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- 15.04.2002
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Durchschnittstyp
Er war ein Versicherungsbeamter, nur einer unter vielen unbedeutenden Angestellten, die in ihren grauen Anzügen mit ihren grauen Krawatten in ihren viel zu kleinen Büros ohne Fenstern saßen und die Akten und Verträge der Kunden der Versicherungsgesellschaft, die auf ihren Schreibtischen landeten (sie kamen natürlich aus der unteren Abteilung), kontrollierten und weiterleiteten (natürlich an die höhere Abteilung). Er war einer von ihnen. Wenn man ihn genauer betrachtete war er ein Vorzeigeexemplar der mittleren Abteilung; er gehörte der Masse an, er verrichtete seinen Job zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, er war unauffällig und hatte keine Ambitionen seine Karriere nach oben fortzusetzen.
Er begann vor fast zwölf Jahren in der Kontrollabteilung und arbeitete heute immer noch dort. Er war nicht dumm, aber sein Gehirn war eben nicht in der Lage mehr zu leisten oder schneller zu denken, als es es jetzt tat. Er war einfach ein Büroangestellter, wie es ihn millionenfach auf dem ganzen Planeten gab: Er war der Durchschnittstyp.
Sein Name war Bill.
Bill war 34.
Bill war glücklich verheiratet.
Bill hatte zwei wunderbare Kinder.
Kate war 33.
William und Sarah waren Zwillinge, sieben Jahre alt.
Heute.
Mittagspause.
Schweißgebadet verließ Bill sein kleines Büro. Die Stadt wurde seit Tagen von einer Hitzewelle heimgesucht und die Klimaanlage funktionierte schon die ganze Woche nicht. Die Hitz machte ihn fertig. Er wollte nachhause, weg von diesem Backofen, und heraus aus seinem verschwitzten und an der feuchten Haut klebenden Anzug. Sein morgens frisiertes Haar klebte inzwischen verfilzt an der Stirn und glänzte vor Schweiß. Unter seinen Augen bildeten sich Schweißperlen. Er wischte sie ab. Er ging durch den Gang hinaus ohne jemanden eines Wortes zu würdigen oder ihn nur anzusehen. Bill wollte nicht reden. Er wollte nur weg.
Er trat hinaus ins Freie. Ein neuer Hitzeschwall traf ihn. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ihm kam alles so verschwommen vor.
Bill blickte auf den Horizont, er sah wie die weit entfernten Hochhäuser der Innenstadt im Dunst der heißen und feuchten Luft träge flimmerten. Er wandte sich ab und ging über den Parkplatz zu seinem Wagen. Er stieg ein. Im Wagen war es noch heißer, der Schweiß rann Bill in dünnen Rinnsalen sein Gesicht hinab, die feuchten Flecken unter seinen Achseln wurden zu nassen. Bill atmete durch. Er war draußen. Er stützte seinen Kopf auf das heiße Lenkrad und starrte in den Himmel. Seine Augen wurden zu Schlitzen, das helle Licht der Sonne blendete ihn. Er schloß die Augen. Er sah sein eigenes Blut rot schimmernd durch die Adern seiner Augenlider fließen. Das Sonnenlicht bildete einen grellen gelb-orangen Fleck auf seinen Lidern. Er drehte den Schlüssel im Zündschloß. Als der Wagen lief öffnete er seine Augen wieder und hob den Kopf vom Lenkrad. Bill fuhr langsam über den Parkplatz auf die Straße hinaus. Er kurbelte das Fenster hinunter, heiße, schwüle Luft kam durch die Öffnung herein. Er bemerkte es kaum, so weit weg erschien alles. Bill lenkte den Wagen abwesend durch den Mittagsverkehr. Er fühlte sich so leer. Als ob sein Gehirn keinen Gedanken zu Ende führen konnte ohne den roten Faden zu verlieren. Eine Ampel sprang auf rot, Bill bremste den Wagen ab. Rein mechanisch, nur durch Instinkt. Er stoppte und starrte die Ampel an. Das rote Licht, sein Blut. Es verschwand und wurde schwarz. Das gelbe Licht, die Sonne. Es wurde schwarz, wie das rote zuvor. Das grüne Licht, unbekannt. Starren. Die Sonne war verschwunden. Bill war so leer. Geräusche von hinten. Hupen. Bill erkannte die Geräusche und plötzlich auch das grüne Licht. Träge trat er auf das Gaspedal und überquerte die Kreuzung. Er würde bald zuhause sein, aber in seinem Kopf war alles so weit auseinander, er wußte nicht wo er war, wo er hinging. Er war wie ferngesteuert, aber er führte sich selbst ohne es zu wissen. Träumte er? Nein, er konnte sich an das Vergangene erinnern. Die Gegenwart war so verschwommen und unscharf. Das Denken fiel ihm schwerer, er schien es verlernt zu haben. Bill begann zu vergessen wie man denkt. Er war so leer.
Er stoppte den Wagen auf der Garageneinfahrt. Er stieg aus. Auf seinem Rücken hatte sich ein großer feuchter Fleck gebildet, der seinen grauen Anzug an dieser Stelle schwarz erscheinen ließ. Er ging quer über den Vorgarten zur Eingangstür. Die Sonne brannte ihm auf den Kopf. Er wischte sich Schweiß von der Stirn. Er sperrte die Türe auf und betrat sein Haus.
