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- 05.09.2020
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Echo der Einsamkeit
Die Tür der kleinen Wohnung fiel hinter ihm ins Schloss.
»Hanna?«
… anna, anna, anna …
Natürlich war seine Mutter nicht zu Hause, was hatte Daniel erwartet? Wie jeden Tag nach der Schule war da nichts außer dem Echo, welches in seinem Kopf widerhallte. Auf dem Weg ins Wohnzimmer ließ er seinen Rucksack fallen und fiel selbst wie ein Stein in das durchgesessene Sofa. Lange saß er so da und starrte ins Leere, bis seine Hand mechanisch nach der Fernbedienung griff und den roten Knopf drückte.
Am nächsten Morgen blieb Daniel liegen.
»Warum stehst du nicht auf?«, fragte Hanna.
»Fühl mich nicht so gut.«
»Oh, dann bleibst du wohl mal lieber im Bett heute. Ich muss jetzt los.«
Er sah ihr nach, wie sie aus der Türschwelle seines Zimmers in den Flur verschwand und lauschte, wie sie die Wohnungstür öffnete und hinter sich zufallen ließ.
Ein Stein fiel ihm vom Herzen, nicht zur Schule gehen zu müssen. Früher war er gern gegangen. Die Zeit nach Schulschluss hatte er mit seinem besten Freund Bastian verbracht, sie hatten ihre Namen in Bäume geritzt oder beim alten Bahnhof Entdecker gespielt. Heute ging Daniel wegen Bastian nicht mehr zur Schule. Er hatte Angst und schämte sich dafür.
Er ging raus und streunte durch die Straßen, beobachtete wie hypnotisiert Menschen, Familien. Vor einem Straßencafé saß eine Frau mit einem Teenager, ungefähr in seinem Alter. Waren es Mutter und Sohn? Daniel war sich sicher, dass er viel zu langsam an ihnen vorbeiging, es musste lächerlich aussehen – er musste lächerlich aussehen. Er wollte sich zu ihnen an den Tisch setzen, den beiden wie ein unsichtbarer Beobachter zusehen. Der Junge redete, während die Frau halb über den Tisch gelehnt gebannt in die Augen ihres Sohnes schaute und ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörte. Erzählte er ihr von seinem Wochenendtrip mit Freunden? Oder von dem Theaterstück in der Schule, in dem er die Hauptrolle spielte? Natürlich würde sie hingehen und sich ansehen, wie ihr Sohn in seiner Rolle brillierte, dafür würde sie jeden noch so wichtigen Termin absagen. Nach dem tosenden Applaus wäre sie noch stolzer auf ihn, als sie es ohnehin schon war. Dass Daniel den Tisch und damit Mutter und Sohn hinter sich lassen musste, machte ihn traurig. Krampfhaft durchsuchte er sein Gedächtnis. Da musste doch irgendwo eine ähnliche Erinnerung sein von einem sonnigen Tag wie diesem, an dem er mit seiner Mutter etwas unternommen und sie wie die beiden im Café gesessen hatten, um seiner stolzen Mutter von einem seiner tollen Erlebnisse zu erzählen. Alles, was er fand, lag weit in der Vergangenheit. So weit, dass sein Vater noch gelebt hatte und er sich kaum daran erinnern konnte.
Kurze Zeit später fiel die Tür wieder hinter ihm ins Schloss.
»Hanna?«
… anna, anna, anna …
Sie kam erst um kurz vor sieben nach Hause, fing sofort laut zu reden an.
»… hätte ich mir ja schon denken können, dass mir der Chef ausgerechnet heute Überstunden aufs Auge drückt … immer bin ich schuld … kommen jetzt mit Sicherheit die üblichen dummen Sprüche für den Rest der Woche, ich kann’s echt nicht mehr hören …«
Daniel hatte sich ins Bett gelegt, hörte den Selbstgesprächen seiner Mutter nur mit einem Ohr zu. Wie vorbeifahrende Autos wurde ihre Stimme mal lauter, kurz darauf wieder leiser, je nachdem, wo sie gerade in der Wohnung war. Dann kam ihre Stimme näher und sie stand vor seinem Bett.
»Mein Schatz, wie geht’s dir denn eigentlich?«
»Nicht so gut.«
»Dann bleibst du morgen noch zu Hause?«
»Denke schon, ja.«
Sein Herzschlag wurde schneller. Sie war schon dabei, sich wieder umzudrehen und aus der Tür zu gehen.
