ich, krieg ich Pfeffer, aber ihr seid euch einig, die Szene passt. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.

Auch der nachfolgende Dialog mit der alten Frau kennzeichnet Gesine wundervoll. Sie weiß drum. Um sich, um Diagnosen. Und ihre Gefühllosigkeit scheint mittlerweile nicht nur sie selbst zu betreffen.
Als gefühllos sehe ich Gesine nicht. Sie kennt die alte Dame, beide spielen das Theater regelmäßig. Gesine kapituliert vor dem resoluten Auftritt und irgendwie auch aus einem Verständnis heraus, denn sie erkennt, dass sie es mit einer Tablettensüchtigen zu tun hat.

Und um es rund zu machen, kommt auch noch der grapschende Protegé Wiegand ins Spiel. … Ich bin mir nicht ganz einig, ob er Papas Gegenspieler ist, oder ob er das väterliche Machtgehabe untermauern soll?!
Wiegand tut seinem Schulfreund einen Gefallen, indem er Gesine anstellt. Er findet die korpulente Frau anziehend und nimmt sich Rechte heraus, die er nicht hat, sie möglicherweise aus dem Freundschaftsdienst ableitet.

Mit einem Mal kann ich die Gier des alten Wiegand begreifen. So muss es ihm in meiner Nähe ergehen, genauso will er sich in mein Fleisch vergraben, mich besitzen. Drecksack! Die Hände sollen ihm abfaulen!
Hier kann ich nicht so recht nachempfinden. Weder das Verständnis für den Apotheker, noch die aufkeimende Wut. Ich dachte, sie wäre nur noch ganz bei sich und abgestumpft. Aber das liegt wohl an mir.
Körperlichen Schmerzen gegenüber ist sie taub, wenn Scham- und Schuldgefühle, sowie Verzweiflung dominieren. Die Übergriffe ihres Chefs machen sie hilflos, wütend und sie sind der Auslöser für erneutes Kaufverlangen.
Allerdings bewegte mich von Anfang an die Frage, ob sie wirklich noch in dem Moment (das Kauferlebnis scheint ja bevorzustehen) überhaupt noch an Wiegand denken kann oder ob dieser starke Sog alle anderen Gedanken tilgt. Mir hat einfach gefallen, das Greifen von Stoffen und das Grabschen nach Jungfleisch gleichzustellen. In diesem Falle stehen beide Handlungen schlussendlich für etwas Verbotenes.

Du lässt sich die Lage zuspitzen, sowohl mit den Kindheitserinnerungen, die ja wohl immer da sind, wenn auch eher unterbewusst, als auch mit der Situation der Zahlungsunfähigkeit in der Boutique, du Füchsin.
Naja, ich wollte halt wenigstens einmal eine KG schreiben, in der die Handlung auf Höhe- und Wendepunkt zuläuft. Weißt schon, ähnlich einer Fieberkurve.

Es ist so einfach, die Zellulose zu zerfasern.
Ja, mit einer Diät ist es bei Gesine sicher nicht mehr getan und da sie kurzerhand ins Kaufhaus stürzt, sehe ich für eine unmittelbare Wende schwarz. Traurige Sache.
Ja, das ist eine wesentliche Aussage, Zellulose zerfetzen ist unkomplizierter als von Süchten loszukommen. Aber das offene Ende nimmt der KG die Tragik, für Gesine besteht wirklich Hoffnung, glaub es mir.

Du merkst, ich bin eingetaucht in deine traurige Geschichte und empfinde sie als sehr wertvoll.
Schönes Lob, ich habe dir zu danken.

Liebe Grüße und schönen Sonntag,
peregrina


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Liebe wieselmaus,

das freut mich, dass du meine KG gelesen hast und sie dich erreichen konnte.

Ich finde, das ist ein sehr stimmiges Psychogramm einer Frau, die seit Kindheit wegen ihrer Körperfülle massive Minderwertigkeitsgefühle entwickelt hat. Und daran hat ihr Vater keinen unwesentlichen Anteil. Na, wer sag's denn, Väter und Töchter eben.
Ja, Väter-Töchter-Beziehungen können es in sich haben.
Das war ein komplizierter Vorgang, mich in eine Suchtkranke zu versenken, bin mir auch nicht sicher, ob ich alle Aspekte berücksichtigen konnte. An erster Stelle wollte ich zeigen, wie diese Momente der Rausches (die ich mir wie eine Trance vorstelle) ablaufen. Dann die Scham, dem Zwang nicht widerstanden zu haben.