Bill war zuhause. Stimmen. So weit entfernt. Er ging in die Küche. Seine Frau sagte etwas zu ihm, er verstand es nicht. Er antwortete ihr, hörte nicht, was er sagte. So weit weg. So leer. Lachen aus dem Wohnzimmer, seine beiden Kinder. Schweiß klebte an seinen Schläfen. Er sah aus dem Küchenfenster. Die Scheiben waren feucht, alles schien zu schwitzen. Er schloß die Augen. Das flimmernde Rot seines Blutes war wieder da. Pulsierend. Er drehte sich um, weg vom Fenster. In den Schatten des Zimmers. Seine Lider wurden schwarz. „Die Sonne ist verschwunden.“ hörte er sich sagen. Er öffnete die Augen. Er sah einen Gegenstand auf der Küchenplatte. Stimmen. Unbekannt. Er nahm das Messer in die Hand. Dann schob Bill das Messer seiner Frau in den Rücken, es ging ganz leicht. Kate schrie nicht. Nur ein schwaches, ersticktes Stöhnen. Ihr Arm griff an die Wunde. Bill zog das Messer heraus. Steckte es wieder in ihren Rücken. Heraus. Hinein. Heraus. Immer wieder. Das Stöhnen wurde schwächer. Kate sank zu Boden. Ihr sterbender Körper wand sich auf den kalten Fließen der Küche. Kate wimmerte leise. Bill kniete nieder. Er sah ihr in die Augen. Ihre glasigen Augen schauten zurück. Angst, Tod. Ihre Lippen zitterten. Bill zerschnitt ihre Wangen. Blut ergoß sich auf den Boden. Kates Unterkiefer klappte herunter. Bill konnte ihre Sehnen und Wangenmuskeln sehen. Aus der klaffenden Öffnung drang ein leises, weinendes Wimmern. Kates Augen füllten sich mit Tränen. Stimmen. Bill blickte auf.
Er sah seine Kinder. Weinend, ihre Blicke fassungslos zwischen ihrer sterbenden Mutter und ihrem mordenden Vater wechselnd. Er kannte sie nicht mehr. Sein Denken war fort. Bill existierte nicht mehr. Er sprang auf. Das Messer fuhr William in den Hals und durchtrennte seine Kehle und die linke Halsschlagader, bevor er sich bewegen konnte. Sein Mund füllte sich mit Blut und erstickte seinen Todesschrei. Sarah schrie. Bill hörte nichts. Es ging alles so langsam. Er war so weit weg. William fiel um. Blut floß aus seinem Mund und spritzte mit einem pulsierenden Strahl aus seinem zerstörten Hals. Sarah rannte ins Wohnzimmer. Kauerte sich in ein Eck; die Knie angezogen, mit den Armen umfaßt. Bill folgte ihr langsam. Stimmen. Panisches Weinen. Bill erkannte es nicht. Die Stimmen waren so weit weg, so unbekannt. Er ging auf Sarah zu. Sie zitterte. Die Augen fest verschlossen. Sie sah den Fußtritt nicht kommen. Bills Absatz traf sie über dem linken Auge. Der Stirnknochen des Kindes splitterte, das Fleisch um ihr linkes Auge wurde fortgerissen. Ein Fetzen aus Haut und Fleisch verdeckte ihr Auge, aus dem ein weißlicher Saft austrat. Blut floß über Sarahs Wange und über ihr blindes Auge. Gehirnflüssigkeit trat durch ihren zerschmetterten Stirnknochen und vermischte sich mit dem Blut zu einer gallertartigen Flüssigkeit. Sarahs siebenjähriger Körper zuckte spastisch. Bill trat noch einmal zu. Sarahs Kopf prallte an die Wand. Ihr Genick und ihr Schädel brachen. Blut floß aus ihrer Nase und aus ihrem gesundem Auge. Ihr Kopf klappte vornüber. Loses Fleisch baumelte von ihrer linken Gesichtshälfte. Blutiger Speichel tropfte aus ihrem totem Mund. Bill wandte sich ab. Keine Stimmen mehr. Er ging in die Küche und legte das Messer ab. Seine Frau lag in der Lacke ihres Blutes. Ihr loser Unterkiefer zitterte. Schluchzende Geräusche drangen aus dem blutigem Loch hervor. Kate weinte während sie starb. Tränen rannen an ihren Augenwinkeln herab. Bill hörte sie nicht, er war zu weit weg. Er stieg über sie hinweg und verließ das Haus.
Draußen.
Er blickte in den Himmel. Er schloß die Augen. Das rote Flimmern kehrte zurück, auch der grelle orange-gelbe Fleck war wieder da. Er öffnete die Augen. Der grelle Fleck blieb einige Momente bestehen. Die Sonne war wieder da. Die Leere füllte sich. Das Denken kehrte zurück, Gedanken wurden klarer. Bill richtete seine verschwitzte Frisur zurecht und wischte sich den Schweiß aus seinem Gesicht. Er würde wieder in die Arbeit fahren, dachte er. Bill blickte auf seine Armbanduhr. Ein kleiner Bluttropfen verdeckte die Zeiger. Bill wischte ihn weg. Noch einundzwanzig Minuten bis zum Ende der Mittagspause. Er würde sich jetzt auf den Weg machen, dachte Bill, er wollte nicht zu spät kommen. Er hatte noch viel Arbeit zu erledigen.
Er ging auf seinen Wagen zu.
Die Sonne brannte ihm auf den Rücken.
Neuer Schweiß bildete sich auf Bills Stirn.
[ 19.04.2002, 22:26: Beitrag editiert von: Peter Koller ]