»Mama?« Er wusste, dass sie es mochte, wenn er sie Mama nannte.
»Ja, Daniel?«
Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb.
»Ach, nichts.«
Sie wendete sich ab, verließ sein Zimmer und er drehte sich enttäuscht um. Niemals könnte er ihr von der Schule erzählen.
Zwei Tage später schöpfte Hanna Verdacht und drohte Daniel, ihn zum Arzt zu schleppen.
»Morgen gehst du wieder zur Schule, ist das klar?«
»Ja.«
Früh am nächsten Tag packte er seinen Rucksack und ging zur üblichen Zeit aus dem Haus. Er lief durch den Vorgarten zur Straße und versteckte sich ein paar Meter weiter hinter der großen Hecke. Da kam auch schon Hanna, stieg in ihr Auto ein und fuhr davon. Daniel sah ihr eine Weile hinterher. Für einen Moment fragte er sich, wie es wäre, wenn sie einen Unfall baute. Sie müsste ein paar Tage im Krankenhaus verbringen, wo er sie gleich morgens besuchen würde, statt zur Schule zu gehen. Wenn sie nach Hause dürfte, bliebe auch er zu Hause und sorgte für sie. Sie könnten zusammen sein, wie die beiden gestern im Café und sie würde alles wissen und er ihr alles erzählen wollen. Aber was, wenn sie bei dem Unfall stürbe? Die Vorstellung machte ihm Angst und er verdrängte sie. Langsam trottete er zurück zum Haus, nahm die Stufen hoch zur Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Stundenlang starrte er auf den Fernseher, danach ging er raus und beobachtete Menschen, malte sich ihre Geschichten aus.
Die nächsten Tage das Gleiche. Am dritten Tag hörte er plötzlich den Schlüssel in der Wohnungstür – es war Hanna.
»Warum bist du nicht in der Schule?«
Daniel schwieg.
»Ich hab grade einen Anruf von der Schulleitung bekommen. Die behauptet, du würdest ständig fehlen! Was zum Teufel ist los mit dir?«
Die Stille in der Wohnung war wie hauchdünnes Glas, welches bei der geringsten Einwirkung zerbrechen würde. Daniel hielt den Atem an, in der Hoffnung, es würde irgendwie heil bleiben. Doch es war hoffnungslos, so wie alles hoffnungslos war, denn die erhobene Stimme seiner Mutter zerschmetterte es gnadenlos.
»Ich erwarte eine Erklärung! Ich arbeite mich kaputt, von morgens bis abends jeden verdammten Tag, schlag mich mit den bescheuertsten Leuten rum, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen und dir eine Zukunft zu ermöglichen! Und was ist der Dank? Schule schwänzen? Ist das dein Ernst? Ich glaub das einfach nicht! Was ist bloß los mit dir?«
Daniel sprang vom Sofa auf, rannte in sein Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Er hörte seine Mutter hinter der Tür, wie sie redete und redete, aber er wollte ihre Selbstgespräche nicht mehr hören und so machte er Musik an und drehte sie laut auf. Er schmiss sich aufs Bett und starrte an die Decke, versuchte krampfhaft, an nichts zu denken.
Als er aufwachte, war es später Nachmittag. Es war das Klopfen an seiner Tür und die sanfte Stimme seiner Mutter, die ihn geweckt hatten. Er stand auf und öffnete die Tür. Dort stand Hanna und nahm ihn in die Arme. Sie aßen zusammen zu Abend – sein Leibgericht, Gemüselasagne. Dies schien der richtige Moment zu sein. Daniels Puls wurde schneller und er war kurz davor, seine Scham zu überwinden, konnte die Worte bereits vor seinen Augen sehen: Ich bin anders, Mama. Ich bin nicht wie andere Jungs, ich stehe auf Typen. Warum Bastian ein Problem damit hat, weiß ich nicht, aber ich will, dass es aufhört.
»Versprichst du mir, dass du morgen wieder zur Schule gehst?«
Überrascht sah er sie an. Die Frage hatte alles durcheinandergebracht.
»Ja«, sagte er nur und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.
Er hielt sein Versprechen und ging. Er hatte Angst und rechnete mit dem Schlimmsten, dass er für die Tage, an denen er sich versteckt hatte, zahlen musste. Viel zu langsam verging Stunde um Stunde. Nichts passierte. Hatten die Lehrer etwas bemerkt? Hatten die Wichser bekommen, was sie verdienten? War er endlich frei?