Natürlich gleitet nicht jedes übergewichtige Mädchen in eine solche Leidensgeschichte ab, aber dass Essstörungen wie Bulimie oder Esssucht zunehmen, ist wohlbekannt.

Deine Prota hat einen weiteren Zwang entwickelt, Kaufzwang, wobei sie erhebliche Raffinesse an den Tag legt, um nicht als Betrügerin aufzufliegen.
Meine Prota wurde/wird durch die Eltern gegängelt, bevormundet, überbehütet und ihr wird die Möglichkeit genommen, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Eine Sucht kommt selten allein und genau diese Kombination fand ich genial. Zumal sie auch den gesellschaftlichen Aspekt tangiert. Dick? Nee, dick solltest du bitteschön nicht sein, aber kaufen, ja kaufen darfst du ohne Ende, auch wenn der finanzielle Ruin die Folge ist.

Jedoch schafft keine Befriedigung dieser Sucht irgendeine Erleichterung oder gar ein Glücksgefühl, allenfalls in den kurzen Momenten der Anprobe oder wenn sie mit vollen Taschen aus der Boutique flieht.
Die Hauptursache der Sucht ist wirklich die Sehnsucht nach Anerkennung, nach Glücksgefühlen (Belohnungssystem). Insgesamt ein Wahnsinnsthema, das mich seit längerer Zeit beschäftigt, weil ich so faszinierend finde, welche Hintertürchen sich die menschliche Psyche öffnet, um sich besser zu fühlen. Eine ausgeklügelte Falle.
Und tricksen, lügen und betrügen (auch sich selber) sind zwangsläufige Folgeerscheinungen.

Langsam trommle ich mit den Fäusten auf die Fliesen. Kein Schmerz

Die Abwesenheit von Gefühlen, ohne Zugang zu sich selbst, scheint mir ein zentraler Punkt im Leben deiner armen Prota zu sein.
Das ist eine Aussage, die mich nachdenklich macht. Kanji hat ebenfalls Gefühllosigkeit
herausgelesen, da hab ich schon was dazu geschrieben.
Gesine verfügt über eine breite Palette Gefühle. Ich bring’s mal in ein einfaches Schema:
Einsam, traurig, minderwertig, leer vor dem Kauf/Essen,
wütend, hilflos, (dick) beim Übergriff,
bewundert, geachtet, wertvoll während des Kaufens,
beschämt, schuldig, leer, traurig nach dem Kauf/Essen.
Sie ist ständig bemüht, negative Gefühle zu betäuben und positive Gefühle hervorzurufen. Wie wir alle, hihi. Ich überprüfe den Text noch mal auf die Wirkung „Abwesenheit von Gefühlen“.

Da fällt mir im Plot ein Bruch auf. Der Vater hat ihr einen Arbeitsplatz in einer Apotheke verschafft, bei einem alten Schulfreund. Dieser wird übergriffig und sie entwickelt Zorn, was ja ein sehr starkes (Ersatz-)Gefühl ist. Mit dieser Szene machst du einen neuen Thread auf, und ich frage mich, ob dies nötig ist. Würde es nicht reichen, wenn sie altväterliche Gesten, die durchaus wohlwollend gemeint sind, missinterpretiert, geprägt von den Erlebnissen mit dem Schulkameraden Heiko? Sonst muss ich mich tatsächlich fragen, ob ein Vater so ahnungslos seine Tochter an einen alten Wüstling verschachert. Oder willst du eine latente Missbrauchsgeschichte durch den Vater andeuten?
Missbrauch will ich auf keinen Fall andeuten, es ist eindeutig Überversorgung. Ich werde die Szene noch mal unter die Lupe nehmen und etwas Luft ablassen. Die Vaterfigur verfolgt nur gute Absichten und Wiegand greift, im wahrsten Sinne des Wortes, einfach zu. Siehe Antwort an Kanji. Bei einer gesunden Person sicher ein Vorkommnis, das nicht der Rede wert ist. Die würde einmalig ein deutliches Wort zur Belästigung sprechen und Wiegand seine Grenzen aufzeigen.