In der vierten Stunde stand Sportunterricht auf dem Plan. Nach dem Bodenturnen schleppte sich Daniel als Letzter aus der Sporthalle in Richtung der Umkleiden, voller Angst auf die bevorstehende Dusche. »Achtung, Seife festhalten, die Schwuchtel kommt!«, war einer der Lieblingssprüche von Bastian, der noch lauter lachte als seine Gang. Und das waren nur die Sprüche. Beim Gedanken daran schämte er sich.
In der Umkleide ließ er sich Zeit, versuchte sich abzulenken, indem er sich vorstellte, inspiriert durch die Wärme und die hohe Luftfeuchtigkeit, er wäre im tiefen Dschungel irgendwo am Äquator und überall um ihn herum wären die schönsten Pflanzen und Tiere, die ihm nichts Böses wollten, so wie er auch niemandem jemals etwas Böses gewollt hatte und daher war er hier sicher und geborgen vor den seltsamen Menschen. Die Vorstellung beruhigte ihn ein wenig und schon bald kamen die Ersten zurück aus der Gemeinschaftsdusche.
Er atmete tief durch, nahm all seinen Mut zusammen und zog sich aus. Sein Handtuch hängte er an einen Haken am Eingang zum Duschbereich und begann zu duschen. Ständig blickte er zum Eingang, sein Körper unter Strom, sein Herz in den Startlöchern für den Ernstfall. Jeden Moment rechnete er mit der Horde Jungs, wie sie in die Dusche stürmen würde, ihr Geschrei purer Wahnsinn.
Er blieb allein. Alles was er hörte, war das Rauschen der Dusche.
Eine gefühlte Ewigkeit stand er so da, versuchte sich auf das angenehme Gefühl des heißen Wassers auf seiner Haut zu konzentrieren, traute sich nicht aufzuhören. Irgendwann stellte er die Dusche aus und horchte. Er hörte nichts, war eingenommen von einer Stille, wie sie sonst nur in der einsamen Mietswohnung herrschte.
»Hallo?«, fragte er vorsichtig.
… allo, allo, allo …
Alles war ruhig.
Er ging rüber und schaute vorsichtig um die Ecke. Niemand war mehr in der Umkleide. Als er sich zu dem Haken drehte, um sich abzutrocknen, war sein Handtuch nicht mehr da. Panisch sah er zur Bank, auf die er seine Sachen gelegt hatte. Alles weg.
»Nein«, sagte er und schloss die Augen. Langsam öffnete er sie wieder. »So eine verdammte Scheiße! Bitte nicht …«, fluchte und flehte er in die Stille.
Ihm wurde heiß, sein Gesicht schien schon jetzt vor Röte anzuschwellen, obwohl er doch ganz allein war, niemand ihn sehen konnte. Er stand da wie gelähmt, nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwann kehrte die Realität, die für Daniel ungreifbar gewesen war wie der Wasserdampf, der den Raum erfüllte, in seinen Kopf zurück. Dieser schaltete in einen Automatikmodus. In der hinteren Ecke der Umkleidekabine fand er einen alten Putzlappen, mit dem er das Nötigste bedecken konnte. Wie ferngesteuert ging er langsam Richtung Tür. Alles war still, das Gebäude schien menschenleer zu sein. Langsam ging er durch den schmalen Flur, hoch oben kleine Fenster, die wenig Licht hineinließen, unten der hässliche grüne PVC-Boden, über den er schon so oft gegangen war. Jetzt war der Boden nicht nur hässlich, sondern auch noch unbarmherzig kalt unter seinen Füßen. Diese trugen ihn langsam und zögerlich zum Haupteingang, der nach draußen führte. Bei der Tür blieb er eine Weile stehen und horchte. Immer noch nichts. Er drückte eine der Glastüren auf, durch die er nach draußen unter das Vordach der Sporthalle gelangte und auf einmal waren sie da: Bastian und seine Gang. Weitere Schüler des Gymnasiums standen ringsherum, rauchend und quatschend.
Sofort begannen Bastian und die Gang auf ihn zu zeigen und laut zu lachen. Es dauerte keine Sekunde, bis alle um sie herum den Grund des Spotts ausfindig gemacht hatten. Schlagartig waren scheinbar unendlich viele Augen auf ihn gerichtet und die dazugehörigen Münder ahmten Bastian und die Gang nach. Die Wut, die in Daniel brodelte, wurde von einer tiefen Scham und Verzweiflung beinahe komplett unterdrückt. Er wollte wegrennen, niemals umkehren.
Stattdessen stand er hilflos und nackt da, während Bastian und die anderen Daniels Sachen hin und her schmissen, dabei immer lauter lachten und im Chor sangen: »Der Schwuli ist nackt, der Schwuli ist nackt, …«
Daniel versuchte vergeblich, mit einer Hand seine Sachen zu fangen, bis die Jungs einer nach dem anderen aufhörten und sich vermeintlich unauffällig davonschlichen. Daniel merkte nicht, dass gerade ein Lehrer vom Schulgebäude Richtung Sporthalle gelaufen kam. Jetzt hatte er endlich seine Boxershorts, zog sie schnell an, blickte wieder hoch und sah, wie auch Bastian langsam rückwärts in Richtung der großen Treppe ging, die von der Sporthalle runter zur Straße führte.
»Da hast du nochmal Glück gehabt. Bald bist du dran …« Er drehte sich, um die Treppe hinabzusteigen. »Scheiß Muttersöhnchen!«
Plötzlich war Daniels Gesicht kalt wie Stein. Es war, als hätte Bastian ihm einen Dolch in den Bauch gerammt, ihm war schlecht und schwindelig. Dann stieg eine Wut in ihm auf, die seine Beine in Bewegung brachte. Er machte drei große Schritte, bis er direkt hinter Bastian stand und schubste ihn.
Wie im Traum sah er ihn die vielen harten Stufen hinunterstürzen, sein Körper zappelnd wie eine Puppe. Gleichzeitig der Schrei des Lehrers nicht weit von ihm.
Kurze Zeit später saß er im Zimmer des Schulleiters. Neben ihm stand seine Mutter und schrie ihn an. Es war das erste Mal, dass sie ihn in der Schule besuchte und statt ihn in einem tollen Theaterstück zu bestaunen diese surreale Szene. Daniels Herz raste und er kam sich kleiner vor denn je. Schweigend fuhren sie nach Hause, wo sie ihn zurückließ, um wieder arbeiten zu gehen. Die kommende Woche würde er allein in der Wohnung verbringen, so lange war er von der Schule suspendiert.
Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. In seinem Kopf vermischten sich das Geschrei seiner Mutter mit dem Heulen der Sirene. Er hatte sich befreit, hatte sich gewehrt! Und dennoch konnte er das Gefühl nicht loswerden, einen Fehler begangen zu haben. Er spürte ein Kribbeln in seinen Augen und kniff sie so fest zu, wie er nur konnte, bis er einschlief.
Es war ein unruhiger Schlaf und er wälzte sich hin und her, als hätte er Fieber. In seinem Traum stand Bastian vor einer riesigen, steilen Treppe, die sich unendlich lang in ein tiefes schwarzes Loch erstreckte. Daniel stand vor ihm und wurde von den anderen Schülern angefeuert. Er schubste ihn. Aber als er fiel, war es auf einmal nicht mehr Bastian, sondern seine Mutter. Schreiend stürzte sie die tiefe Treppe hinunter, während ihn die anderen weiter anfeuerten und lachten: »Daniel! Daniel! Daniel!« Seine Mutter fiel und fiel, schlug immer wieder auf die harten Stufen auf. Die Stimmen der anfeuernden Schüler verwandelten sich in die sanfte Stimme Hannas und er wachte mit einem Schreck auf.
Er war allein, stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, als hätte er eine Aufgabe, an deren Inhalt er sich nicht erinnern konnte. Es war, als liefe er durch einen dunklen, kalten Tunnel. Dann erinnerte er sich an den vorigen Abend, an seinen Versuch, etwas zu sagen. Doch er hatte es wieder nicht geschafft, hatte nie nach Hilfe gefragt, weder in der Schule, noch zu Hause. Er hatte seiner Mutter nie von seinem Leid in der Schule erzählt. Hatte sie nicht gefragt, was los sei? Was hatte er erwartet, dass sie es errät? War es nun zu spät?
Irgendwann war Hanna wieder da, grüßte ihn zwar, sagte aber sonst nichts. Ihr Schweigen machte ihm Angst.
Am gedeckten Tisch sprach sie das erste Mal.
»Iss was!«
Daniel hatte keinen Hunger.
»Ich dachte ihr wärt beste Freunde!«
Er schaute zu seiner Mutter, sah jedoch nicht sie, sondern sich selbst, nackt vor der Turnhalle, Bastian die Treppe hinunterschubsend.