Allerdings habe ich noch keine Verkäuferin erlebt, die mir einen Kauf ernsthaft ausreden wollte.
Da musste ich schmunzeln. Doch, ich bin sicher, es gibt Verkäufer, die ein Gewissen haben. Und nicht nur, wenn ihnen extreme Fälle von Kaufsüchtigen begegnen.

Und die Adresse für eine Psychotherapie hätte ich eher in einer Apotheke erwartet.
Nicht unbedingt. Das Suchtverhalten wird ja beim Kaufprozess erkennbar.

Ich hätte noch einen kleinen Vorschlag:
Hier würde ich ergänzen:

... reichlich Kartoffeln, Gemüse und Schweinebraten. Mit Soße. Viel Soße.


Die Idee ist klasse, die greife ich auf. Ja, die Soßen können die Kalorienbomben sein.

Eine gute Geschichte, liebe peregrina. Und aktuell.
Danke für die Lorbeeren. Meine Befürchtung, Sucht wird immer ein aktuelles Thema bleiben.

Liebe Grüße und einen schönen Sonntag wünscht dir peregrina

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Kerkyra,

danke für deine Beschäftigung mit meiner KG und deine wichtigen Anmerkungen, natürlich auch für das dicke Lob:

wow, das ist eine wirklich gute Geschichte, die Du hier spannend und mit viel Einfühlungsvermögen erzählst.
Du schaffst es, Mitgefühl beim Verkäuferin stecken, die Leser zu erzeugen, die Charaktere wirken erschreckend authentisch.
Ich muss unbedingt eine interessante Feststellung zum Besten geben: In einem schmerzhaften Prozess habe ich hier gelernt, mit negativen Bescheiden umzugehen, und sie als Chance auf Weiterentwicklung zu sehen. Nun erfahre ich, dass sich die Handlung der KG spannend liest (das war beabsichtigt) und dass mein Personal Empathie beim Leser hervorruft (das ist ein Nebeneffekt) und was soll ich sagen. Mit Lob und Anerkennung kann ich noch weniger umgehen. :confused:

… eine traurige Geschichte mit einem Thema, über das man hier nicht so viel zu lesen bekommt.
In meinen anderen Antworten hab ich schon erwähnt, dass mich diese Sucht-Phänomene total fesseln. Ich kann mir gut die Zerrissenheit und die Verzweiflung der Betroffenen vorstellen, die strampeln und strampeln …
Über Alkoholkrankheit, Drogen- und Spielsucht denke ich hier im Forum schon gelesen zu haben.

Du sprichst ein paar Dinge an, auf die auch andere Mitglieder hingewiesen haben.
Da ist der erste Satz schon schief und ich hab das nicht bemerkt. Dein Vorschlag:
Genau in dem Moment, als die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern."
Wird übernommen!

Zunächst stelle ich meine Handtasche auf dem Sessel ab, ich brauche freie Hände.
Hier stolpere ich über das "Zunächst". Würde ich streichen.
Vielleicht hab ich mich da in einer eigenen Falle gefangen. Da bei der Ich-Perspektive das ständige ich, ich, ich am Satzanfang nervt, wollte ich kreativ sein. Mal sehen, was geht.

Mein Körper kribbelt, als wäre er von einer Ameisenarmee besetzt, und mir ist so heiß, als hätten die Biester ihr Gift gerade abgesetzt.
besetzt/abgesetzt hört sich nicht gut an. Ihr Gift "losgelassen/versprüht"? Ich kenne den korrekten, biologischen Ausdruck nicht.
Ja, für die Dopplung hatte ich auch kein Auge. "Versprühen" oder "verspritzen" wäre angebrachter.

Wenn das Kleid zu eng ist, kann man es nicht raffen. Ich würde schreiben : "gespannten" Stoff.
Stimmt, ist besser, hat mich auch selber nicht überzeugt.

An ein paar Stellen könntest Du diese erklärenden Sätze weglassen, die braucht es meiner Meinung nach nicht. Wie hier, der fett gedruckte:
Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass mir die neuen Sachen vollkommen egal sind? Mich fröstelt, der Kühlschrank fällt mir wieder ein.
Ebenfalls richtig! In der Urfassung gab es noch mehr erklärende Zusätze, von denen konnte ich mich
vor dem Einstellen der KG trennen. Bei diesem Satz hab ich lange mit mir gerungen, er wird dem umfassenden Face-Lifting zum Opfer fallen: Straffen und glätten, aber erst in den nächsten Tagen.

Da ist noch ein Rest Apfeltorte und Salamipizza von gestern. Ich reiße die Packung Schnittkäse auf. Stoße die Schale mit den Tomaten um, sie kullern über den Küchenboden. Ich lecke Thunfischsalat von den Fingern und schiebe mir Kochschinken in den Mund.
Sehr anschaulich und sehr erschreckend ...
Kann ja sein, du hast schon in meine vorangegangenen Antworten gelinst. Für den Fall, dass nicht: Das ist so ein Textabschnitt, der mir gar nicht gefallen wollte, da hatte ich mit kritischen Einwänden gerechnet.

Liebe Kerkyra, danke für deinen Besuch und ich bin sicher, wir lesen uns.
Bis bald und liebe Grüße,
peregrina

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Liebe barnhelm,

deine Einschätzung macht mich froh.

das ist ein sehr runder und gut durchdachter Text, der mich als Leser von der ersten Zeile an mitnimmt und auch hält. Diese beiden Süchte, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass man nicht satt werden kann, so viel man auch isst bzw. kauft, hast du eindringlich dargestellt.
Anzumerken gibt es von mir nicht viel, zumal wohl schon die meisten Kleinigkeiten erwähnt worden sind und sich deshalb einiges sicherlich erledigt haben wird. (Manches, was ich mir notiert habe, erscheint mir im Nachhinein etwas pingelig, aber sei’s drum.)
Deine „pingelichen“ Anmerkungen brauche ich, um meinen Blick zu schärfen.

Eine ausladende Geste stelle ich mir so vor, als beschriebe Frau Winter mit der Hand einen Halbkreis. Aber so kann sie mMn nicht auf den Kleiderständer zeigen. *)
Hier hätte ich ohnehin widersprochen, selbst wenn die Bewegung halbkreisförmig sein sollte, wäre es kein Problem. Die Geste der Winter könnte ja auch Stolz auf ihr Geschäft ausdrücken.

...und drehe mich zu den Walzerklängen, die den Raum unvermittelt fluten.
‚unvermittelt’ bedeutet ja eigentlich ohne Übergang, ohne einen Mittler. Hier würde mir das simple Wörtchen ‚plötzlich’ mehr einleuchten.
Aber „plötzlich“ lässt doch auch keinen Übergang zu. Oder hängt da mein Weltbild schief?
Generell versuche ich, „plötzlich“ zu vermeiden, weil, da kommt die Assoziation hoch: Plötzlich trat ein Reh aus dem Unterholz. Auf der Suche nach einem geeigneten Synonym bin ich auf „unvermittelt“ gestoßen, das schien mir geeignet. Und nun?

Die zweite Papiertragetasche platzt gleich aus allen Nähten, während Frau Winter sich bemüht, die Pullis unterzukriegen, die sie mir vor wenigen Augenblicken noch ausreden wollte, weil ich angeblich vergleichbare Modelle besitzen würde.
Zur Papiertüte hat @Kanji schon einiges gesagt, dem ich zustimme.
Eigentlich ist die Entstehungsgeschichte der Papiertüte witzig und hat viel mit unterbewussten Entscheidungen zu tun. Also, um jeden Preis sollte die Winter kluge, vernünftige, fürsorglich Züge tragen, sie ist ja der Gegenpol zur süchtigen Gesine. (Dieser Schachzug ist mir nicht gelungen, dazu komme ich später, sie versagt nämlich bei der Wahl der Zahlungsweise.) Jetzt schätze ich mich doch als recht umweltbewusst ein und sehe stets die Flut der Plastiktüten in den Ozeanen vor mir. Also sagt mein Unterbewusstsein: Die Winter bietet selbstredend Papiertragetaschen an, die sind zwar teurer und und und ...
Wenn das „Papier“ natürlich Anlass zu verschiedenen Zweifeln gibt, weg damit. Nun bleibt es offen, aus welchem Material die Tüten sind. Damit ist auch der Einwand mir den einschneidenden Henkeln aus der Welt geschafft.