»… Daniel! Was ist nur los mit dir? Ich verstehe das nicht.«
Einen Moment lang schwiegen beide, bis Hannas Stimme die Stille wieder brach.
»Er hätte sterben können! Wolltest du ihn umbringen oder was? Wie konntest du das nur tun?«
»Aber …«, begann Daniel. Plötzlich war er wütend, wusste jedoch nicht, wem seine Wut galt: Bastian oder seiner Mutter? Ihm fehlten die Worte.
»Ich hoffe es geht ihm gut«, sagte nun Hanna.
»Ich hoffe es geht ihm schlecht!«, platzte es aus Daniel heraus.
»Daniel! Wie kannst du so etwas sagen?«
»Ich hasse ihn! Weißt du was er mir angetan hat? Er hat mich fertiggemacht!«
Daniel war überrascht über seine eigenen Worte. Sie fühlten sich befreiend an.
»Jetzt ist aber mal Schluss! Fertiggemacht! Dir geht’s wohl zu gut!«
»Man, Hanna! Willst du mich verarschen? Zu gut? Mir geht’s beschissen! Er hat mich fertiggemacht, jeden Tag, jeden beschissenen Tag! Du hast ja keine Ahnung! Alles, was dich interessiert ist deine bescheuerte Arbeit!«
»Sag mal, wie redest du mit deiner Mutter? Falls du es noch nicht wusstest: diese bescheuerte Arbeit ermöglicht uns zu leben! Und außerdem, wenn er dich wirklich fertiggemacht hat, warum hast du nichts gesagt? Wenn das wirklich wahr ist, tut es mir leid, aber was du ihm angetan hast, ist schlimmer, Daniel! Er hätte sterben können!«
»Ich BIN gestorben! Jeden verdammten scheiß Tag!«, schrie Daniel, marschierte zur Wohnungstür und knallte sie hinter sich zu.
Wahllos lief er irgendwelche Straßen entlang, kochte innerlich vor Wut. Er wiederholte die Worte seiner Mutter immer wieder verächtlich in seinem Kopf. Wie konntest du das nur tun? Er hätte sterben können!
»Schade«, fluchte Daniel den Bürgersteig an, »schade, dass das scheiß Arschloch nicht gestorben ist! Verdammte Scheiße!«
Er wurde immer schneller, bald joggte und dann rannte er, immer weiter, wo auch immer es weiterging, links, rechts, egal wohin, Hauptsache irgendwo anders hin, weg aus dieser Scheißwohnung, weg aus diesem Scheißleben! Wolltest du ihn umbringen? Vielleicht! Vielleicht war das die einzige Lösung! Die einzige Möglichkeit, Bastian zu entkommen und sein Schweigen zu brechen! Denn er hatte tatsächlich sein Schweigen gebrochen und wären da nicht die Worte seiner Mutter gewesen, hätte es sich fast gut angefühlt. Langsam begann es zu dämmern und Daniel realisierte, dass er bereits in einem Vorort war, wo genau, wusste er nicht. Zu seiner Linken befand sich neben der Straße ein Waldstück, zu seiner Rechten eine große Wiese mit hohem Gras. Er wusste nicht, wie lange er gerannt war, merkte erst jetzt, wie erschöpft er war, sein Shirt nassgeschwitzt und seine Hose ebenfalls. Die Abendluft war angenehm kalt auf seiner Haut. Er wurde langsamer und hielt schließlich an, blieb kurz stehen und lief auf die Wiese. In der Mitte legte er sich auf den Rücken und schaute in den Himmel. In seinem Kopf ging es von vorne los.
Warum hast du nichts gesagt? Sie hätte ihm ja sowieso nicht zugehört, hätte einfach weiter von ihrer Arbeit erzählt! Schade, dass sie keinen Unfall hatte, dann hätte sie sich direkt mit Bastian ins Krankenhaus verziehen können. Er hätte ihr von seinen tollen Leistungen in der Schule erzählen können, stundenlang. »Es hat großen Spaß gemacht, aus Ihrem Sohn einen Volldeppen zu machen! Das hätten Sie sehen sollen, wie der nackt vor uns getanzt hat, wir hatten eine tolle Zeit zusammen!« Sie würden gemeinsam lachen. Über ihn. Wahrscheinlich wäre sie noch stolz auf Bastian, so stolz, wie sie auf Daniel nie sein würde. Aber was du ihm angetan hast, ist schlimmer. Was für ein Bullshit! Seine Mutter hatte ja keine Ahnung, sie verstand nichts! Dieser lächerliche Kinderkram bei der Arbeit, von dem sie ihm ständig die Ohren vollheulte, was war das schon? Ein Scheiß!