‚weil ich angeblich vergleichbare Modelle besitzen würde’ wirkt auf mich recht gestelzt. Hier willst du ja wörtliche Rede paraphrasieren und ich habe mir überlegt, was Frau Winter wohl gesagt haben könnte. ‚So einen Pulli haben Sie doch schon.’ oder ‚Kann es sein, dass Sie schon einen ähnlichen Pulli haben?’ Vielleicht fällt dir eine etwas weniger umständliche Formulierung ein.
In der Regel sind meine Sätze simpel gestrickt. Kaum will ich beweisen, dass ich auch Nebensatzkonstruktionen kann, geht’s daneben. :lol:
Aber im Ernst, meinst du, die Wiedergabe wörtlichen Rede an dieser Stelle wäre anschaulicher?

Dorthin, wo sich auch die ungeöffnete Post türmt.
Hier hätte ich nun eher weitere nicht geöffnete Tragetaschen erwartet. Mir ist nicht ganz klar, worauf die ‚ungeöffnete Post’ verweisen soll. Rechnungen? Aber dann müsste sie Kleidung online bestellt haben, im Geschäft wollen sie sofortige Bezahlung. Und auch online ist Vorkasse üblich.
Ein berechtigter Einwand. Die Post symbolisiert zum Teil das Leugnen der Sucht. Was man nicht sieht, existiert nicht. Da liegen natürlich noch andere Einkäufe, aber auch Briefe von der Hausbank und Mahnungen (eingestellte Ratenzahlungen von Anschaffungen, Miet- und Strom- und Gasschulden).
Online kauft Gesine sowieso nicht ein, da ginge ihr der Verkäufer als „Verbündeter“ und dessen Anerkennung verloren.

... hatte ich Probleme mit der Wortwahl: ‚erhobenen Hauptes’, ‚brühwarm’, ‚ziemlich belämmertes Gesicht’ usw. Ich habe sie mir dann damit erklärt, dass du ja die Gedanken deiner Protagonistin wiedergibst. So denkt sie einfach.
Natürlich ist das Gesines Art zu denken und zu reden. In diesen Momenten trete ich als Autor aber gleichzeitig deutlich in den Vordergrund, das erkenne ich wohl. Aber ich frage mich auch: Gibt es einen überzeugenden Grund, warum ich diese Adjektive austauschen oder beseitigen sollte? Ich würde mich da einem Bereich nähern, der stark an Selbstverleugnung grenzt. Gut, „ziemlich“ kann weg. Dann muss ich entscheiden, da Gesine ihr Gesicht nicht sehen kann, ob ich es überhaupt beschreibe. Denn, verdutzt, erstaunt, verdattert … ich sehe immer das Problem, der Autor wertet.
Hilfe! Die gesamte KG ist doch durch mein privates Wertesystem gelaufen, bewusst oder unbewusst.

Zum Titel ‚Du kannst das nicht’.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was du mit ihm sagen möchtest. Im Text finde ich verschiedene Bezüge:
"Ich stand nur stumm und eingefroren und ließ die Anfeindungen zu. Zuhause verkroch ich mich hinter meinen Büchern und einem beharrlichen Schweigen."
"Vater streichelte meine Wange, während ich mampfte. „Das werde ich für dich klären, mein Kind. Und morgen Nachmittag geht Mutti schön mit dir einkaufen.“
( Der Zusammenhang ‚Fresssucht und Kaufzwang’ ist mMn komplizierter und subtiler und nicht so einfach zu erklären. Aber ich bin kein Psychologe.)
Ich bin auch nur Hobbypsychologe und das sind die Gefährlichsten. :rolleyes:
Alles, was ich hier zum Besten gebe, ist angelesenes Wissen, und das hab ich versucht, in einer KG glaubhaft umzusetzen. Und wenn ich mich auch anhöre, als wäre ich der amtierende Weltmeister im Klugscheißen, folgende Gedanken:
Süchte treten oft in Kombination auf. Kaufen und essen (du hast es treffend geschrieben), man tut es, um sich zu sättigen, aber es gelingt nicht. Auch ist Kleidung ein schönes Bindeglied. „Erklären“ wollte ich nichts, nur anhand einer Szene exemplarisch die Verknüpfung zeigen und welche Einflüsse Gesine geprägt haben.
Mein Vater ist bei mir, er kommt immer mit dem Sturm. Er lächelt milde und flüstert, so dass Frau Winter ihn nicht hören kann: „Aber, aber Prinzessin, das kannst du doch nicht machen.“
Was kann sie also nicht? Sie kann sich nicht wehren gegen die Hänseleien der Mitschüler. Ihr Vater glaubt, dass sie Situationen nicht allein bewältigen kann, traut ihr nichts zu, weder früher noch in der Gegenwart, hat ihr deshalb alles abgenommen, sie praktisch entmündigt.
Besser hätte ich es nicht erklären können. Der Vater spricht Gesine durch seine Fürsorge unbewusst die Fähigkeiten zu entscheiden und zu handeln ab. Sie kann gar nichts.
„Du kannst das nicht“ ist der „Glaubenssatz“, der sie in ihrer Kindheit begleitet hat (in vielen Lebenssituationen) und nun im Unterbewusstsein wirkt und die Wurzel allen Übels ist. Geringes Selbstwertgefühl und Kompensation durch Süchte. Das sollte die Kernaussage des Titels sein, natürlich stark vereinfacht. Auch wenn der Titel in meinen Ohren fürchterlich klingt, dachte ich bislang, er passt. Du willst mich auch nicht ins Schleudern bringen, oder?
Denn das Missverständnis vom Ende (ganz klar mein Versäumnis) haben wir ja schon abgeklärt. Auch wenn Gesine ins nächste Kaufhaus rennt (ich denke, in dem Moment kann sie gar nicht anders), haben die Ereignisse etwas in ihr bewirkt.
Man könnte auch schlussfolgern, im Titel ist die Botschaft verborgen, sie kann der Sucht nicht entkommen, aber das wollte ich definitiv nicht sagen.

Liebe barnhelm, deine Anregungen haben wieder einmal bewirkt, dass ich den Text und meine Absichten in der „Nachlese“ gründlich hinterfragt habe. Solltest du gelegentlich meine Erwiderungen als schnippisch wahrnehmen, dann könnte dein Lob mir in den Kopf gestiegen sein.

All das sind nur Gedanken, die ich mir beim Lesen notiert habe. Sie sollen aber in keiner Weise schmälern, dass dir hier eine wirklich gut durchstrukturierte und eindringliche Geschichte gelungen ist, die ich sehr gerne gelesen habe.

Vielen Dank für deine Mühe und Zeit und die vielen Impulse, die mich sehr weiterbringen.

Liebe Grüße,
peregrina

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe peregrina,

sehr stimmig, sehr eindrücklich schilderst du in deiner Geschichte die Dämonen der Protagonistin - in der Kindheit entstanden und doch so gegenwärtig - und was sie in ihrem Leben anrichten. Mir gefallen einige deiner Formulierungen ganz besonders, zum Beispiel:

Ich komme mir wie in einem Theaterstück vor, in dem jeder seinen vorgegebenen Text so überzeugend wie möglich herunterbetet.
Kann sein, weil ich mich selbst manchmal so fühle :-)? Oder
Ich stand nur stumm und eingefroren ...
Einfach und nachfühlbar geschrieben. Und ich mag Frau Winter, der ihre Kundin auch jenseits von Geschäftsinteressen am Herzen liegt. Ich habe ja Hoffnung, denn so ein Hilfsangebot muss sich eben erst mal setzen, bevor jemand tatsächlich in der Lage ist, es anzunehmen.