Ein vorbeifahrendes Auto riss Daniel aus seinen Gedanken. Er merkte, wie er zitterte, wendete seinen Blick von dem mittlerweile dunkelblauen Himmel ab und stand auf. Er umarmte sich selbst und folgte dem Gehweg, bis er an eine Bushaltestelle kam. Es fuhr kein Bus mehr, also lief er weiter. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, von seiner schreienden Mutter, von Bastian. Daniel war verwirrt, wusste nicht mehr, was falsch und was richtig war.
Es war fast elf Uhr, als er klingelte. Langsam öffnete sich die Tür. Das Licht war zu schwach, um etwas zu erkennen. Plötzlich flutete ein grelles Weiß den Eingang und Daniel erstarrte vor Entsetzen. Das bleiche Gesicht, das ihn anstarrte, gehörte nicht seiner Mutter, sondern der von Bastian. Geschockt und mit offenem Mund trat er zurück, drehte sich um und rannte weg, weg von dem Haus, in dem er Bastian früher so oft besucht hatte, in einem anderen Leben, in dem sie noch Freunde gewesen waren.
Abwesend setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er endlich vor seinem Haus stand. Diesmal öffnete Hanna die Tür.
»Daniel! Ich hab mir Sorgen gemacht!« Sie nahm ihn in die Arme und er ließ es zu. »Gott, du bist ja ganz kalt, komm rein!«
Sie brachte ihn zum Sofa, deckte ihn mit einer dicken Decke zu und kochte ihm einen Tee. Danach setzte sie sich zu ihm und nahm ihn wieder in den Arm. Wieder ließ er es geschehen, verspürte das erste Mal seit langem so etwas wie Geborgenheit. Er wollte, dass sie ihn nie wieder losließ. Dann schämte er sich, für das, was er gedacht hatte.
»Tut mir leid, Mama.«
»Nein, das muss es nicht. Mir tut es leid.«
»Was?«
»Dass … Ich wusste nicht … Ich wusste das nicht …«
Schweigend saßen sie eine Weile so da, bis Hanna wieder zu sprechen begann.
»Aber du musst ins Krankenhaus gehen, zu Bastian. Du musst dich entschuldigen!«
Daniel schaute sie fassungslos an, sein Impuls wieder aufzustehen und wegzurennen genauso stark wie der, zu bleiben und ihr ins Gesicht zu schreien. Er tat nichts von beidem, rührte sich keinen Millimeter, denn er wollte die Umarmung für nichts in der Welt beenden. Aber …, dachte er nur und hätte den Satz in tausend verschiedenen, alle gleichermaßen richtigen Versionen beenden können: Seit wann bist du diejenige, die mir tolle Ratschläge gibt? Seit wann muss sich das Opfer beim Täter entschuldigen? Ich hasse Bastian und will ihn nie wiedersehen!
Er sagte nichts und erinnerte sich in dem Moment daran, dass er sie nie um Hilfe gebeten hatte und fühlte sich schlecht. War er selbst schuld?
»Mam…«
Gleichzeitig sprach sie: »Versprichst du mir, dass du das machst?«
Ihm wurde schlecht. Ruckartig befreite er sich aus der Umarmung.
»Ey Hanna, du checkst überhaupt GAR nichts oder? Hast du mir überhaupt mal eine Sekunde lang zugehört? Jemals? ICH soll MICH bei IHM entschuldigen? Willst du mich verarschen?«, kam es aus ihm herausgeschossen.
»Sag mal Daniel, wie redest du mit deiner Mutter?«
»Wie redest du mit deinem Sohn?«
Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte auf den Boden, als wäre der an allem schuld. Daniel war kurz davor aufzustehen und wegzulaufen, da spürte er ihren Arm auf seinem Rücken.
»Daniel.«
Er blickte weiter auf den Boden, fühlte jedoch, wie ihre Hand auf seinem Rücken und ihre sanfte Stimme ihn beruhigten.
»Es ist sehr spät. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich nehme mir morgen frei. Wir gehen zusammen frühstücken und du erzählst mir alles. Alles, was passiert ist, von Anfang an.«
Jetzt sah er sie an, suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis, der ihre Worte bestätigte. Sie lächelte. Er merkte plötzlich, wie warm ihm war, obwohl er noch keinen Tee getrunken hatte und die Decke von seinem Rücken gerutscht war. Sie lächelte immer noch und auch seine Mundwinkel bewegten sich ein wenig nach oben.
»Okay?«
»Okay.«
Als er im Bett lag, ging ihm alles durch den Kopf: Die Angst vor der Schule, die Szene vor der Turnhalle, der Krankenwagen, der Bastian abgeholt hatte. Die Worte seiner Mutter: Aber was du ihm angetan hast, ist schlimmer. Sein Herz pochte. Auch wenn er sich schlecht fühlte, dafür, dass Bastian wegen ihm im Krankenhaus lag, wusste er tief in sich drin, dass seine Mutter im Unrecht war – was er getan hatte, war nicht schlimmer. Nicht für ihn. Morgen würde er es ihr sagen, morgen würde er ihr alles sagen. Er hatte Angst und spürte doch etwas Positives, denn endlich passierte etwas.
Am Morgen erwachte er zur erhobenen Stimme seiner Mutter, die dumpf in sein Zimmer drang. Danach kam sie herein und lächelte, sagte, sie habe den Tag frei bekommen.
Eine knappe Stunde später bekamen sie ihr Frühstück serviert. Daniel war euphorisch: Sie saßen in dem Café, in dem er die Mutter mit ihrem Sohn beobachtet hatte. Nun war er der Sohn, auch wenn ihm etwas Schweres bevorstand. Doch es gab kein Zurück mehr und das akzeptierte er. Seine traurige Geschichte begann vor so vielen Monaten, dass er nicht mehr wusste, wie viele es waren. Daniel stand mit den Mädchen auf dem Schulhof, als Bastian ihm das erste Mal einen Spruch drückte.
»Aber warum?«, fragte Hanna.
»Ich weiß es nicht.« Er wusste nicht, was Bastians Problem war. Er wusste nur, dass er anders war. »Du, Mama?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich steh auf Jungs.«
Einen Moment lang schwieg sie ihn an.
»Auf Bastian?«
Fast musste er lachen. »Was? Nein, Hanna, nicht auf Bastian.« Langsam, aber sicher schien sie ihn zu verstehen und Daniel fühlte sich, als würden sich sämtliche Muskeln das erste Mal nach einem langen Krampf entspannen.
Er trank einen Schluck Tee und erzählte weiter, wie schlimm es für ihn gewesen war, jeder einzelne Tag in der Schule, bis er es nicht mehr ausgehalten hatte.
»Mein Gott Daniel, warum hast du nie …« Sie brach ihre Frage ab, schien sie sich selbst zu beantworten.
»Du? Was ich getan habe ist nicht schlimmer, oder?«
Sie seufzte und runzelte die Stirn, während er den Atem anhaltend auf ihre Antwort wartete.
»Nein, Daniel. Ich hatte ja keine Ahnung.«
Erleichtert atmete Daniel aus. Er konnte es kaum glauben, konnte es wirklich so einfach sein? Den Rest des Tages bummelten sie durch die Stadt, spazierten durch Parks und aßen Pommes – er mit Mayo und sie mit Ketchup. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, es fühlte sich großartig an.
»Wir haben uns hier eingefunden, um die Situation zwischen dir, Bastian, und dir, Daniel, zu klären und den Streit beizulegen«, sagte der Schulleiter. »Offenbar gibt es eine Dringlichkeit, die es uns nicht erlaubt, zu warten, bis Bastian zurück in der Schule ist. Schön übrigens, dass es dir schon besser geht, Bastian.«
Sein Blick schweifte von Bastian zu dessen Mutter, die neben ihm am Krankenhausbett stand und in deren Gesichtsausdruck die Missbilligung dieses Treffens deutlich abzulesen war. Am Fußende des Bettes standen Daniel und seine Mutter, die darauf bestanden hatte, dass dieses Krisengespräch, wie sie es nannte, stattfinde. Am Tag nach ihrer Aussprache im Café hatte Hanna mit dem Schulleiter gesprochen und sich nach Bastians Zustand erkundigt, woraufhin ein Termin für einige Tage später verabredet wurde.
Der Schulleiter, der vorher mit beiden Seiten gesprochen hatte, legte kurz und knapp die Situation dar, da fiel ihm Bastians Mutter ins Wort.
»Wirklich unerhört, dass wir das hier mitmachen müssen! Mit dem Jungen stimmt doch was nicht, schmeißt meinen Sohn die Treppe runter, bringt ihn fast um, und dann spukt er nachts vor unserer Haustür herum!«
Sowohl der Schulleiter als auch Hanna sahen stirnrunzelnd zu Daniel, der ganz ruhig dastand, da meldete sich Hanna schnell zu Wort.