Sehr schön,
viele Grüße,

Eva

 

Wenn erwachsene Menschen für all Unbill im Leben die Schuld immer noch bei ihren Eltern suchen, sind sie einfach noch nicht wirklich erwachsen. Diese Gesine in deiner Geschichte, peregrina, hat anscheinend eine Uni-Ausbildung hinter sich und steht in der Apotheke ihren „Mann“, aber im Privaten denkt und verhält sich wie ein Kind mitten in der Pubertät: Trotzig und unvernünftig.

Ich habe nicht viel übrig für Menschen wie sie, will sagen: Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Obwohl gerade die Geschichten über Einzelschicksale es sind, die Menschen zu Tränen rühren und sie ihre Geldbeutel öffnen lassen. :D

Obwohl du diese Geschichte wirklich gut komponiert hast, wird nicht klar, woher der Grund für ihr Grundübel, ihr Dicksein, kommt; dass einmal erwähnt wird, dass die Mutter ihr den Teller mit Gemüse und Schweinebraten anhäufte und anschließend mit ihr einkaufen ging, reicht mir nicht. Da muss mehr gewesen sein.

Aber gut, die Prot muss das nicht wissen. Ihr reicht ja vollkommen, dass sie mit Wut im Bauch an ihren Vater denkt – typisch: Töchter hadern oft mit dem Vater, obwohl der meistens kaum da ist – und an anderen Menschen, denen sie begegnet, die allerdings nichts anderes verbrochen haben als „normal“ zu sein oder auch nur so scheinen.

In gewisser Weise ist sie wie heutzutage die sogenannten Wutbürger, die ihrerseits kaum etwas auf die Reihe gebracht haben und dafür alle anderen, denen es anscheinend besser geht als ihnen, hassen. Man könnte geneigt sein zu sagen: Sie sind alle in der Pubertät steckengeblieben.

Okay, das war jetzt off-topic – und gleichzeitig ein Symptom dafür, dass ich zum Text nichts mehr sagen kann als: Gut geschrieben.

 

Hola peregrina

Ihr Lächeln ist warm, es umarmt mich.
Heh! Das fängt ja gut an! Und so geht es weiter.
Meinen allerherzlichsten Glückwunsch zur neuen Geschichte.
Klasse gemacht. Toll geschrieben, gut recherchiert. Herz – was willst du mehr?

Meine Vor-Kommentatoren haben schon alles erwähnt, was eventuell erwähnenswert ist oder scheint. Bleibt mir nur der Applaus, stehend – versteht sich.
Es wäre müßig, über dies und das zu palavern, weil die gesamte Geschichte von der Themenwahl bis zum letzten Punkt ein gutes Stück Schreibarbeit ist. Und weil sie darlegt, dass Zielstrebigkeit, Fleiß und Intelligenz zwangsläufig zum Erfolg führen (müssen).

Die Aktualität und Brisanz Deiner Geschichte trifft ins Schwarze. Zeitalter der Süchte. Bin ich mal in unserer wunderschönen Stadt Pécs, begegnen mir die Gesines dutzendweise.
Das nimmt mich richtig mit. Jung und (eigentlich) gesund, leben die ein Ersatz-Leben und träumen vom ‚richtigen’, das allerdings bei ihren Maßen in weiter Ferne bleiben wird.

Eigentlich habe ich besonders schöne Stellen zitieren wollen, aber die reihen sich so dicht aneinander, dass ich beinahe die ganze Geschichte zitieren müsste. Das zu Beginn geweckte Interesse am Thema steigert sich zu Spannung und hält an bis zum Schluss.
Das ist wirklich gelungen. Ich finde das bewundernswert, dass Du nicht locker gelassen hast.

Bravo!
José

Eine Winzigkeit:

Mein Körper kribbelt, als wäre er von einer Ameisenarmee besetzt, und mir ist so heiß, als hätten die Biester ihr Gift gerade abgesetzt.
‚Gift absetzen’ klingt ungewohnt. Vielleicht: ... als hätte ich ihr Gift schon im Blut o. ä.?

 

Genau in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fällt, legt sich mein nervöses Zittern.