»Es war sicherlich nicht richtig, Bastian von der Treppe zu schubsen – aber es war so was von falsch, was Bastian mit Daniel gemacht hat!«
»Soll das ein Scherz sein? Mein Sohn hat Ihren Sohn ein bisschen gemobbt, das ist doch fast normal heutzutage! Vor allem, wenn einer solche kranken Neigungen hat. Und außerdem hätte sich Daniel ja mal wehren können, er ist doch ein Mann!«
»Achja? Nicht jeder Mann ist so ein Grobian wie Ihr Sohn!«, konterte Hanna, und Daniel hatte ein bisschen Angst vor ihr, vor dem, was sie sagen könnte, fühlte sich jedoch gleichzeitig ungewöhnlich stark und beschützt. »Wissen Sie eigentlich, was Ihr Sohn mit Daniel angestellt hat? Er hat es Ihnen sicherlich nicht bis ins Detail erklärt, denn das hätte ich mich auch nicht getraut an seiner Stelle! Mein Sohn hat seit Monaten Angst, morgens in die Schule zu gehen! Verstehen Sie das? Angst! Das ist krank! Er hatte so viel Angst und Scham, dass er sich nicht einmal getraut hat, es seiner eigenen Mutter zu erzählen! Denken Sie mal darüber nach!«
Hannas Worte waren wie Schwerthiebe, die sie in Richtung von Bastians Mutter sendete. Es schien, als wäre diese sprachlos.
Dann begann sie wieder zu reden, konnte jedoch ihre defensive Art nicht verbergen: »Achja? Gucken Sie sich mal meinen Sohn an und denken Sie darüber nach!« Sie nahm die Hand ihres Sohnes in ihre. Bastian lag weiterhin mit gesenktem Blick da, verzog keine Miene und sagte nichts.
»Okay«, meldete sich der Schulleiter schlichtend zu Wort. »Wir wollen das Ganze hier nicht unnötig in die Länge ziehen, denn Bastian braucht sicherlich noch viel Ruhe zur vollständigen Genesung. Es sieht also so aus, als hättet ihr euch beide nicht richtig verhalten. Ich bin kein Richter und kann und will deshalb auch kein Urteil sprechen. Damit jedoch keiner Angst davor hat, zur Schule zu gehen«, eindringlich sah er erst Bastian an, dann Daniel, »und damit meine ich euch beide, können wir das Ganze nur unter einer Bedingung ad acta legen: Ich erwarte, dass ihr euch beide beim anderen entschuldigt und dass in meiner Schule in Zukunft Ruhe und Frieden herrscht! Höre ich noch ein Mal, dass ihr euch irgendwie anfeindet, werde ich andere Konsequenzen ziehen müssen. Ist das klar?«
Beide Jungs nickten. Nach kurzem Zögern murmelten beide ihre Entschuldigung und der Schulleiter erklärte das Krisengespräch für beendet.
Auf dem Nachhauseweg, in Hannas Auto, legte sie eine Hand auf Daniels Oberschenkel.
»Danke«, sagte er, immer noch überwältigt von dem, was im Krankenhauszimmer passiert war.
»Ich bin froh, dass du mir alles erzählt hast, Daniel.«
Am Tag darauf betrat er morgens das Klassenzimmer. Sein Blick fiel sofort auf den leeren Stuhl. Dann fiel ihm auf, wie er von den anderen angeguckt wurde, sie ihre Augen aber sofort abwendeten, sobald er den Blick erwiderte. Es hatte etwas Ehrfurchtsvolles und es gab Daniel ein seltsames Gefühl. In der ersten Pause kamen zwei der Mädchen und fragten ihn, was passiert sei. Sie meinten, Bastian wäre selbst schuld, was ihm half, sich in der Schule wohler zu fühlen.
Eine Woche später war der Stuhl nicht mehr leer. Bastian war zurück und Daniel spürte, wie das Blut durch seine Adern schoss, als er zu seinem Platz lief. Doch nicht nur Daniel mied Bastian, sondern auch Bastian war stiller als sonst und ging Daniel aus dem Weg.
Als Daniel an diesem Tag nach Hause kam, ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
»Hanna?«
… anna, anna, anna …
Natürlich war sie noch bei der Arbeit. Aber sie hatte versprochen, heute pünktlich Feierabend zu machen.