Ich finde diesen ersten Satz aus verschiedenen Gründen nicht so gut. Der Leser wird zwar sofort in eine Szene geschmissen, die dann aber nie entsteht. Es ist nur die Simulation einer solchen: es wird auch nicht im zweiten Satz klar, warum sie nervös ist, und warum genau in dem Moment. Das ist also ein Satz, der den Beginn simuliert, Drive, Schnelligkeit, Verortung, sich dann aber als Mogelpackung herausstellt.

Die Inhaberin der Boutique kommt mir entgegen, als hätte sie schon den ganzen Tag auf mich gewartet. Der zweite Teil dieses Satzes, was meint der genau? Und warum zeigst du das nicht? Ist es dann nur wirklich das warme, umarmende Lächeln? Wie sieht sie aus, was machen ihre Hände, welche Gesten (offen, empfangend), was tut sie, geht sie auf den Prot zu, wie bewegt sie sich? Was sagt sie, was deutet sie an? Das steckt da alles drin, aber das muss ich mir als Leser denken - ich finde, hier schon mehr show.

„Hallo Frau Brandt! Wie geht es Ihnen?“

Wenn die Verkäuferin sie mit Namen kennt, sagt sie das dann so, spricht sie so? Sagt sie nicht viel eher so was: Ach, die Frau Brandt, na, Sie habe ich aber schon lange nicht mehr gesehen?"
Dialoge sind mehr als nur die formulierten Stichworte des Autoren. Hier hast du die Möglichkeit, sofort zu charakterisieren. Sagt sie: Ja, ich war im Urlaub, zwei Wochen Mallorca, Sie wissen doch! Oder: Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen! Small talk der Charakter entwickelt und beiläufig klingt, ist sehr schwer, aber immens wichtig.

Ich will die Teile anfassen, bevor ich sie auf meiner Haut spüre. Wie spürt sie den Stoff, und wie fühlt er sich für sie richtig an? Wenn er kratzt, wenn er weich ist, wenn er flauschig ist?

Mein Körper kribbelt, als wäre er von einer Ameisenarmee besetzt, und mir ist so heiß, als hätten die Biester ihr Gift gerade abgesetzt. Warum kribbelt ihr Körper? Warum wird ihr heiß? Wegen dem Stoff, den Klamotten, wegen was?

Dann breite ich die Arme wie Schwingen aus und drehe mich zu den Walzerklängen, die den Raum unvermittelt fluten. Ich kann fliegen. Ich schwebe, ich lebe und ich bin schön. Hier musste ich an ein Musikvideo von Leonard Cohen denken, aber die Magie entsteht für mich dann erst richtig, wenn noch etwas passiert, wenn ich den Grund kenne, warum sie tanzt. Sie fühlt sich gut wegen der Kleidergröße, aber das würde ich zeigen, du musst es dem Leser nicht verraten, sondern durch Aktion, Muskeln anspannen, Luft anhalten etc.

Und dann: „Trotzdem würde ich gerne die nächste Größe angezogen sehen. Ich hol’ sie mal eben.“ Das muss ein Verkäufer eleganter machen. Ich würde es hier auch nicht erklären, sie reißt die Frau, die Protagonistin einfach aus ihrem Walzertraum, indem sie ihr das gleiche Kleid eine Nummer größer hinlegt.

Ich habe es jetzt zuende gelesen. Meine Meinung: Du willst zu viel. Der Vater, die Erinnerungen, der Weigand, die geklaute Karte - also ich fände es spannender, wenn du diese Story mit ihr und der Verkäuferin weiterspinnst, da steckt am meisten drin, und vor allem kannst du alle anderen damit verbinden, sie sozusagen implizieren. Ansonsten liest sich das für mich sehr umständlich, langwierig und altbacken. Deine Erzählerin hat auch irgendwie nicht den richtigen Ton, für mich müsste der viel paranoider sein, der müsste hart an der Grenze klingen, verrückter, abgedrehter, da löst sich ein Leben ins Nichts auf, und sie wirkt aber nicht so, sie wirkt viel zu normal.

Also den Plot, was du erzählen willst - super! Die Mittel dazu, und wie du das arrangierst, da würde ich mir noch einmal mehr Zeit nehmen, das wirklich auf einen Strang eindampfen, und den richtig erzählen.

Gruss, Jimmy

 

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